Unser heute zu betrachtender Psalm 50 ist eine Mahnrede Gottes an sein Volk im Rahmen einer Gotteserscheinung. Gott erinnert sein Volk darin an die Bedingungen für den Bund zwischen ihnen. Der Psalm besteht aus drei Strophen: Die erste Strophe (V. 1-6) schildert eine Gotteserscheinung, bei der Gott sein Volk zu einer Versammlung einberuft. In der zweiten Strophe (V. 7-15) hält Gott eine Rede an sein Volk und belehrt es, mit welcher Einstellung eine richtige Opferliturgie zu feiern ist. In der dritten Strophe (V. 16-23) wendet sich Gott an den Frevler und erklärt ihm: Die Bibel ständig im Mund zu führen, aber nicht nach ihr zu leben, nützt nichts.
Zwölf Mal nennt der Psalm "Gott" (zehnmal) oder "die Gottheit" (einmal) oder den "Herrn" (einmal). Die Zahl 12 symbolisiert das Zwölfstämmevolk Israel, Gottes Bundesvolk, die Zahl zehn mag für die zehn Gebote stehen. Das erste Wort ist "Gottheit", das letzte "Gott", denn um ihn muss es in Israels Leben von Anfang bis Ende gehen.
Die erste Strophe ist die Einberufung der Versammlung durch den erscheinenden Gott:
1 Die Gottheit, Gott, der Herr hat geredet
und die Erde gerufen vom Aufstrahlen der Sonne bis zu ihrem Untergang.
2 Aus Zion, der Vollendung der Schönheit, ist Gott aufgeleuchtet.
"Es komme unser Gott, er schweige nicht!"
Dabei frisst Feuer um ihn her, während es rings um ihn sehr stürmisch wurde.
4 Er ruft den Himmeln oben zu,
und der Erde, er wolle seinem Volk eine Rechtsbelehrung erteilen:
5 "Versammelt mir meine Loyalen,
die den Bund mit mir schließen beim Schlachtopfer!"
6 Da kündeten die Himmel seine Gerechtigkeit:
"Ja, Gott ist einer, der Recht schafft!"
Gottheit, Gott, Herr
Der Psalmist kündet als Herold Gottes Kommen an. Er nennt Gott gleich am Anfang mit drei verschiedenen Bezeichnungen: Gottheit, Gott, Herr. Alle möglichen Gottestitel bezeichnen nur den allein wahren Gott, den Herrn. Die Erscheinung Gottes gilt der Erde "vom Aufstrahlen der Sonne bis zu ihrem Untergang", d.h. von Ost bis West, und sie erstreckt sich von der Erde (V. 1) zum Himmel (V. 4) und erneut von der Erde (V. 4) zum Himmel (V. 6). Vom Zion, dem Jerusalemer Tempelberg her strahlt Gott auf und eine Gruppe begrüßt ihn: "Es komme unser Gott, er schweige nicht!" Wie auf dem Sinai bei der Gesetzesoffenbarung wird die Erscheinung von Feuer und Sturm begleitet (Dtn 4,11-15). "Gott kommt als raumerfüllendes Licht"; "Feuer beseitigt, was im Weg liegt, Sturm fegt die Asche weg" (Böhler, Psalmen 1–50, HThKAT, 913).
In den V. 4-6 lädt Gott sein Volk vor. Himmel und Erde werden angewiesen, das Volk einzuberufen, jenes Volk, das bei der Opferliturgie Ex 24,5 in den Bund mit Gott eingetreten ist. Gott will sein Volk über die damals durch Mose gegebene Weisung belehren. Angesprochen werden sie als "Loyale" ("Chasidim"), die Gott zur Loyalität verpflichtet sind. Die Stichwörter "Bund" und "Schlachtopfer" in V. 5 geben die Inhalte der beiden folgenden Gottesreden an, denn V. 7-15 werden vom Opfer handeln, die V. 16-23 von den Bundesverpflichtungen. In V. 6 melden die Himmel, die nach V. 4 die Versammlung einberufen sollten, Vollzug und proklamieren vor der Versammlung Gott als einen, "der Recht schafft".
Die zweite Strophe wendet sich nun der Frage nach der rechten Einstellung bei der Opferliturgie zu.
7 "Hör zu, mein Volk, dass ich rede, Israel,
dass ich dir einschärfe: Gott, dein Gott bin ich!
8 Nicht wegen deiner Schlachtopfer will ich dich zurechtweisen,
sind doch deine Brandopfer mir als ständige gegenwärtig.
9 Ich muss nicht nehmen aus deinem Haus einen Farren, aus deinen Gehegen Böcke.
10 Denn mein ist alles Wildgetier des Waldes, das Vieh auf den Bergen zu Tausenden.
11 Ich weiß um alle Vögel der Berge, das Getümmel des Feldes ist mir ein Anliegen.
12 Wenn ich je Hunger haben sollte, würde ich es nicht dir sagen,
denn mein ist der Erdkreis und was ihn erfüllt.
13 Sollte ich denn essen das Fleisch von Stieren und das Blut von Böcken trinken?
14 Schlachte Gott ein Dankopfer und erfülle dem Höchsten deine Gelübde!
15 Und ruf mich an am Tag einer Bedrängnis!
Ich will dich herausreißen und du sollst mich ehren!
Die Strophe beginnt mit "hör zu!" (V. 7) und endet auf "ruf mich an!" (V. 15). Durchzogen ist sie von einer Palindromie: die Wörter "Gott", "schlachten", "mein ist", "Berge" in den V. 7-10 werden in den V. 11-14 rückwärts wiederholt – eine besonders künstlerische Gestaltung des Dichters. "Hör zu!" beginnt Gott, wie im "Höre Israel" (Dtn 6,4) und erinnert dann an das erste Gebot: "Gott, dein Gott bin ich!" (vgl. Ex 20,2). Bei der täglichen Liturgie im Tempel (Ex 29,38-46) feiert Israel sein Bundesverhältnis mit Gott. Israels Liturgie ist in Gottes Augen vollkommen in Ordnung (V. 8), aber manche verstehen sie falsch: Sie denken, Gott braucht das, als ob sie Gott mit den Opfern füttern würden. Gott braucht die Opfer Israels, die Gottesdienste der Kirche nicht. es gehört ihm ja sowieso alles. Von Menschen muss er nichts nehmen (V. 9).
"Ich muss dich zurechtweisen und dir's vor Augen führen"
Wer glaubt, Gott mit seinem Gottesdienst einen Gefallen zu tun, liegt falsch (V. 9-13). Der Gottesdienst Israels (und der Kirche) muss gefeiert werden im Bewusstsein "Von dir ist alles, und von deiner Hand haben wir es dir gegeben" (1 Chr 29,14), wie es im Römischen Messkanon heißt: "So bringen wir aus den Gaben, die du uns geschenkt hast, dir, dem erhabenen Gott, die reine, heilige und makellose Opfergabe dar." "'Geben' kann der Mensch Gott nur im Modus des Erstattens" (Böhler, Psalmen 915). V. 13 will den Gedanken, Gott brauche Opfergaben, ad absurdum führen. Die dem Menschen von Gott gewährte Liturgie kann nur in der Haltung des Dankopfers (eucharistia) gefeiert werden (V. 14). Die Stichwörter "Dank" und "Gelübde" verweisen auf Lev 7,12.16 – das "Dankopfer" in der Tora. Gott will mit Dankbarkeit geehrt werden. Über diese freut er sich dann auch. Nach dieser Belehrung über die rechte gottesdienstliche Gesinnung folgt in der dritten Strophe eine Unterweisung zum rechten Gebrauch des Wortes Gottes:
16 Aber zum Frevler sagte Gott: "Wie kommst du dazu, herzuzählen meine Gesetze
und dass du führst den Bund mit mir in deinem Munde,
17 obwohl du Zucht hassest und warfst meine Reden hinter dich?
18 Wenn du einen Dieb sahst, dann hast du dich gern zusammengetan mit ihm,
und mit Ehebrechern machtest du gemeinsame Sache.
19 Deinen Mund hast du losgelassen in Bosheit, deine Zunge aber spannt Trug vor.
20 Nimmst du an Sitzungen teil, redest du gegen deinen Bruder,
dem Sohn deiner Mutter hängst du Schändliches an.
21 Derlei hast du getan und, da ich schwieg,
bildetest du dir ein, ich sei tatsächlich deinesgleichen!
Ich muss dich zurechtweisen und dir's vor Augen führen."
Die erste Rede Gottes (V. 7-15) war an das ganze Bundesvolk gerichtet, gerade auch die Frommen. Die zweite Rede (V. 16-21) wendet sich an solche, die schlecht handeln, aber immer mit Bibelzitaten um sich werfen: "Wie kommst du dazu, herzuzählen meine Gesetze und dass du führst den Bund mit mir in deinem Munde?" Der Angeredete redet ständig von der Bibel, kann alle Gesetze aufzählen, aber sein Verhältnis zu Gott ist reines Lippenbekenntnis (V. 16-17). Die V. 18-20 halten dem "frommen" Schwätzer sein wirkliches Leben vor Augen: Er macht gemeinsame Sache mit Dieben (7. Gebot), mit Ehebrechern (6. Gebot), legt selbst gegen seine Nächsten falsches Zeugnis ab (8. Gebot), ja er lässt seinem Mund die Zügel schießen wie einem ungebremsten Pferd (V. 19), Lug und Trug sind die Zugtiere, die er vor seine Zunge gespannt hat, d. h. er redet schlecht über andere ohne jede Zurückhaltung und lässt sich zu jeder Lüge hinreißen.
V. 21 fasst all die Untaten zusammen mit "derlei hast du getan". Da Gott ihn bisher hat ungestraft gewähren lassen, begann er zu glauben, Gott sei auch wie er: Der redet nur und tut dann nichts. Der Mensch ist zwar Gottes "Bild und Gleichnis" (Gen 1,26), aber Gott ist für keinen Menschen "seinesgleichen", denn er ist unvergleichlich. Gott führt ihm die Diskrepanz von Reden und Leben vor Augen, damit er endlich einsieht, dass sein ganzes Bibel-Gerede und sein wirkliches Leben nicht zusammenpassen.
Die V. 22-23 wenden sich nun zusammenfassend an die Adressaten von V. 7-15 und V. 16-21:
22 Seht das doch ein, ihr Gottvergessenen,
damit ich nicht zerfleische, ohne dass einer entreißt!
23 Wer Dankopfer schlachtet, wird mich ehren,
und wer auf (seinen) Weg achtet, den lasse ich sehen das Heil Gottes.
Gott – das erste und das letzte Wort
"Seht das doch ein", was das Wesen der Liturgie ist (V. 7-15) und was der rechte Umgang mit Gottes Wort (V. 16-21). Wer die Liturgie missversteht oder Gottes Wort, ist "gottvergessen", weil er letztlich Gott missversteht. Die Liturgie und sein Wort hat Gott gegeben zu ernsthafter Gottesbegegnung. Wer glaubt, Gott auf den Arm nehmen zu können, dem wird er zum Löwen, der "zerfleischt, ohne dass einer entreißt" (V. 22; Hos 5,14). V. 23a fasst die erste Rede zusammen ("Dankopfer"), V. 23b die zweite ("Lebenswandel"). "Das letzte Wort des Psalms ist 'Gott' (Elohim). Es war auch das erste (El, Elohim)".