Ein Buch für mutige LeserChristian Lehnerts "Das Haus und das Lamm" als Fastenlektüre

Niemand schreibt wie Christian Lehnert. In seinem jüngsten Buch geht es um ein Haus, ein altes Haus im Erzgebirge, und um eine Enthüllung, eine Offenbarung, eine Bloßlegung, eine Apokalypse – verfasst vom biblischen Autor Johannes auf Patmos. Poesie und Theologie verschmelzen bei Lehnert. Und ganz nebenbei und am Rande gibt er dem Fasten einen tieferen Sinn.

Blaumeise
© Pixabay

Zuerst kommt Hermann, eines von drei Meisen-Männchen. So unsere Schätzung. Vielleicht sind es auch zwei oder vier. Die Männchen machen sich breit in dem Blumentopfuntersetzer – umgewidmet zur Futterschale. Dann folgt Punkie, ein Weibchen mit struppiger Frisur. Weibliche Meisen sind kleiner, noch eleganter – und sie stimmen sich besser ab, wie sie ans Ziel kommen: ans Futter.

Die Meisen tanzen, wenn wir unseren ersten Kaffee trinken – immer mit Blick auf dieses große Balkonfenster. Mit einem Korn im Schnabel lassen sie sich fallen in den Apfelbaum drei Etagen tiefer. Oder sie fliegen in die Fichte schräg links. Und dann kommen sie wieder – mal einzeln, dann zu zweit oder in Gruppen zu viert oder fünft. Sie halten sich fest an dünnen Zweigen – mit ihren zerbrechlichen Beinchen. Sie necken sich, zanken nur selten. Alle kommen dran. Es ist ein Kommen und Fliegen, ein Kreisen, das den Tag mit einem Staunen beginnen lässt.

Auch Christian Lehnert, der große Dichter und evangelische Theologe, schreibt viel über Phänomene der Natur – allerdings weniger antropomorph. Und er schreibt über Tiere und Pflanzen, die ich googeln muss. Etwa den Totenkopf- oder den Pappelschwärmer. Es sind Insekten. Lehnert geht dabei ins Detail. Er will es wissen. Er recherchiert. Um uns dann mit seinen "fliegenden Blättern" zu beschenken.

Lehnert will meditativ gelesen werden. Denn seine Gedanken kreisen wie die Meisen. Und es gilt, sich diesen kreisenden Suchbewegungen anzuschließen. Oder das Buch erst gar nicht zu lesen.

In den Tagen der Winterfütterung habe ich den Wecker früher gestellt, um noch vor dem Aufstehen Christian Lehnert zu lesen: "Das Haus und das Lamm. Fliegende Blätter zur Apokalypse des Johannes". Es war auch für mich eine Winterfütterung. Manchmal genügten mir ein paar Körner – wie der genügsamen Pinkie. Manchmal brauchte es ein wenig mehr – wie beim kräftigen Hermann. Mehr als zehn Seiten jedoch – das wäre Perlen vor die Meisen. Lehnert will meditativ gelesen werden. Denn seine Gedanken kreisen wie die Meisen. Und es gilt, sich diesen kreisenden Suchbewegungen anzuschließen. Oder das Buch erst gar nicht zu lesen.

Der Ich-Erzähler, in dem viel von dem eingeflossen ist, was Christian Lehnert erlebt hat, der aber nicht mit ihm identisch ist, wie er in unserem jüngsten Deutschlandfunk-Gespräch sagt, zieht sich zurück in ein verfallendes, altes Haus im Osterzgebirge. Wie ein Eremit lebt er dort, ohne das so zu benennen. Er repariert das Haus, er studiert die Phänomene der Natur und liest das letzte Buch der christlichen Bibel: das Buch der Offenbarung, die Apokalypse. 

Auf meine Frage, ob man das, was er da tut, als "lectio divina" bezeichnen würde, sagt Lehnert im Gespräch: "Ja, das trifft es. Ich versuche in diesen Text einzusteigen unter einer Voraussetzung: dass dieser Text etwas für mich bedeutet, dass er mir etwas aufschließt – das ist gewissermaßen des Vor-Verständnis. Das ist aber auch alles."

Apokalypse in kreisenden Bildern

Und es schließen sich die Kreise: So wie die Meisen und meine Gedanken kreisen bei der Lektüre der "fliegenden Blätter", so kreisen die Gedanken des Autors der Apokalypse, was Lehnert auch als "Enthüllung" deutet. Johannes will offenlegen, was er erfahren hat – und kann dies nur in kreisenden Bildern. Die sind so verwirrend, dass sich jüngere Leser und auch ältere mit Drogenerfahrung fragen dürften: Was hat der denn genommen? Lehnert lacht und sagt: "Genau, er ist wirklich in einem ekstatischen Zustand, gewissermaßen außer sich. Er ist hingerissen von einer Erfahrung. Er, der perfekte Stilist, ringt mit der Sprache. Seine Wissensbestände fliegen ihm um die Ohren. Er kommt in verschiedene Stimmlagen, er wiederholt dauernd Bilder, umkreist etwas, was sich ihm entzieht, was ihn aber grundstürzend verändert hat."

Hans-Rüdiger Schwab hat über den Dichter Lehnert, geboren 1969 in Dresden, im Januar-Heft von COMMUNIO geschrieben: "Innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gibt es womöglich nicht allzu viele Autoren, deren Publikationen von vornherein verlässlich ein Qualitätsversprechen innewohnt, dass keine Minute vertan sein werde, die man sich mit ihnen beschäftigt." Was Lehnert so einzigartig macht: Er verheimlicht nicht, dass er evangelischer Theologe ist. Aber der Gegenstand der Theologie, so Schwabs Analyse, hat für Lehnerts Ich-Erzähler etwas mit ihm zu tun: "Tatsächlich rückt er seinen Gegenstand nicht semantisch wohlgeordnet in die Distanz, sondern schreibt als Erfahrender und Betroffener, 'gepackt oder verfolgt vom theos', in 'stammelnder' Selbstmitteilung. Dem Leser übermittelt sich dies als auf weite Strecken aufwühlende Lektüre."

Damit ist vieles gesagt. Was ich hinzufügen möchte: etwas über die Wirkung der Lehnert-Lektüre. Sie berührt mich im Kleinen, auch wenn ich wohl ein ganzes langes Leben bräuchte, um Lehnert in Gänze und im großen Ganzen zu verstehen. "Das Haus und das Lamm" ist mind-blowing, wie Amerikaner sagen würden – so mind-blowing wie die Apokalypse des Johannes.

Ein kleines Beispiel. Es sind nur zwei Seiten, an denen ich mich in der Fastenzeit 2024 orientiere. Sie prägen und begleiten mich. Denn Lehnert gibt dem Fasten einen tiefen Sinn, der über bessere Blutwerte, über einen günstigeren Body-Mass-Index hinausgeht. Lehnert braucht Menschen, die mutig lesen, die offen sind für Abenteuer geistig-geistlicher-poetischer Natur. Schwer verständlich ist das nicht, aber auch keine leichte Kost, um im Fastenbild zu bleiben: "Der Hunger, wenn ich fastete, brachte nach Tagen Körperschwäche und Wachheit, Entkräftung und innerer Stärke, Entbehrung und Schwindel und Gier und Bedürfnislosigkeit eine andere seelische Natur ans Licht. Eine Ahnung, nicht mehr: Im Menschen muss etwas Unberührbares sein, ein Gebiet, das von keinen äußeren Angriffen und keinen Aktivitäten erreicht wird. Auch der eigene Wille und körperliches Verlangen dringen nicht hinein. Ich vermute, dass es sich selbst im Sterben als unangreifbar erweisen wird. Diese innerste Kammer ist etwas Ureigenes und hat zugleich etwas merkwürdig Unpersönliches – vergleichbar dem Sonnenlicht, das wärmt und stärkt, aber in einer fast gleichgültig erscheinenden Gegenwart. Hier wohnt etwas Bedeutenderes als die eigene Person."

Lehnert, dieser Mystiker des 21. Jahrhunderts, kann aber auch drastisch – etwa wenn sein Ich-Erzähler weiter übers Fasten schreibt: Der fastende Körper "giert zunächst noch nach Brot, nach einem Apfel, erzeugt Vorstellungsbilder von Kartoffeln und dampfendem Blumenkohl und starrt darauf wie ein Hund auf den Fressnapf."

Ich schreibe dies ab, um in der 40-tägigen Fastenzeit die Kraft zu entfalten, wenig oder keinen Industriezucker sowie keinen Alkohol zu konsumieren. Um dann in ein strengeres Fasten überzugehen – wie Lehnerts Ich-Erzähler. Dass es anstrengend werden könnte, daraus macht er keinen Hehl. Lehnert ist niemals billige Wellness-Spiritualitäts-Lektüre, auch wenn sie guttut. Denn er eröffnet neue Perspektiven – auch fürs Fasten: Der hungernde Körper "ist nicht bei sich, er fällt nach vorn, erwartet Erfüllung von außen. Dann aber reißt plötzlich der Zusammenhang, und für Sekundenbruchteile ist alles, wie es ist und sein soll. Kein Verlangen ist mehr da, nur Ruhe, für einen Moment ist es hell, der Körper hat seine Zukunfts-, seine Zeitbindung verlassen, und jetzt ist es Zeit zum Gebet."

Es war unser viertes Gespräch im Deutschlandfunk. Am 20.01.2020 sprachen wir über den Gedichtband "Cherubinischer Staub" sowie über "Der Gott in einer Nuß – Fliegende Blätter von Kult und Gebet". Am 20.12.2021 dann über: "Ins Innere hinaus. Von den Engeln und Mächten". Am 22.11.2022 über den Gedichtband "Opus 8": Und nun am 14.02.2024 über "Das Haus und das Lamm".

Libelle

Ein Insekt landet auf einem Buch von Christian Lehnert. Foto: Andreas Main

Bei der Vorbereitung eines dieser Gespräche lag ich auf einer Wiese in der Oberen Havel-Niederung. Das nächste Dorf heißt Neuholland. Der nächste größere Ort ist Liebenwalde. Die nächste Stadt: Oranienburg. Ein sommerlicher Tag an einem 9. Oktober im Jahr 2021. Über die Mittagszeit hinweg hatte ich den Ruf der Kraniche gehört und ihre Formationsflüge über mir beobachtet. Dort 80 Meter östlich des Flusses stiegen sie auf und ab. Als würden sie sich warm fliegen für die weite Reise gen Süden. Später lag ich mehrere Stunden da und las. Es war immer noch warm. Und da kam schon wieder was vorbeigeflogen und landete auf Lehnerts Engel-Buch, das mehr ist als ein Engel-Buch. Christian Lehnert wüsste zu sagen, wie diese Kreatur von Biologen eingeordnet wird. Und das ist gut so. Aber auch er würde in diesem Insekt wohl mehr sehen als diese ein bis zwei oder vier Gramm, die es womöglich wiegt.  Es kreiste um Lehnerts Buch, hob ab, kam zurück, landete erneut auf diesem Buch, als wollte es "Ins Innere hinaus".

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