Psalmen 9 und 10 – Der rettende RichterDie Psalmen als Weg zur Kontemplation

Die griechische und lateinische Übersetzung (Septuaginta und Vulgata) zieht die Psalmen 9 und 10 zusammen und zählen sie als einen einzigen Psalm. Dafür spricht u.a. die gemeinsame poetische Struktur. Psalm 9 ist ein großes Dankgebet auf die Gerechtigkeit Gottes. Psalm 10 nimmt Gott in die Pflicht: Als König möge er die Feinde besiegen.

Bibel
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In der Masoretischen [hebräischen] Überlieferung werden die Psalmen 9 und 10 als zwei Psalmen gezählt. Die griechische und lateinische Übersetzung hingegen ziehen beide Texte zusammen und zählen sie als einen Psalm, als Psalm 9. Daher stammt die unterschiedliche Zählung der Psalmen, die sich bis zu Psalm 147 mit leichten Variationen durchhält. Erst gegen Ende des Psalters finden beide Zählungen wieder zusammen. In der Liturgie und in Werken der Kunst wird oft die Zählung der Septuaginta und Vulgata zugrunde gelegt. Werden beide Zählungen angeführt, gilt die Faustregel: Die höhere Zahl bezieht sich auf die heute (im deutschsprachigen Raum) weitgehend übliche Zählung nach der Hebräischen Bibel. Ps 22 (21) heißt also: Psalm 21 nach Zählung der Vulgata entspricht Psalm 22 nach Zählung des Hebräischen Textes, der die Ausgaben der Lutherbibel und der Einheitsübersetzung folgen.

Ankündigung eines Dankliedes

Psalm 9 und 10 sind aufgrund der poetischen Struktur als ursprünglich ein Psalm anzusehen; Septuaginta und Vulgata haben also richtig gezählt. Der Psalm scheint ein sehr junger Psalm zu sein; er dürfte aus hellenistischer Zeit (3. Jahrhundert v. Chr.) stammen und zwischen die Psalmen 8 und 11 eingeschoben und im Hinblick auf die Nachbarpsalmen verfasst worden sein. Mit der Überschrift: "Über das Sterben des Sohnes" ordnet er sich in den Abschalom-Midrasch, die Abfolge der Psalmen 3 bis 7, ein. Die doppelte Ankündigung in Ps 7,18, JHWH zu danken und seinen Namen zu besingen, wird in der Meditation über den Gottesnamen in Ps 8 ("Wie gewaltig ist Dein Name auf der ganzen Erde!") und dem Dankgebet in Ps 9 eingelöst.

In den Versen 2–3 kündigt der Beter ein Danklied an: "Ich will danken JHWH mit meinem ganzen Herzen, will künden all deine Wunder; ich will mich freuen und jubeln in Dir, will besingen Deinen Namen, Höchster." Zunächst könnte man meinen, das sei der Dank Davids für die Niederschlagung des Abschalom-Aufstandes (vgl. Ps 7,1). Doch im folgenden Vers 4 knüpft der Beter die Verrichtung des Dankgebetes an eine Bedingung: "wenn meine Feinde zurückweichen, wenn sie straucheln und zugrunde gehen vor Deinem Angesicht." Der Beter wird also nach wie vor von Feinden bedrängt. Es gibt noch Grund zur Klage.

Zentrales Thema des Dankgebetes ist die Gerechtigkeit Gottes. Es geht um Recht, nicht um Rache. Zwar steht das ersehnte Gericht noch aus, doch der Beter ist sicher, dass es erfolgen wird.

Die Vernichtung der Feinde

In den folgenden Versen 5–10 wird nun dieses Danklied zitiert. Noch ist es nicht so weit, dass David es beten könnte, doch schon jetzt zitiert er das Gebet, das er beten wird, wenn all seine Feinde zurückgewichen, gestrauchelt und zugrunde gegangen sein werden: "Ja, Du hast geführt meine Rechtssache und meinen Prozess, hast Dich gesetzt auf den Stuhl als gerechter Richter, hast zurechtgewiesen Nationen, zugrunde gerichtet den Frevler, ihren Namen ausgelöscht für immer und ewig." Der Vernichtung der Feinde stellt der Beter die bleibende Erhabenheit JHWHs gegenüber: "JHWH aber wird in Ewigkeit thronen, er hat hingestellt zum Gericht seinen Thron." Ziel der vollständigen Vernichtung der Feinde ist die Rettung der Bedrängten: "So sei JHWH eine Fluchtburg für den Bedrückten, eine Fluchtburg in Zeiten der Bedrängnis." Zentrales Thema des Dankgebetes ist die Gerechtigkeit Gottes. Es geht um Recht, nicht um Rache. Zwar steht das ersehnte Gericht noch aus, doch der Beter ist sicher, dass es erfolgen wird.

Grundsätzlich ist JHWH der Richter der ganzen Erde und aller Völkerschaften (Ps 9,9), doch nicht alle Völker sind seine Gegner, sondern nur die "Nationen", die Gojim (gentes), sie sollen verschwinden "aus seinem Land" (Ps 10,16). Der hebräische Text unterscheidet hier sehr deutlich. Ziel der Vernichtungswünsche ist der Schutz und die Rettung des Schwachen. Der Beter selbst scheint nicht zu den Unterdrückten zu gehören, er macht sich deren Sache zu eigen, er betet für andere (Böhler, Psalmen 1–50, HThK AT, Freiburg 2021, 198). Nimmt man die sprachlichen Indizien einer Spätdatierung des Textes ernst, dann kann es sich bei den Nationen eigentlich nur um die hellenistischen Besatzer und bei den Frevlern um deren jüdische Kollaborateure handeln. Die zentrale Bedeutung des Verbs abad ("zugrunde gehen, zugrunde richten") in unserem Psalm weist zurück auf die Psalmen 1 und 2, die – ebenfalls spät zu datieren – die gleiche Konstellation vor Augen haben: Frevler, die den bedrängen, der sich an die Tora hält (Ps 1), und feindliche Nationen (gojim), die gegen den von JHWH eingesetzten König auf Zion rebellieren (Ps 2). Deren Treiben wird zugrunde gehen.

Das Vertrauen der Gottesfreunde

In den Versen 5–10 hat der Beter sein zukünftiges Dankgebet vorgestellt. Im folgenden Vers 11 spricht er über die zu erwartenden Folgen bei denen, die Gottes Namen kennen. Diese Gottesfreunde werden, wenn die im Dankgebet beschriebenen Wundertaten eingetroffen sein werden, neu auf JHWH vertrauen: "Dann werden auf Dich vertrauen, die Deinen Namen kennen, weil Du nicht verlassen hast, die nach Dir fragen, JHWH." Der Psalm setzt voraus, dass diejenigen, die sich grundsätzlich zu JHWH bekennen, die seinen Namen kennen und ihn im Gebet ansprechen, in ihrem Glauben angefochten sind. Da die Feinde des Beters noch nicht zurückgewichen und zugrunde gegangen sind (Ps 9,4), könnte bei ihnen der Eindruck entstanden sein, JHWH greife nicht ein, wie die Frevler sagen: Gott sieht nichts und er tut nichts (Ps 10,4.11). Der Beter will JHWH mit seinem antizipierten Dankgebet zum Handeln bewegen. Die "JHWH-Kenner" brauchen offensichtlich (noch) derartige Zeichen göttlicher Machterweise. Ganz ohne Erfahrung geht es nicht. Daran erinnert der Beter JHWH.

Aufforderung zum Gotteslob

Hatte der Beter zu Beginn des Psalms sich selbst zum Gotteslob aufgefordert, so lädt er im folgenden Vers 12 eine Gruppe ein, in diesen Lobpreis mit einzustimmen: "Singt JHWH, der thront in Zion, erzählt unter den Völkern seine Taten!" Angesprochen dürften diejenigen sein, die "seinen Namen kennen". Vers 13 begründet den Aufruf zum Lobpreis: "Denn er [JHWH], der Blutschuld ahndet, hat an sie gedacht, hat nicht vergessen den Notschrei der Elenden." Dieser Notschrei wird nun in den folgenden Versen 14–17 zitiert: "Sei mir gnädig, HERR! Sieh mein Elend, wie sie mich hassen, Du, der mich erhebt von den Toren des Todes, damit ich künde all Deine Lobgesänge, in den Toren der Tochter Zion juble über deine Rettung." Der Notschrei der Elenden wird hier im Ich eines einzelnen zitiert. Seine Hasser hatten ihn bereits bis zu "den Toren des Todes" gebracht; den HERRN ruft er an als einen, der ihn aus dieser Tiefe emporheben kann. Dann, so sein Versprechen, will er Loblieder über Gottes Rettung künden "in den Toren der Tochter Zion".

In Vers 16 blickt der zu Wort kommende Elende auf den Untergang der Feinde zurück: "Nachdem versunken sind Nationen in der Grube, die sie gemacht hatten, in der Tretfalle, die sie heimlich aufgestellt hatten, ward gefangen ihr Fuß." Der Psalm unterscheidet zwischen den Völkern (ammim, lat. populi), unter denen Gottes Taten bekanntgemacht werden sollen (Ps 9,12), und den Nationen (gojim, lat. gentes, "Heiden"), "die Gott vergessen haben" (Ps 9,18) und die in der Grube versinken, die sie selbst gegraben haben (Ps 9,16). Offensichtlich wird das Land ("Tore der Tochter Zion") von einer fremden Besatzungsmacht beherrscht; mit ihr kann kein Friede geschlossen werden, sie werden versinken in ihrer selbst gegrabenen Grube. Nicht alle Völker sind also Feinde Gottes, sondern nur jene, die das Volk Gottes unterdrücken, sich ihm auf seinem Weg zu seinem Gott entgegenstellen (vgl. Ex 17,8–16). Mit Ps 9,17 endet das zitierte Gebet des Elenden, die Verse 18–19 spricht wieder der Beter: Mögen die Nationen auch Gott vergessen, so wird Gott die von ihnen unterdrückten Elenden nicht vergessen.

Das Bild des Richters, der zwischen Gut und Böse unterscheidet, lässt sich aus dem biblischen Gottesbild nicht eliminieren. Zwischen Tätern und Opfern gibt es einen Unterschied.

Da ist kein Gott!

Gegen die feindlichen Nationen ruft der Beter nun im zweiten Teil des Psalms (Ps 9,20–10,18) die Hilfe JHWHs auf: "Steh auf, JHWH, […] gerichtet werden sollen Nationen vor deinem Angesicht, […] erkennen sollen Nationen, dass sie (nur) Menschen sind." Die Gojim scheinen sich offensichtlich wie Gott aufzuspielen. Das passt zum Selbstverständnis hellenistischer Könige, die sich als Retter (Soter) und Befreier inszenierten, nicht selten als ein Gott auf Erden, wie beispielsweise Ptolemaios I. Soter oder Antiochos IV. Epiphanes.

Doch was den Beter am meisten bedrängt, ist nicht das Gebaren der Nationen, sondern das Verhalten eines Frevlers. In Ps 10,2–4 taucht plötzlich ein Frevler auf; dreimal wird er genannt. Ausführlich wird sein Verhalten beschrieben. Dreimal kommt er in Form eines Zitates zu Wort. Er scheint sehr selbstsicher zu sein: "Er sagt in seinem Herzen: Ich werde niemals wanken! Für Generationen trifft mich kein Unglück!" (Ps 10,6). Er scheint erfolgreich zu sein: "Erfolgreich sind seine Wege zu jeder Zeit" (Ps 10,5). Sein böses Tun, so seine Überzeugung, hat keinerlei Konsequenzen, denn entweder gibt es Gott nicht oder er sieht und tut nichts: "Der Frevler in seiner Hochnäsigkeit: ‚Niemand ahndet! Da ist kein Gott!‘ – so sind seine Gedanken" (Ps 10,4). Auffallend ist, dass der Frevler nie den Gottesnamen verwendet, sondern nur allgemein von Gott (elohim: Ps 10,4) oder der Gottheit (el: Ps 10,11) spricht, während der Beter den Gottesnamen JHWH gebraucht (Ps 9,20f; 10,12). Das niederträchtige Verhalten des Frevlers wird ausführlich und mit drastischen Bildern geschildert: "Er lauert im Versteck wie ein Löwe in seinem Dickicht, er lauert, um zu fangen einen Elenden, er will fangen einen Elenden, indem er ihn in seine Falle zieht" (Ps 10,9). Es scheint sogar so zu sein, dass der Frevler sein rücksichtsloses Verhalten religiös verbrämt, da er "ein Loblied (auf Gott) singt", wenn er seiner Gier und seiner Habsucht freien Lauf lässt, doch damit "lästert er JHWH" (Ps 10,3).

Warum lässt sich Gott so verlästern und greift nicht ein, fragt vorwurfsvoll der Beter und fordert JHWH auf, doch endlich etwas zu tun: "Steh auf, JHWH, Gottheit, erheb deine Hand! Vergiss die Elenden nicht! Weshalb lästert der Frevler Gott, sagt in seinem Herzen: Du ahndest nicht? Du hast es gesehen! Ja, Untat und Kränkung schau an, um (die Sache) in die Hand zu nehmen!"

JHWH ist König

Das Bild des Richters, der zwischen Gut und Böse unterscheidet, lässt sich aus dem biblischen Gottesbild nicht eliminieren. Zwischen Tätern und Opfern gibt es einen Unterschied. Dieser wird von Gott nicht "um des lieben Friedens willen" oder einer falsch verstandenen Barmherzigkeit eingeebnet. Darin erweist sich JHWH als König, dass er den Machenschaften seiner Feinde ein Ende bereitet, um deren Opfer aus ihren Fängen zu retten: "JHWH ist König für immer und ewig; zugrunde gegangen sind Nationen aus seinem Land. Die Sehnsucht der Elenden hast Du gehört, JHWH" (Ps 10,16f). Mit dem Kommen eines "starken Retters aus dem Hause Davids", so betet die Kirche, hat "der Herr, der Gott Israels, uns errettet vor unseren Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen" (Lk 1,68–71).

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