Psalm 53 ist ein Duplikat zu Psalm 14. Sie sind fast textidentisch mit kleinen Unterschieden. Da sie aber an verschiedenen Stellen im Psalter stehen, nehmen sie einen unterschiedlichen Sinn an. Ps 14 steht im ersten Teil des Psalters, der nach den Überschriften von Ps 3, Ps 7 und Ps 9 von Prinz Abschaloms Aufstand handelt, der seinen Vater, König David, weggeputscht hat (2 Sam 15) und bei diesem Putsch ums Leben kam (2 Sam 18), worüber David bitter klagte (2 Sam 19). Die Pss 3-10 bilden einen "Abschalom-Midrasch", der in Ps 10 umkippt in eine Klage über Abschaloms feigen Mörder Joab (Böhler, Psalm 1–50, HThKAT 210f.). Ps 14 klagt anlässlich dieses Mords über die Verdorbenheit des Handelns gottvergessener Menschen wie Joab.
Ps 53, der fast textgleich ist, steht zwischen Ps 52 und Ps 54. Ps 52 handelt von dem Edomiter Doeg, der David an König Saul verraten hat (2 Sam 21,8; 22,6-23) und Ps 54 von den Sifitern, die den flüchtigen David ebenfalls an Saul verrieten (1 Sam 23,19; 26,1). Über die Schlechtigkeit solcher Leute, die um billigen Gewinns willen andere ans Messer liefern, klagt David hier. Die Überschrift nennt die Schwäche solcher Menschen, zu ihrem Vorteil über Leichen zu gehen, eine "Krankheit" (EÜ) – der Ausdruck ist allerdings nicht ganz sicher zu deuten:
1 Für den Musikmeister: Über eine Krankheit (?). Maskil von David.
"Es sagt der Narr in seinem Herzen: Da ist kein Gott!"
Ein Maskil ist entweder ein kunstvolles Gedicht oder ein Weisheitsgedicht. V 3 des Psalms spricht von "einem, der seinen Verstand gebraucht" (hebr. maskil), so deutet die Überschrift schon an, dass der Psalm davon handelt, wie wenige es gibt, die ihren Verstand gebrauchen, um sich ihre Welt-Anschauung zu bilden.
2 Es sagte der Narr in seinem Herzen: "Da ist kein Gott!"
Verderblich und abscheulich begingen sie Unrecht, da war keiner, der Gutes tat.
Der "Narr" ist hier kein bestimmter Mensch, sondern ein Typ Mensch: Der, der besinnungslos vor sich hinlebt, nach Sinn und Verstand seines Lebens und Tuns nicht fragt. Die Hauptfrage der großen Philosophen war die Frage nach dem letzten Grund, nach Gott (Platon, Aristoteles, Kant, Hegel). Ebenso weiß die israelitische Weisheit:
Ps 111,10: Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit;
Spr 1,7: Gottesfurcht ist Anfang der Erkenntnis
Spr 9,10: Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht, die Kenntnis des Heiligen ist Einsicht.
Sir 1,14: Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht.
Respekt vor dem tiefen Geheimnis hinter aller Wirklichkeit ist der Anfang der Weisheit und des Strebens nach ihr, der Philosophie. Banale Menschen nehmen die Wirklichkeit nur als Banalität wahr, als etwas Oberflächliches ohne Tiefe. Der Narr leugnet "in seinem Herzen", also in seinem Denken die Realität Gottes und glaubt, die Welt habe weder Sinn noch Bedeutung und er müsse sein Handeln vor niemandem verantworten als vor seinem eigenen banalen Denken.
Der Psalmist beschreibt das Verhalten des Narren mit Anspielungen auf die Sintflutgeschichte. Damals nahm Gott wahr, dass die ganze Menschheit verdorben ist:
Gen 6,12: Da sah Gott die Erde und siehe: Sie war verdorben, denn verderblich machte alles Fleisch seinen Weg auf Erden.
"Da ist keiner, der Gutes tut. Da ist auch nicht einer"
Nach diesem ersten Abschnitt des Psalms, der ein Narrenzitat enthalten hat, folgt der zweite Abschnitt (V. 3-5), der ein Gotteszitat enthält:
3 Gott blickte vom Himmel auf die Menschenkinder,
um zu sehen, ob da einer sei, der seinen Verstand gebraucht und nach Gott fragt:
4 "Jeder ist abgewichen. Zusammen sind sie verfault.
Da ist keiner, der Gutes tut. Da ist auch nicht einer.
5 Haben denn nichts erkannt die Übeltäter,
die als Verzehrer meines Volks (ihr) Brot verzehrten, nach Gott nicht riefen?"
Wie damals vor der Sintflut schaut Gott sich die Menschheit an und stellt fest: Nur wenige gebrauchen ihr Denkvermögen noch, um nach dem letzten Grund von allem, nach Gott zu fragen. Fast alle bleiben beim Vordergründigen stehen. Woran kann man das ablesen? An ihrem Handeln! Wer an keinen höheren Sinn glaubt als daran, es müsse sich in dieser Welt alles für ihn "rechnen", der kann nicht großzügig handeln, noch weniger lieben, sondern muss jetzt sofort alles herausholen, was herauszuholen ist. Er benutzt andere Menschen für seine Interessen, nutzt sie aus, beutet sie aus ("Verzehrer meines Volks"), wird übergriffig und nimmt sich, was er will, da er von einem möglichen höheren Sinn seines Tuns nichts weiß. Solche Menschen fragen nicht nach Gott, rufen nicht nach ihm. Ihre banale Welt muss hier und jetzt sofort für sie Gewinn abwerfen, und so verkommen sie selbst zu charakterlichen Krüppeln ("verfault"). "Nichts" haben sie "erkannt" von einem tieferen Sinn im Leben.
Schwere existenzielle Erschütterungen wie Krankheit, Tod oder Liebe können einen Menschen aufrütteln, die banale Oberflächlichkeit seines Denkens durchbrechen und ihn in eine größere Tiefe führen. Nach dem ersten Verrat durch die Sifiter nahm Saul die Verfolgung Davids auf, um seinen Rückzugsort zu belagern, aber:
1 Sam 23,27-28: Doch da kam ein Bote zu Saul und sagte: Komm schnell, die Philister sind in das Land eingefallen. Saul ließ von der Verfolgung Davids ab und zog den Philistern entgegen.
"Und David zog weiter, Saul aber kehrte an seinen Ort zurück"
Nach dem zweiten Verrat durch die Sifiter (1 Sam 26,1) steigt David mit einem Begleiter ins Kriegslager Sauls hinab, wo der König mit seinen Soldaten in Tiefschlaf gefallen war:
1 Sam 26,12: David nahm den Speer und den Wasserkrug, die neben Sauls Kopf waren, und sie gingen weg. Niemand sah und niemand bemerkte etwas, und keiner wachte auf; alle schliefen, denn der Herr hatte sie in einen tiefen Schlaf fallen lassen.
Aus sicherer Distanz ruft David Saul und seinen Leuten zu, weckt sie und zeigt König Saul, dass er in Lebensgefahr geschwebt hatte.
1 Sam 26,17-25: Saul erkannte die Stimme Davids und sagte: Ist das deine Stimme, mein Sohn David? David antwortete: Es ist meine Stimme, mein Herr und König. Dann fragte er: Warum verfolgt eigentlich mein Herr seinen Knecht? Was habe ich denn getan? Welches Unrecht habe ich begangen? … Darauf sagte Saul: Ich habe gesündigt. Komm zurück, mein Sohn David! Ja, ich werde dir nichts zuleide tun, weil dir heute mein Leben so kostbar war. Ich sehe ein, ich habe töricht gehandelt und schwere Fehler gemacht. David erwiderte: Seht her, hier ist der Speer des Königs. Einer von den jungen Männern soll herüberkommen und ihn holen. Der Herr wird jedem seine Gerechtigkeit und Treue vergelten. Obwohl dich der Herr heute in meine Hand gegeben hatte, wollte ich meine Hand nicht an den Gesalbten des Herrn legen. Doch denk daran: Wie dein Leben heute in meinen Augen wertvoll war, so wird auch mein Leben in den Augen des Herrn wertvoll sein; er wird mich aus aller Bedrängnis erretten. Saul sagte zu David: Gesegnet seist du, mein Sohn David. Du wirst es sicher vollbringen, dir wird es auch bestimmt gelingen. Und David zog weiter, Saul aber kehrte an seinen Ort zurück.
Saul erschrickt und wenigstens für einen Moment bricht er sein verbohrtes Denken auf und blickt tiefer. Auf dieses oder ein ähnliches Ereignis mag David in Ps 53,6 zurückblicken:
6 Da erschraken sie voll Schreck wie nie ein Schrecken war:
Ja, Gott zerstreute die Gebeine dessen, der dich belagert, du hast sie beschämt, denn Gott verwarf sie.
Der Verrat der Sifiter führte zu nichts. Saul, der David verfolgte und ihn in seiner Rückzugsfeste belagern wollte, musste wiederum abbrechen, sein Unternehmen scheiterte. Am Ende haben die Philister Saul besiegt und getötet (1 Sam 31). Er endete in Schande, den Gott hatte ihn verworfen (1 Sam 15).
Abschließend ruft der Psalmist aus:
7 O dass doch einer gäbe vom Zion Hilfen für Israel! Wenn Gott eine Wende herbeiführt für sein Volk, kann jubeln Jakob, sich freuen Israel.
Die Gegenwart des geleugneten Gottes
In V 5 hatte er Leute, die rücksichtslos andere ausnutzen, "Verzehrer des Volkes" genannt, die ohne Bewusstsein der Verantwortung vor Gott (vgl. Grundgesetz, Präambel) nur Eigeninteressen kennen. Am Schluss wünscht David diesem Volk Hilfen von Gott, eine Wende des Geschicks, damit es sich freuen kann. Fünfmal wird dieses Volk im Psalm genannt: einmal als ausgebeutetes in V. 5, dann viermal in V. 7 als eines, das von Gott seine Rettung erwartet ("Israel", "sein Volk", "Jakob", "Israel").
Gott wird in Ps 53 siebenmal genannt: das erste Mal in V. 2 in der Leugnung durch den Narren. Die sechs weiteren Nennungen Gottes in V. 3.5.6.7 erhöhen die Zahl der Nennungen auf sieben. "Sieben" aber ist die Zahl der Vollständigkeit. Der geleugnete Gott ist – das ist die Ironie im Psalm – vollkommen gegenwärtig, allgegenwärtig, durchdringt alles und trotz der Leugnung durch oberflächliche Existenzen kann er sich durch einen plötzlichen Schrecken in Erinnerung rufen. Da Gottesfurcht der Anfang der Weisheit ist, kann eine solche Erschütterung bei manchen die Oberflächlichkeit aufbrechen und zu wirklicher Vertiefung des Denkens und Lebens führen.