Thomas Manns "Joseph und seine Brüder" und die biblische Erzählung von Jakobs Traum in Bethel eröffnen einen tiefen Blick in den Brunnen der Vergangenheit. Zwischen alttestamentlichem Ursprung, NS-Mythenkritik und diakonischer Nachgeschichte zeigt sich: Jakobs Traum von der Himmelsrampe verbindet Juden und Christen – und verpflichtet zum Widerstand gegen Antisemitismus.

I.

"Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?" Mit diesen Worten beginnt Thomas Mann, der vor 150 Jahren in Lübeck geboren wurde und vor 70 Jahren verstarb, seinen vierbändigen Romanzyklus "Joseph und seine Brüder". Der erste Roman, "Die Geschichten Jaakobs" (Mann schreibt den Namen des Erzvaters "Jaakob"), erschien 1933, im Jahr der Machtergreifung Hitlers. Noch im selben Jahr verließ Mann Deutschland. Er lebte zunächst in der Schweiz und dann in den USA, von wo er 1952 in die Schweiz zurückkehrte. Der letzte Teil des Romanzyklus erschien 1943. In der fortlaufenden Arbeit an seinem großen Romanzyklus fand der Schriftsteller nach eigenem Bekunden inneren Halt in den Jahren der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs. Die Arbeit am alttestamentlichen Erzählstoff lässt sich auch als Kontrapunkt zur neuheidnischen, völkischen Mythenbildung des Nationalsozialismus verstehen. Man denke insbesondere an das einflussreiche antisemitische Buch des NS-Ideologen Alfred Rosenberg "Der Mythus des 20. Jahrhunderts", das die rassistische Vorstellung einer "Rassenseele" und einer "Religion des Blutes" zu einem politisch-religiösen Glauben verband.

Tief in den Brunnen der Vergangenheit steigen wir mit der Erzählung von Jakobs Traum auf der Flucht in Bethel, nachdem er seinem Bruder durch eine List das Erstgeburtsrecht abspenstig gemacht hat. Wir finden sie aufgezeichnet in Genesis 28,10–19. Eine Geschichte aus dem alten Orient und aus den Anfängen der Geschichte des alttestamentlichen Volkes Israel. Es sind nicht allein die Anfänge des heutigen Judentums, sondern durch Jesus Christus, den jüdischen Wanderprediger aus Nazareth, sind auch die Menschen, die auf seinen Namen getauft sind, mit Jakobs Geschichte verwoben. Sie ist nun Teil auch ihrer Geschichte, ein Teil, den Rosenberg und die sogenannten Deutschen Christen verleugneten, als sie sich einen arischen Christus zusammenphantasierten. Aber der Brunnen der Vergangenheit reicht noch tiefer als sein Wasserspiegel, den wir in der Endgestalt der biblischen Erzählung vor uns sehen.

II.

Was für eine Geschichte! Jakob, der Betrüger, der vor seinem Bruder Esau flüchten muss und sich auf den Weg zu seinem Onkel Laban im fernen Haran macht, das in Nordmesopotamien im Südosten der heutigen Türkei gelegen ist, empfängt im Traum eine göttliche Verheißung. Wie schon seinem Großvater Abraham und seinem Vater Isaak wird Jakob und seinen Nachkommen das Land Kanaan als gelobtes Land verheißen. Jakobs soll eine unermessliche Zahl an Nachkommen haben, durch die alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden sollen, und Gott selbst wird Jakob behüten, ausgerechnet den, der den Segen seines Vaters durch List erworben hat.

Tatsächlich besteht das Volk Israel, das jüdische Volk, allen Anfeindungen und Verfolgungen, mit der Shoah als grausigem Höhepunkt, bis auf den heutigen Tag. Darin hat sich die Verheißung, die Jakob bekam, erfüllt. Aber auch diejenigen, die, biblisch gesprochen, zu den übrigen Völkern zählen, gehören als getaufte Christen zu den Geschlechtern, die gemäß der Verheißung Gottes in Jakob gesegnet werden sollten. Und damit ist ihre Geschichte zugleich unlösbar mit der Geschichte Israels und der Geschichte des fortbestehenden Judentums verbunden, aller Schuld, die Christen in der Geschichte gegenüber den Juden auf sich geladen haben, und allem christlichen Judenhass zum Trotz. Das darf dankbar, aber nicht ohne aufrichtige Bußfertigkeit bekannt werden. Und das verpflichtet Christenmenschen, jeder Form von Antisemitismus, der nach dem grauenvollen Massaker der Hamas vom 7. Oktober neu entbrannt ist und sich weiter ausbreitet wie ein Geschwür, in Wort und Tat entschieden entgegenzutreten.

III.

Gott erscheint Jakob im Traum. Er sieht ihn an der Spitze einer Rampe, die bis in den Himmel reicht. Jakob steht – oder besser gesagt, er liegt – am Fuß des Himmelstors, wie er später sagen wird. Meist wird von der Jakobsleiter oder auch der Himmelsleiter gesprochen. Sie ist ein bekanntes Motiv in der Kunst- und Literaturgeschichte. Aber in Wirklichkeit handelt es sich gar nicht um eine Leiter, wie sie die Wiener Künstlerin Billi Thanner 2021 am Südturm des Stephansdoms installiert hat. Ihre Neonleiter begann bei der Taufkapelle, stieß durch das Gewölbe und ragte außen bis zur Spitze des Turmes. Nachts leuchtete sie weithin sichtbar golden als Symbol der Hoffnung.

Auch für Jakob ist sein Traumbild ein Symbol der Hoffnung. Das "Nabelband von Himmel und Erde", wie Thomas Mann es nennt, richtet ihn innerlich auf. Es "ward ihm", wie Mann es beschreibt, "wohl mitten in der Nacht […] das Haupt erhoben aus jeder Schmach zum hehrsten Gesicht". Sein Traumgesicht war eine "Haupterhebung", "und Gott, der König, hat sich enthüllt hier dem Erniedrigten und ihm das Herz gestärkt über alles Maß". Aber es handelt sich eben nicht um eine Leiter – von der sich die auf- und absteigenden Engel wohl leicht gegenseitig heruntergestoßen hätten, sondern um eine Rampe oder Treppe. Nicht um eine schmale Stiege, sondern um eine breite, prächtige Rampe, wie wir sie von den riesigen pyramidenartigen babylonischen Tempeltürmen her kennen. Sie führt zum Thron Gottes, "zum höchsten Palast", wie Mann sich ausdrückt. Hier, an diesem Ort, an dem Jakob sich zur Nacht gelegt hat, ist jene schmale Stelle, an der sich, nach dem Weltbild des Alten Orient, "der ganze Verkehr zwischen der Erde und der oberen göttlichen Welt vollzieht" (Gerhard v. Rad). Wobei man im Alten Orient durchaus "zwischen dem irdischen Erscheinungsort einer Gottheit und ihrem eigentlichen – himmlischen Wohnort" zu unterscheiden wusste.

IV.

Die Bibel erzählt, Jakob habe auf einem Stein geschlafen, den er am anderen Morgen als Erinnerungszeichen aufrichtete. Bei dem erwähnten Stein handelt es sich um eine sogenannte Massebe, wie man sie auch sonst im Alten Orient kennt. Das erinnert an den auch sonst in der Frühgeschichte der Menschheit verbreiteten Steinkult. So reicht der Brunnen der Vergangenheit noch um eine Erzählschicht tiefer in die vorisraelitische Zeit. Eine Massebe ist zwar nicht so hoch wie den Menhire in der Bretagne, auf Malta oder das Megalith-Bauwerk von Stonehenge. Aber sie haben immerhin eine Höhe von bis zu zwei Metern. Um eine solche Massebe allein aufzurichten, müsste Jakob Riesenkräfte gehabt haben.

Sei's drum. Bethel mit seiner Massebe wurde zur Kultstätte im Alten Israel, und die Geschichte von Jakob und dem Tor zum Himmel wurde wohl auch erzählt, um zu erklären, wie Bethel zu dem berühmten Kultort geworden war. Jakob salbt, so wird uns erzählt, den Stein mit Öl und weiht ihn Gott, der ihm erschienen ist. Auch nennt er die Stätte Beth-El, zu Deutsch Haus Gottes. Vermutlich haben in späterer Zeit auch jene, die nach Beth-El wallfahrten, den Stein gesalbt, um ihre persönliche Verbindung mit Gott und ihre Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, verbunden mit einem Gelübde, das um die Schwäche und die Wankelmütigkeit des menschlichen Herzens weiß. Vermutlich – wir steigen im Brunnen der Geschichte noch weiter hinab – ist Beth-El aber schon vorisraelitischer Zeit ein weitbekannter Kultort gewesen, an dem ein Gott mit dem Namen "Beth-El" verehrt wurde.

Ihre große Zeit hatte die 17 Kilometer nördlich von Jerusalem im Westjordanland gelegene Kultstätte Beth-El übrigens in der Zeit Jerobeams I., der König des Nordreiches Israel war und in Bethel 926 v. Chr. das Kultbild eines goldenen Kalbs errichten ließ. Josia, König von Juda, hat dieses Heiligtum aber 722 v. Chr. zerstört, weil er in der Verehrung der Kalbsstatue als Götzendienst verurteilte.

V.

Bethel hat nicht nur ein tief in die Vergangenheit reichende Vorgeschichte, sondern auch eine Nachgeschichte. Dabei denke ich nicht so sehr an den gleichnamigen Ort im Bundesstaat New York, in dessen Ortsteil White Lake 1969 das legendäre Woodstock-Festival stattfand. Es gibt übrigens weltweit Dutzende Orte, die den biblischen Namen Bethel tragen. Ich denke aber vielmehr an die von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Die gleichnamige Ortschaft ist heute ein Stadtteil von Bielefeld.

Gegründet wurde Bethel 1867 von Bielefelder Kaufleuten als Einrichtung für Epilepsiekranke. 1872 wurde Friedrich von Bodelschwingh als Anstaltsleiter berufen, der aus den kleinen Anfängen eine große diakonische Institution schuf, die heute unter ihrem Dach zahlreiche stationäre und ambulante Einrichtungen im Gesundheits- und Sozialwesen betreibt, mit 24.000 Mitarbeitenden, die im Jahr 2023 mehr als 260.000 Menschen behandelt, betreut, beraten oder gefördert und ausgebildet haben. Bodelschwingh war es, auf dessen Anregung hin der Verwaltungsrat 1874 der stetig wachsenden Anstalt den Namen Bethel gab. Genesis 35 gab ihm dazu die Anregung. Dort wird erzählt, wie Jakob mit seiner Familie zu einem späteren Zeitpunkt seines Lebens erneut nach Bethel zieht, um dort Gott einen Altar zu errichten und sich von allen fremden Göttern loszusagen.

"Lasst uns aufbrechen und nach Bethel ziehen!" Bodelschwingh bezog die Aufforderung Jakobs an seine Familie auf sich selbst und die von ihm geleitete Anstalt. Die Ortschaft Bethel sollte zum Heilsort werden für alle Mühseligen und Beladenen. Alle in der Folgezeit errichteten Häuser erhielten biblische Ortsnamen. So gewann der Segen, den Jakob auf der Flucht vor Esau im historischen Bethel empfing, eine neue, vertiefte Bedeutung: Er sollte und soll sich ausbreiten unter jenen, die an Leib und Seele krank sind oder Not leiden. Auch gelang es Bodelschwinghs Nachfolger, seinem Sohn Friedrich, in der NS-Zeit, epilepsiekranke, behinderte und psychisch kranke Bewohner Bethels vor der sogenannten "Euthanasie", also vor dem Abtransport in Tötungseinrichtungen und ihrer systematischen Vernichtung zu schützen.

So hat das in 1. Mose 28 geschilderte Geschehnis seine tiefen Spuren nicht nur in der Geschichte Israels und dem geografischen Raum, in dem sie stattgefunden hat, hinterlassen, sondern auch in der Geschichte der Diakonie. Orte der Diakonie, der Caritas, können Orte sein, an denen Menschen eine Haupterhebung erleben, wie Thomas Mann treffend sagt. Dass Menschen, wenn sie niedergedrückt sind und am Boden liegen, aufgerichtet werden wie der Stein, auf dem Jakob geschlafen hat und Gott ihm erschienen ist, dass er den Himmel über sich offen sah.

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