In Rom wird einem die Bedeutung von Geschichte und Tradition bewusst. Gleichzeitig löst der Anblick der Ruinen eine gewisse Gelassenheit aus, was die Gegenwart betrifft.

Als ich nach Rom zog, wurde mir gleich zu Beginn eine Warnung mit auf den Weg gegeben. Man sagte: Wenn du zwölf Jahre lang in Rom lebst, bist Du wie ein Monument: Jeder kennt dich, du kennst jeden, man kommt nicht an dir vorbei. Wenn du aber 24 Jahre lang in Rom lebst, dann bist du wie eine Ruine …

Diese Ermahnung war sicherlich spezifisch auf Kleriker gemünzt, interessant ist aber das Bildfeld, das sie benutzt: Rom ist die Stadt der Monumente und der Ruinen. Sie finden sich überall. Großartige Kirchen und Paläste neben Kleinodien, aber eben auch immer und immer wieder uralte Überbleibsel von Tempeln und anderen Gebäuden.

Es gibt vielleicht keine Stadt auf der Welt, die ihre Ruinen so emsig erhält wie Rom. Ich denke zum Beispiel an die Ruine der antiken Brücke Pons Aemilius neben der Tiberinsel, die auf Italienisch auch Ponte Rotto genannt wird. Auch eine Straße ist nach ihr benannt: Via di Ponte Rotto – "Straße der kaputten Brücke". So eine Namensgebung wäre in anderen Städten wohl eher ungewöhnlich.

Dass die römisch-katholische Kirche gerade hier ihr Zentrum hat, ist wohl eine Fügung und kein Zufall. Es könnte keinen besseren Ort für eine Inkarnationsreligion geben.

Natürlich erhalten die Römer ihre Ruinen auch aus wirtschaftlichen Gründen, denn der Tourismus ist heute eine wichtige Einnahmequelle. Rom ist wie ein großes Freilicht-Museum, und das bringt Touristen und Pilger in die Stadt. Aber auch als der Tourismus noch nicht so überbordend war, wie heute, haben die Römer auf ihr Forum Romanum, auf ihr Kolosseum und auf den Circus Maximus aufgepasst. Es spricht aus alldem ein Stolz auf die Vergangenheit. Und selbst wenn die verschiedenen glorreichen Epochen längst vorbei sind, bezieht die Stadt doch aus ihnen ihre Identität.

Dass die römisch-katholische Kirche gerade hier ihr Zentrum hat, ist wohl eine Fügung und kein Zufall. Es könnte keinen besseren Ort für eine Inkarnationsreligion geben. Gott inkarniert sich, wird konkret, anfassbar, wird Teil der Geschichte der Menschen. Somit wird Geschichte generell wichtig, und vor allem auch Tradition. Vergangenes ist bedeutsam. Aber weil stets Bedeutsames auf Bedeutsames folgt, entsteht auch eine gewisse Gelassenheit im Angesicht der Vergänglichkeit. Stellen Sie sich vor, Sie gehen jeden Tag an 2.500 Jahre alten Mauern vorbei: Das lässt doch die Gegenwart eher relativ erscheinen. Das Erhalten der Ruinen ist wie ein ständiges sit transit gloria mundi und zugleich ein memento mori. Und dieses Bewusstsein für unsere Kontingenz wiederum öffnet für die Erfahrung der Transzendenz.

Und bei alledem ist die Stadt massiv inklusiv: Eine Epoche umschließt gleichsam die andere. Alte Tempelsäulen sind in Kirchen verbaut, Wohnungen finden sich in antiken Gebäuden, und die neue U-Bahnstation an der Piazza Venezia wird in die Überreste des Athenaeums von Kaiser Hadrian integriert. Das Vergangene darf bleiben, wird gewürdigt und erhalten, und doch auch weiterentwickelt. Denn die Stadt ist eben kein Museum, sondern sie lebt. Dasselbe wünsche ich mir auch für die Kirche! Übrigens ist die Eröffnung der besagten U-Bahn-Station für das Jahr 2032 geplant. Kein Wunder, dass der Umbau der römisch-katholischen Kirche auch immer so lange dauert.

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