I.
Liebe Kardinäle, vielleicht liest ja jemand von Ihnen hier mit. Sie stehen vor der schweren Entscheidung, in wessen Hände Sie die Verwaltung der katholischen Kirche mit ihren 1,4 Milliarden Gläubigen, 800.000 Ordensleuten und 400.000 Priestern legen wollen. Alle gehen davon aus, dass einer von Ihnen der nächste Papst werden wird, dass Sie also einen Kandidaten aus ihrem eigenen Kollegium auswählen werden. Sie wissen aber natürlich, dass das nicht zwingend ist. Es ist zwar schon länger her, dass jemand gewählt wurde, der kein Kardinal war (nämlich Urban VI. im Jahr 1378) – aber es ist möglich.
II.
Papst Franziskus hat immer wieder dazu aufgerufen, demütig zu sein. "Während Stolz und Hochmut das menschliche Herz aufblähen und uns größer erscheinen lassen, als wir sind, rückt die Demut alles wieder ins rechte Licht", sagte er etwa am 22. Mai 2024. Liebe Kardinäle, das größte Zeichen der Demut, das Sie setzen könnten, wäre, nicht einen der Ihren zu wählen.
III.
Seit langer Zeit wurden die Erzbischöfe von Mailand stets zum Kardinal ernannt. Papst Franziskus hat – vermutlich der Demut wegen – den aktuellen Erzbischof der größten Diözese Europas nicht in das Kardinalskollegium aufgenommen, sondern statt dessen den Bischof des Mailänder Suffraganbistums Como. Der Erzbischof von Mailand heißt Mario Delpini. Er hat die nötige Führungserfahrung im großen Maßstab. Denn Sie müssen zugeben: Die fehlt Ihnen etwas, wenn Sie Kardinal in Tonga oder Ulan-Bator sind. Aber das ist nicht der entscheidende Punkt.
IV.
Der Papst ist heute zwangsläufig eine globale Medienpersönlichkeit. Wenn es ihm gelingt, die richtigen Worte zu finden, dann hört die Welt zu. Der Papst muss nicht nur Gesetze erlassen und Entscheidungen treffen, sondern er muss das Evangelium verkünden. Niemand ist dafür besser geeignet als der Erzbischof von Mailand. Denn Mario Delpini ist ein außergewöhnlich guter Prediger.
V.
Sie fragen mich, wie ich darauf komme? Mir ist Delpini zum ersten Mal aufgefallen, als er die unlösbare Aufgabe hatte, eine Predigt beim Staatsbegräbnis für Silvio Berlusconi zu halten: Ihm gelang eine rhetorisch meisterhafte Ansprache, die nichts beschönigte, die der Größe und dem Abgrund dieses Mannes gerecht wurde und die den Zuhörern zugleich die Realität des Glaubens nicht vorenthielt: dass nämlich jeder Mensch in Gott seine Erfüllung und seinen Richter findet. Hören oder lesen Sie diese Predigt selbst nach. Wenn Sie kein Italienisch verstehen: die KI-Übersetzungen sind ganz passabel.
VI.
Wenn Sie das nicht überzeugt: Es gibt einen zweiten Predigtanlass, an dem man eigentlich nur scheitern kann – und den Mario Delpini gemeistert hat. Ja, liebe Kardinäle, ich bin mir sicher, dass Sie bei diesem Anlass Schiffbruch erlitten hätten. Sie hätten sich in Textbausteine und Phrasen geflüchtet, Sie hätten lauter ungedeckte rhetorische Schecks ausgestellt. Nicht aber Mario Delpini. Der 17-jährige Riccardo hatte eines Nachts seine Mutter, seinen Vater und seinen kleinen Bruder erschossen. Der Erzbischof von Mailand fand beim Requiem für die Drei die richtigen Worte. Können Sie sich das vorstellen? Bei einem solchen Anlass das Evangelium des Lebens zu verkünden – ohne einen schablonenhaften Satz, ohne eine Übergriffigkeit oder Ausflucht, emotional, aber nicht kitschig, poetisch und trotzdem präzise, gedanklich völlig eigenständig und gleichzeitig ohne jede alberne theologische "Kreativität"? Lesen Sie sie nach – und Sie werden einsehen, dass Sie zu so etwas nicht imstande gewesen wären.
VII.
Seien Sie demütig. Wählen Sie keinen der Ihren.
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