"Beuget die Knie"Von der wahren Bedeutung einer alten Geste

Hamburger knien nicht, heißt es. Herrscher verlangen heute nur noch geistige Kniefälle. In Kirchen und Moscheen gehen die Menschen weiterhin leibhaftig in die Knie. Warum das ein guter und lobenswerter Brauch ist.

Ulrich Greiner
© privat

Der Kniefall ist in demokratischen Regionen unüblich. Auch Diktatoren verlangen ihn in der Regel nicht mehr. Ein Katholik, der zufällig eine protestantische Kirche besucht, wird, wenn er in einer frommen Anwandlung auf die Knie fällt, auf die harte Kante eines schrägen, für die Füße gedachten Sockels stoßen und sich schmerzhaft daran erinnern, dass Protestanten in der Regel nicht knien.

In der Einleitung zu seiner "Ästhetik" schreibt Hegel: "Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen: Es hilft nichts, unsere Knie beugen wir doch nicht mehr." Ihm zufolge wäre der Kniefall eine archaische Unterwerfungsgeste, wie sie die mystische Kunst der Frühzeit nahelegt. Wenn aber "der vollkommene Inhalt vollkommen" in der Kunst hervortrete, dann wende sich "der weiterblickende Geist von dieser Objektivität in sein Inneres zurück". Diese "innere Geistigkeit" sieht Hegel von der Reformation "hervorgetrieben". Dadurch erst entstehe das Bedürfnis, "sich nur in seinem eigenen Inneren als der wahren Form für die Wahrheit zu befriedigen". Es wäre also, wollte man Hegel folgen, leicht denkbar, dass jemand mit einem Kniefall Frömmigkeit vortäuscht, eigentlich aber ganz profanen Bildern nachhängt, während sich die Wahrheit religiöser Erweckung nur im Inneren ereignen kann. Ob das geschieht, ist natürlich eine ganz andere Frage.

Auf dem Gymnasium, wo wir einen guten Musiklehrer hatten, brachten wir die "Weihnachtshistorie" (1644) von Heinrich Schütz zur Aufführung, und der Lehrer, der auch Altphilologe war, erklärte uns die Arie des Herodes, der die Schriftgelehrten auffordert, nach dem "Kindlein" zu forschen: "…und wenn ihrs findet, so saget mir es wieder, dass ich auch komme und es anbete." Die musikalische Figur des Wortes "anbete" bilde die Proskynesis ab, die Unterwerfungsgeste, wo der Bittsteller auf die Knie fällt und dann den Oberkörper zur Erde neigt. Wer den Gesang des Herodes mehrmals hört, kann auf die Idee kommen, dass der Mann lügt, so übertrieben klingt die Pose der Selbsterniedrigung.

Die Gebetshaltung der Muslime folgt der Proskynesis bis heute. Die Christen wiederum haben die schon im Alten Testament erwähnte Tradition früh in ihre liturgische Praxis übernommen, und noch immer spielt sie in den katholischen Messfeiern eine zentrale Rolle, wenn auch in gemilderter Form. Es stimmt, dass das Knien nicht überall in gleicher Weise ausgeübt wird und nicht alle Gottesdienstbesucher immer wissen, wann es angebracht und geboten ist. Und doch sind die Kirchen (neben den Moscheen) der einzige Ort, an dem noch gekniet wird. Man muss froh darüber sein, dass keine weltliche Obrigkeit den körperlichen Kniefall mehr verlangt. Der geistige Kniefall allerdings ist oftmals obligatorisch.

Die erbärmlichen Ur-Hamburger stehen barfuß im Matsch und starren den Heilsbringer ratlos an.

Die Erkenntnis, dass ich nicht der ausschließliche Herr meiner selbst bin, sondern dass es Gott ist, dem ich meine Existenz verdanke, ist die Grundlage der meisten Religionen, erst recht der christlichen. Ihr dadurch Ausdruck zu verleihen, dass man niederkniet, scheint mir ein guter und ehrwürdiger Brauch. Nicht selten allerdings wird er als demütigend empfunden. "Ein Hamburger kniet nicht", lautet eine Redewendung. Stadtführer zitieren sie gern, wenn sie Carl Vogels Wandgemälde im Rathaussaal erläutern. Man sieht dort, wie der Bischof Ansgar, geschützt von einem mit Speeren bewaffneten Trupp und gefolgt von weiß gekleideten Priestern, die einen goldenen Schrein tragen, den Heiden die christliche Botschaft überbringt.

Die erbärmlichen Ur-Hamburger stehen barfuß im Matsch und starren den Heilsbringer ratlos an. Ursprünglich, so erzählen es die Stadtführer, habe in der vordersten Reihe ein Hamburger vor dem Bischof gekniet. Weil das als unterwürfig empfunden worden sei, habe man angeordnet, denn allzu Frommen zu übermalen. Ich bin der Sache einmal nachgegangen, konnte aber in der hamburgischen Abteilung der Staatsbibliothek keinen Beleg für diese Legende finden.

Es ist im Übrigen keineswegs ausgemacht, dass der Mensch auf Knien unterhalb seiner intellektuellen Möglichkeiten gerät. Joseph Beuys hat einmal bemerkt: "Ich denke sowieso mit dem Knie." Ich wüsste gern, was Hegel dazu gesagt hätte.

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