"Bis auf die Gläubigen hatten alle eine gute Zeit"Fluxus in der Kirche

George Maciunas, Begründer der Kunstbewegung Fluxus, inszenierte am 17. Februar 1970 in einer Kapelle auf dem Campus der Rutgers University eine "Flux Mass" als Anti-Messe. Was hatte es damit auf sich?

© Northwestern University, Photograph by Peter Moore

Zum Jahresende 1969 erhielt George Maciunas die Einladung, an der Rutgers State University of New Jersey eine Fluxus-Aktion zu veranstalten. Die Universität, an der der Künstler und Kunsttheoretiker Allan Kaprow bis 1961 unterrichtet hatte, galt aufgrund ihres experimentierfreudigen Kunstprogramms als Hochburg des Happenings und der Performance Art. Als eine mehrerer Aufführungsstätten diente die Voorhees Chapel auf dem Universitätscampus, eine 1925 erbaute Kapelle, in der neben Gottesdiensten auch Vorlesungen, Vorträge und Konzerte stattfanden. Als Maciunas erfuhr, dass ihm für sein Fluxus-Event ein Kirchenraum zur Verfügung gestellt würde, stand sein Entschluss fest: Er wollte eine Fluxus-Messe zelebrieren.

Jurgis Mačiūnas wurde 1931 in Kaunas als Sohn eines litauischen Architekten und einer russischen Balletttänzerin geboren. Als die Rote Armee 1944 in Litauen einmarschierte, floh die Familie nach Deutschland, wo Jurgis nach Kriegsende – unter dem Namen Jürgen Matschunas – die Schule des Displaced Persons Camp in Hanau, später das Gymnasium in Bad Nauheim besuchte. Im Jahr 1948 wanderte die Familie in die USA aus. In New York studierte Jurgis – nun George – Kunst, Grafik, Architektur, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft. Von 1961 bis 1963 verschlug es ihn abermals nach Deutschland: Während er in Wiesbaden als Grafiker für die US Air Force arbeitete, organisierte er erste Fluxus-Festivals, etwa die "Internationalen Festspiele Neuester Musik" im Wiesbadener Kunstmuseum, auf deren Höhepunkt er und seine Künstlerfreunde einen Konzertflügel zertrümmerten. Auch Joseph Beuys schloss sich damals dem Fluxus-Netzwerk an, dem ferner Künstler wie Nam June Paik, Wolf Vostell, Daniel Spoerri, Ben Vautier und Yoko Ono angehörten.

Geschult an Futurismus, Dada und Surrealismus

Die von Maciunas initiierte Kunstbewegung, deren Namen er vom lateinischen Verb fluere (deutsch "fließen") ableitete, ließ traditionelle Gattungsgrenzen verschwimmen: Mit Konzerten, Happenings, Objekt-, Film- und Installationsarbeiten, Publikationen und Multiples bewegten sich die international vernetzten Akteure – stets koordiniert von Maciunas – auf intermedialen Grenzgängen, angesiedelt zwischen Musik, bildender Kunst, Literatur und Avantgarde-Theater. Geschult waren die Fluxus-Aktionen an früheren Avantgarden wie dem Futurismus, Dada und Surrealismus: In der anvisierten Verschmelzung von Kunst und Leben galt es, das Alltägliche, Zufällige und Ludische künstlerisch zu erkunden. Maciunas sah in Fluxus eine Gegenbewegung zum elitären und kommerzialisierten Kunstbetrieb, seinen erstarrten Institutionen und Strukturen. Die bourgeoisen Kunstformen lehnte er ab, wohingegen er den Zirkus und das Vaudeville hochschätze. Überhaupt kam es dem Fluxus-Begründer auf Humor und Witz an: "I think it's good, inventive gags. That's what we’re doing", erklärte er in einem seiner letzten Interviews.

Die Künstler um Maciunas veranstalteten, auf ritualisierte Geselligkeitsformen rekurrierend, "Flux Feasts", "Flux Banquets", "Flux Sports" und "Flux Holidays". Eine besondere Serie stellten die "Flux Rites" dar, die ein ausgeprägter zeremonieller Charakter auszeichnete – eingeläutet wurden sie durch die Fluxus-Messe an der Rutgers University.

Freunde und Wegbegleiter beschreiben George Maciunas als verschrobenen Witzbold und "karnevaleske Persönlichkeit". In Aufnahmen des mit ihm befreundeten Filmemachers Jonas Mekas sieht man ihn feixend in die Kamera grinsen. Hypochondrisch veranlagt, mit einem Faible für Monteverdi und Konservennahrung, oft in Geldnot, weil all seine Einnahmen – sowie Teile des Vermögens seiner Mutter – in Kunst-Projekte flossen, ging Maciunas ganz und gar in Fluxus auf. In der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre konzentrierte er sich auf die Herausgabe von Drucksachen und Multiples, die er zu "Flux Kits" zusammengestellt vertrieb. Von 1970 an verschob sich der Schwerpunkt wieder auf gemeinsame Performance-Aktivitäten: Die Künstler um Maciunas veranstalteten, auf ritualisierte Geselligkeitsformen rekurrierend, "Flux Feasts", "Flux Banquets", "Flux Sports" und "Flux Holidays". Eine besondere Serie stellten die "Flux Rites" dar, die ein ausgeprägter zeremonieller Charakter auszeichnete – eingeläutet wurden sie durch die Fluxus-Messe an der Rutgers University.

Zur Vorbereitung der "Flux Mass" setzte sich Maciunas mit dem traditionellen Messritus der römisch-katholischen Kirche auseinander. Das Plakat, das er für die Veranstaltung entwarf, zeugt von seinen Recherchen: Es versammelt Informationen und Begriffserklärungen, die die Kirchenarchitektur, den Aufbau und die Ausstattung des Altars sowie den priesterlichen Ornat betreffen. In der Mitte des Posters sind – in Kreuzform angeordnet – die zentralen Bestandteile der Heiligen Messe aufgeführt. Indes bleibt der Ablauf der Fluxus-Performance vage, angekündigt werden allein "Liturgy Variations by George Maciunas".

Für Kostüm, Requisiten und Musik zeichneten weitere Fluxus-Künstler und Studenten der Universität verantwortlich, die Maciunas zu einer Vorbesprechung in sein Atelier in die Wooster Street 80 nach SoHo einlud. "Wie Maciunas auftrat, erinnerte an die Befehlsausgabe für zwangsrekrutierte Truppen", berichtet der damalige Kunststudent Larry Miller. "Maciunas verkündete dir mit seinem Stakkatoakzent und seinem Dr. Strangelove-Grinsen Entscheidungen auf den Kopf zu … Ich war von seinem Speed-Freak-Charakter so durch und durch angewidert, dass ich sofort entschied, mich nicht am Größenwahn dieses verrückten Typen zu beteiligen." Dass der Student, trotz anfänglicher Skepsis, schließlich doch an der Fluxus-Messe mitwirkte – und zwar verkleidet als Gorilla –, ist wohl Maciunas' Begeisterungsfähigkeit zuzuschreiben: Dem Fluxus-Impresario gelang es immer wieder, Mitstreiter für seine skurrilen Unternehmungen zu rekrutieren.

Messdiener im Gorilla-Kostüm

Was für "liturgische Variationen" erwarteten nun die Besucher der Voorhees Chapel am Morgen des 17. Februar 1970? Bei Eintritt in die Kapelle wurden sie mit Parfum, Deodorant, Desinfektionsmittel und Gewürzölen besprüht – eine Parodie auf das Sakrament der Taufe. Der Priester, von dem japanischen Künstler Yoshi Wada verkörpert, trug über seinem Bischofsgewand wechselnde Schürzen, auf denen Napoleon, dann Venus von Milo, George Washington und schließlich ein weiblicher Akt abgebildet waren. Die Messdiener steckten in Gorillakostümen. Der von Wada intonierten Antiphon, zu Beginn der Messe, stimmten aus dem Off eingespielte Geräusche und Tierlaute ein, später sang der Fluxus-Priester auf Japanisch. Von der Decke hing eine aufblasbare, mit Wein gefüllte Supermanfigur, die – in Anspielung auf die Wunde Christi – aufgeschnitten wurde. Eine den Heiligen Geist symbolisierende mechanische Taube schaukelte an einem Draht über dem Kirchengestühl und sonderte Exkremente aus Lehm ab. Bei der Brechung des Brotes wurden Rauchbomben gezündet, und die Messdiener schlugen ungestüm auf einen riesigen, mit Sägespänen gefüllten Brotlaib ein. Ein von Maciunas hergestellter Wein wurde aus einem "Plasmatank" gereicht. Zur Kommunion erhielt das Publikum, statt Hostien, "laxative & blue urine cookies", Kekse also, welchen nebst Abführmittel eine Substanz beigemischt war, die den Urin blau verfärbte. Gegen Ende der "Flux Mass" schoss Yoshi Wada mit einer Schreckschusspistole in die Luft.

Bei den Studenten fand diese turbulent-burleske Aufführung großen Anklang. "Bis auf die Gläubigen hatten alle eine gute Zeit", erinnert sich Larry Miller. Wenig erfreut zeigte sich Reverend Lambelet, Kaplan der Episkopalkirche, der während der Performance zugegen war und sich am Folgetag bei der Universitätsleitung beschwerte: Die Fluxus-Messe als Blasphemie verurteilend, drängte er darauf, solcherlei beleidigende Kunstevents in Zukunft zu unterlassen. Noch erzürnter war der katholische Kaplan Pater Procaccini, der von Maciunas' Aktion aus der Studentenzeitung erfuhr. Für den Pater war die Kapelle durch das sakrilegische Spektakel unwiderruflich entweiht – für die Dauer eines Jahres durfte im profanierten Sakralraum die Heilige Messe nicht mehr gefeiert werden. Anschließend bedurfte es einer Rekonsekration durch den Bischof.

Es gehört zu Maciunas' Widersprüchlichkeiten, dass er jede Form von Überhöhung in der Kunst wie in der Gesellschaft erklärtermaßen ablehnte, mit Fluxus zugleich aber eine Kunstbewegung ins Leben rief, die parareligiöse, ja kulthafte Züge annahm.

Über den von ihm ausgelösten Skandal soll sich Maciunas köstlich amüsiert haben. Dem Künstler bereitete es eine diebische Freude, bestehende Ordnungen auf den Kopf zu stellen. So zielte auch seine Fluxus-Messe auf die Pervertierung von Tradition: Es ging ihm um eine Verspottung und Desavouierung der Messliturgie, deren Theatralik er als affektiert und prätentiös missbilligte. Dennoch ließ die Sehnsucht nach dem Rituellen George Maciunas nicht los. Wenige Monate vor seinem Tod – er war zu Beginn des Jahres 1978 an Leber- und Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt – feierte er mit der Dichterin Billie Hutching eine legendäre "Flux Wedding". Am 13. Mai 1978 starb der Künstler. Auf seinen Wunsch hin veranstalteten die Freunde eine ihm gewidmete "Flux Funeral". Es gehört zu Maciunas' Widersprüchlichkeiten, dass er jede Form von Überhöhung in der Kunst wie in der Gesellschaft erklärtermaßen ablehnte, mit Fluxus zugleich aber eine Kunstbewegung ins Leben rief, die parareligiöse, ja kulthafte Züge annahm.

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