Streit um die Menschenwürde? War da was? Der Bundeskanzler hat am Sonntag sein Sommerinterview im "Bericht aus Berlin" gegeben. Natürlich ging es da auch um die geplatzte Richterwahl am Freitag. Aber weder der Fragesteller Markus Preiß, Leiter des ARD-Hauptstadtstudios, noch Friedrich Merz nannten das Kind auch nur ein einziges Mal beim Namen. Die Handhabung der Menschenwürde, derentwegen es schließlich zur Vertagung der Wahl gekommen war, blieb unbegreiflicherweise begrifflich ausgeblendet. Stattdessen sprachen Merz und Preiß von "das". War es Zufall, dass "das" so kurzfristig vor der geplanten Abstimmung in die Öffentlichkeit gekommen ist, wollte Preiß wissen.
"Das war am Freitag nicht schön", meinte Merz, das zeigende Fürwort aufnehmend und machte eine erstaunliche Aussage: Er sei der festen Überzeugung, "dass große Teile der Bevölkerung das (!) allenfalls aus dem Augenwinkel begleiten und an ganz anderen politischen Themen interessiert sind als an Richterwahlen." Neben dem Wort "das" ist es das Wort "Richterwahl", welches als Ersatzvokabular für die Faszination Menschenwürde herhält. Man verstand: Richterwahlen sind im Grunde lästig (Merz: "Wir müssen die machen"), man muss sie irgendwie hinter sich bringen, da kann schon mal was haken, kein Beinbruch: "Noch mal, das Ganze ist undramatisch."
Hier ist ganz offenbar eine weltanschauliche Reizbarkeit berührt, die sich nicht als rechtstechnischer Ablauf darstellen und abwickeln lässt.
Womöglich ist es gerade dieses Kalkül des Kanzlers, den inhaltlichen Kern des parlamentarischen Nicht-Beinbruchs kleinzureden, kleinzuhalten, welches das Problem recht eigentlich erst groß macht. Hier ist ganz offenbar – zieht man nur einmal die Klickzahlen des Themas bei den sozialen und öffentlichen Medien heran – eine weltanschauliche Reizbarkeit berührt, die sich nicht als rechtstechnischer Ablauf darstellen und abwickeln lässt. Salopp gesagt: Ist Artikel 1, Satz 1 des Grundgesetzes erst einmal als Streitfrage auf dem öffentlichen Tapet, kann man das nicht wie eine lästige Fliege wieder verscheuchen. Oder auch nicht im Register des Gewissens privatisieren wollen, was eigentlich – als verfassungsrechtliche Würdeschutzgarantie – der offenen politisch-rechtlichen Erörterung bedarf. So mochten es am Freitag mehr Abgeordnete als gedacht gesehen haben.
Mehr als eine individuelle Gewissensfrage
Merz bemühte in dem Sommerinterview auffallend oft und deutlich die Kategorie des Gewissens, das nun einmal nicht zu befehligen sei (was ja nun aber nichts an der fehlenden Voraussicht von Merz und Spahn ändert, die wie politische Dilettanten in die Abstimmung stolperten, Preiß hat das freundlicher formuliert). Es wirkte denn auch eher als Entlastungsstrategie für den fahrlässigen Fraktionsvorsitzenden denn als die plötzliche Einsicht des Vorsitzenden einer C-Partei in die Unverhandelbarkeit der Menschenwürde. Anders gesagt: Merz war erkennbar bemüht, die objektive Preisgabe dieser Würde, wie sie sich in einer allgemeinen Meinung des verfassungsrechtlichen Schrifttums ausdrückt, allenfalls als individuelles Gewissensproblem abzubilden (wobei er selbst hier kein solches habe). Und keinesfalls als Unterlaufen einer staatlichen Schutzgarantie, die als solche öffentlich einzufordern wäre.
Wie nun aber genau die unterschätzten Vorbehalte bei Abgeordneten der Unionsparteien, aber auch bei solchen der SPD, es zum Ausdruck brachten. Was wollte der Kanzler im Sommerinterview insinuieren, als er meinte, die frühere SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt habe ja in der Richterdebatte die Kirchen "mobilisiert". Ist Merz tatsächlich derart von der bloß rechtstechnischen Qualität der Menschenwürde-Problematik überzeugt (de facto demnach eine Frage politischer Abläufe, nichts mehr), dass er sich ein genuines, also nicht politisch ferngesteuertes Berührtsein der Kirchen hier gar nicht vorstellen kann? Wo hängen bei dem Mann die metaphysischen Glocken, hängen da überhaupt welche? Und hätte er ein entsprechendes inneres Glockengeläut rechtzeitig vernommen, wäre dann Frauke Brosius-Gersdorf womöglich das unwürdige Spiel mit ihrer Würde erspart geblieben?
So aber durfte, so aber musste Irme Stetter-Karp, die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, sagen:
"Dass eine Kandidatin für das Amt der Bundesverfassungsrichterin öffentlich erklärt, es gebe 'gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt', beunruhigt mich sehr. Ich würde sie aufgrund dieser Position nicht wählen können."
Unlösbare Probleme
Andere Kirchenleute argumentierten auf derselben Linie. Aus ihr spricht die metaphysische, anti-positivistische Überzeugung, dass es unlösbare Probleme gibt, die nicht einfach zu rabattierten Preisen "gelöst" werden können. Deshalb kommt die Fraktionsdisziplin an Grenzen, wo sich politisch-rechtliche Fragen als Gewissensfragen deklarieren lassen. An dieser Stelle hat Merz tatsächlich recht. Dann kann nämlich nicht erwartet werden, dass Menschenwürde für jedes menschliche Leben abzuwägen sei mit einer noch so dringlich vorgebrachten Kompromissforderung der sogenannten politischen Mitte. Weder im ersten noch im zweiten Anlauf wäre dies eine kluge politische Strategie. Auf die Idee, dem ungeborenen Leben die Menschenwürde von vornherein zu entziehen, um sie im Konfliktfall nicht in Abwägung bringen zu müssen, kann nur kommen, wer unlösbare Probleme für unmöglich hält. Es ist eine desinkarnierte Idee, eine Idee gegen die Lebenskraft, sprachlich umweht von einem Eiseshauch.
Wäre die Menschenwürde im Sommerinterview zu ihrem Namensrecht gekommen, dann wäre auch besprochen worden, was nicht unter "Falschbehauptungen und Gerüchte" im Zusammenhang mit der Kandidatin Brosius-Gersdorf abgetan werden kann. Es ist eben auch keine spontane Äußerung bei Lanz gewesen, sondern die wohlerwogene Feststellung in einem juristischen Fachaufsatz von 2023, die zumal in ihrer Apodiktik (oder sollte man sagen: Kessheit) provoziert: "Die Annahme, dass die Menschenwürde überall gelte, wo menschliches Leben existiert, ist ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss. Menschenwürde- und Lebensschutz sind rechtlich entkoppelt." Punktum.
Brosius-Gersdorf ist jedes Recht zuzubilligen, ihre konsequentialistischen Auffassungen von Menschenwürde zu vertreten. Aber den Abgeordneten steht es nicht minder zu, ihnen ihre Zustimmung zu verweigern.
Frauke Brosius-Gersdorf, die selbst einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss begeht, indem sie Menschenwürde erst mit dem Faktum der Geburt beginnen lässt, ist deshalb noch keine "schreckliche Juristin", als welche sie von Julian Reichelt verunglimpft wird. Sie artikuliert – man kann sich das nicht genügend klarmachen – hier nur eine Opinio communis der positivistischen Auffassung von Menschenwürde, die eben nicht als unverfügbares Recht, Rechte zu haben, gedacht wird, wie seinerzeit maßgeblich noch von Ernst-Wolfgang Böckenförde. Man lese daraufhin nur einmal in die von Brosius-Gersdorf herausgebende vierte Auflage des Grundgesetz-Kommentars von Horst Dreier herein, ihrem Lehrer. Die Autorinnen und Autoren dieses Kommentars nehmen von der Präambel angefangen über die Artikel 1 bis 19 eine konsequente Depotenzierung idealistischer Rechtspositionen vor. Insofern ist Brosius-Gersdorf jedes Recht zuzubilligen, auf dieser Linie ihre konsequentialistischen Auffassungen von Menschenwürde zu vertreten.
Aber den Abgeordneten steht es nicht minder zu, ihnen ihre Zustimmung zu verweigern. Sie können sich im Zweifel darauf berufen, was Merz aus welchen Gründen auch immer im Sommerinterview sagte:
"Man kann Abgeordneten keine Befehle von oben geben. Es sind selbstbewusste, frei gewählte Abgeordnete, und wenn es um solche Personalfragen geht, geht es auch um Gewissensfragen."
Nur politische Zyniker werden hier verlangen, solche Gewissensfragen den vermeintlich reibungslosen Abläufen zu unterwerfen, systemischen Überlegungen den Vorzug zu geben oder dem Nutzenkalkül für eine pragmatische Rechtsprechung. Es ist ja auch ein Befreiungsschlag fürs Politische – die Vorstellung, dass es vorpolitische Maßstäbe gibt, die ihrerseits als nicht verhandelbar gesetzt, sagen wir ruhig positiviert sind. Unter dem Namen der Menschenwürde hätten sie gut in den "Bericht aus Berlin" gepasst.