#5 KrokodillederWieviel Askese, Sammlung, Disziplin und Zurückhaltung braucht es während der Fastenzeit?

Fastenzeit – das ist mehr als Handyverzicht und "Aschermittwoch der Künstler". Die vierzig Tage vor Ostern bieten großartige Gelegenheiten zur spirituellen und intellektuellen Sammlung und Neufundierung. Das geht nicht ohne Spiegelstriche und Deklinationen, die sich absolvieren lassen: ein geistliches Workout.

Krokodilleder
© Unsplash

… und dann entdeckte ich diesen unfassbar schönen Geigenkasten, den die italienische Werkstatt mit bernsteinfarbenem Krokodilleder überzogen hatte. Ich konnte die Finger gar nicht mehr davon lassen. Dieses geschmeidige Mosaik, das von Dunkelgrün bis in Ockertöne hinein irisierenden Schuppen bildeten. Sie überzogen den Deckel des Kastens in unregelmäßigen Größen, in gekielter Stellung. Entlang der Seitenkanten, offenbar von der Rückenpartien des Tiers gefertigt, funkelten mich Hornplatten in ihrer eleganten Wildheit an, als der Instrumentenkasten geschlossen auf der hölzernen Werkbank vor mir dastand.

Es war mitten in der Fastenzeit, aber glücklicherweise erinnerte ich mich an ein 2010 aufgesetztes Schreiben des Erzbischofs von New Orleans, das damals in den Late-Night-Shows für Heiterkeit gesorgt hatte. In seinem Schreiben argumentierte der Geistliche aus dem Pelican State in scholastischer Distinktion, dass man das Fleisch eines Alligators während der Buß- und Fastenzeit ohne Gewissenspein auf den Grill geben dürfe: Der Alligator gehöre schließlich jenen Lebewesen an, die hauptsächlich im Wasser lebten. Quasi ein Echsenfisch. Evolution ist eine Tatsache und somit genießt Louisianas kreolische Nationalspeise, der Eintopf "Gumbo", ein Nihil Obstat. Aber darf ich einen Geigenkasten aus (absolut herrlichem) Krokodilleder während der Fastenzeit kaufen? Ich bin schließlich relativ bußfertig. 

Vielleicht ist die Frage meinen zerknirschten Kolleg:innen zu fad: Sie beschäftigen sich ja mit wichtigen Dingen. Aber wo beginnt fastende Sammlung und wo die Hoffart? Soll ich das alles mit mir selbst ausmachen? Und noch dies: Warum ist gerade die vorösterliche Fastenzeit oft ein so schmerzhafter Beleg dafür, dass die Kirche neben Handyfasten und Aschermittwoch der Künstler keine Ideen hat? Dabei ist ja biblisch gesehen ganz schön viel Fantasie da. Die christliche Imagination knüpft bei der Zahl symbolisch mit den Tagen, die Jesus in der Wüste verbrachte, fastete und dem Teufel widerstand – die Evangelisten erzählen die Story in Varianten. Matthäus macht es am interessantesten: "Da trat der Versucher an ihn heran und sagte: Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird" (Mt. 4,1-11).

Spirituelles Training

Zugleich ist die katholische Kirche bei ihren Fastenempfehlungen – im Vergleich zum Judentum oder dem Islam, aber auch zahlreichen anderen Konfessionen und Religionen, die Formen des Fastens üben – ziemlich entspannt: In den Canones 1244-1258 sind die Fast- und Abstinenzgebote festgehalten. Vergleichsweise strenges Fasten gilt nur noch für den Aschermittwoch und den Karfreitag; vom früher vorgeschriebenen Verzicht auf Fleisch an allen Freitagen des Jahres haben die Bischöfe hierzulande schon vor Jahrzehnten dispensiert. In der Fastenzeit sind die Katholiken aufgerufen, sich auf besondere Weise ins Gebet zu vertiefen und sich verstärkt in Werken der Frömmigkeit und der Caritas zu engagieren.

Die innere Sammlung, die intellektuelle uns spirituelle Neufundierung braucht Spiegelstriche und Deklinationen, die man absolvieren kann, derer man sich gewahr werden, die man vor das innere Auge stellen kann. Ein spirituelles Training bilden auch die Mottos der fünf Fastensonntage. Ich empfinde sie manchmal wie Überschriften, die das Thema einer geistigen Übung umreißen.

Und gerade hier wäre viel zu holen. In meinem Gym kann auch der gesalbteste Oberarm den kompliziertesten Ernährungsplan befolgen. Und Virtuosität entsteht schließlich aus Repetition, das bestätigt jede Person, die auf einem hohen Level musiziert oder kunstvoll mit einer Sprache umgehen möchte. Die inwendige Fastenzeit kristallisiert sich um folgende meditative Gravitationsfelder: Erster Fastensonntag: Invocabit me "Gott spricht zu mir, ruft mich an". Also ich bin gemeint. Zweiter Fastensonntag: Reminiscere miserationum tuarum, will sagen: "Denke an deine Güte". Du bist voller Vermögen, Hingabe und kannst dich verschenken, sei also nicht so bockig und emsig. Dritter Fastensonntag: Oculi mei semper ad dominum, meint: "Meine Augen schauen immer zum Herren". Du hast einen Fixpunkt, einen Stern, eine Richtung, ein Gegenüber. Vierter Fastensonntag: Laetare heißt einfach: "Freue dich". Lache, lass deine Seele erglänzen. Fünfter Fastensonntag: Judica me, Deus, heißt: "lass Recht walten bei mir, Gott". Oder anders gesagt: Sei fair, sei ein Mensch, sei kein Wichser.

Warum sind vegane Abstinenzgebote von Ernährung bis zur Kleidung angesagt und hoch motivierend, aber die kirchliche Fastenzeit kommt daher, wie ein emsig zusammengeraffter Bausparvertrag und gipfelt in boshaftem Streit um Fastentücher in überheizten Sakralräumen?

Um es kurz zu machen: Die kirchliche Fastenzeit ist eine spirituelle und intellektuelle Workout-Routine, die zum Ziel hat, eine offene, gütige, faire, wertgeschätzte, weil wahrgenommene, und humorvoll umsichtige Persönlichkeit zu fördern. Soweit so gut. Worüber aber die Kirche nachdenken sollte, ist dies: Warum sind vegane Abstinenzgebote von Ernährung bis zur Kleidung angesagt und hoch motivierend, aber die kirchliche Fastenzeit kommt daher, wie ein emsig zusammengeraffter Bausparvertrag und gipfelt in boshaftem Streit um Fastentücher in überheizten Sakralräumen?

In einer Gesellschaft, die sich in ihrer Selbstauslegung scheinbar vor Schuldgefühlen zu kollabieren droht, in der Shaming zu einer digitalen Kunstform geworden ist, in der Identitätsstress oder Überforderung zu Abgrenzung und Dünnhäutigkeit führt; in den globalisierten Gesellschaften, in denen Diversifizierung, Fragmentierung und gelegentlich Exklusivierung der sozialen Modelle und Räume oder auch losere oder mobilere Beziehungsgefüge zu einer permanenten Kultur der Bekenntnisse und Zugehörigkeitsriten ermuntern; in einer Welt also, die von adaptierten, eingebildeten oder wahrgenommenen Muster von SchuldFear of missing out oder Scham geprägt ist und ihr Bedürfnis nach tätiger Veränderung in unzähligen Formen des beherzten Aktivismus auslebt – in dieser Gesellschaft gibt es zahlreiche Formen, die eine Kirche anzubieten hätte. Es kann schwerlich nur an der angemessenen Sprachform oder der Reichweite der Kenntnis liegen, dass sie brachliegen. Es fehlt auch an inspirierenden Vorbildern und Persönlichkeiten der zivilen Öffentlichkeit, die auch dann zu religiösen Formen stehen, wenn sie nicht beim Aschermittwoch der Künstler hofiert werden.

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