Wiedergelesen: Hans Urs von Balthasars «Der Christ und die Angst»

Ein kleines Büchlein, weniger als hundert Seiten. Nicht eigentlich Literatur, vielmehr Theologie; aber Theologie, die sich mit Literatur auseinandersetzt, und Theologie auch, die passagenweise selbst literarischen Anspruch hat. Man hat die ontologischen Kategorien im philosophischen dritten Abschnitt von Hans Urs von Balthasars Der Christ und die Angst1 als zu wenig anschlussfähig für personale Deutungen kritisiert, man hat aber auch die persönliche Dichte und Tiefe mancher der beispielhaften Konkretisierungen hervorgehoben, die von Balthasars philosophische Überlegungen begleiten. Und Der Christ und die Angst wäre kein Text des großen Luzerner Theologen, würde nicht die nüchterne ontologische Sprache immer wieder auch durchbrochen von Formulierungen fast poetischen Stils.

Wenn es wirklich Überholtes, Problematisches in diesem Buch gibt, dann sind das weniger die ontologischen Begriffskategorien der philosophischen Reflexion als vielmehr die nicht abzustreitende Neigung zu einem unterordnenden2 und Stereotypen wie Weltlichkeit und mangelnde Gemeinschaftsorientierung fortschreibenden3 Verständnis des Alten Bundes – auch wenn man von Balthasar unrecht täte, würde man ihm einfach eine krude Substitutionstheologie unterstellen: Es ist seiner Auffassung nach gerade ein den Menschen überforderndes Zuviel an unvermittelter Nähe Gottes, das er im Alten Bund als grundlegend für die von der Gotteserfahrung selbst genährte Angst ansieht.

Damit sind wir im Thema. Von Balthasars Überlegungen zur Angst geben zu denken, bis heute, bis fast ein Dreivierteljahrhundert nach ihrer Abfassungszeit also. Dies nicht zuletzt deswegen, weil der weitgehende Ausfall einschlägiger Reflexionen, den von Balthasar mit Blick auf die Tradition konstatiert, bis in die jüngste systematisch-theologische Arbeit hinein fortdauert – von dem tiefenpsychologisch inspirierten Ansatz Eugen Drewermanns und den mystisch-therapeutischen Reflexionen Eugen Bisers einmal abgesehen. Und es ist durchaus zutreffend, «[d]as Fehlen einer ernsthaften Theologie der Angst angesichts der steigenden Flut sowohl der Angst selbst wie ihrer Deutungs- und Bewältigungsversuche in Philosophie und Psychologie» als «peinlich» (8) zu qualifizieren. Nun dürfte der Vorwurf, das Christentum sei eine Religion, die die Angst der Menschen sogar noch schüre, sich zwar angesichts der seelsorglichen Abkehr auch noch vom letzten Hauch einer Drohbotschaft selbst aus einer christentumskritischen Perspektive weitgehend überlebt haben. Zeitlos berechtigt ist aber das Postulat, dass eine christliche Theologie der Angst einen Ort zu finden hat zwischen einem bloß floskelhaft tröstenden, letztlich aber unberührten Hinwegschreiten über die Abgründe menschlicher Angst einerseits und dem Sich-Mitreißen-Lassen von der Angst andererseits – einer Haltung, die gerade im Blick auf die Zukunft des Christentums ihren Pessimismus in aller Tiefe zeigt: Von Balthasar spricht hier, seinerseits gewissermaßen prophetisch, von «Rabenpropheten, die ihren Tiefsinn und Radikalismus darein verlegen, allem, was heute in der Kirche Bestand hat, den unverzüglichen und gänzlichen Untergang anzukündigen» (9).

Anknüpfungspunkte für eine solcherart ausgewogene Theologie der Angst findet von Balthasar in der Bibel. Er differenziert dabei zwischen der Angst der Guten und der Angst der Bösen; Letztere ist Folge und zugleich Ursache einer sündhaften Vereinzelung und Abkehr von Gott, sie ist irreal, genährt mehr durch die inneren Prozesse des von Gott sich abwendenden Menschen als durch einen seinshaltigen Auslöser. Die Angst der Guten hingegen stellt sich letztlich als die Angst um den Verlust der Gottesbeziehung dar – oder sogar als unmittelbare Konsequenz aus dem allzu unverhüllten Vor-Gott-Stehen des alttestamentlichen Menschen: als innere, gewissermaßen notwendige Begleiterscheinung der Begegnung zwischen dem Absoluten und dem Kontingenten.

Beide Formen der Angst intensivieren sich im Neuen Testament. Der entscheidende Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament liegt für Hans Urs von Balthasar aber in der «Angst des Erlösers selbst» (36). Sie treibt die Angst einerseits in ihr letztes Extrem, genau dadurch überwindet sie sie andererseits aber auch. Hier wird am Begriff der Angst das Paradoxon christlicher Soteriologie durchbuchstabiert: Gott besiegt die Angst nicht per Dekret, durch äußere Überwindung, sondern indem er sich selbst in sie ganz hineinbegibt und sie so von innen her entmachtet; Gott erlöste in Christus «nicht, indem die Angst ihm erspart, sondern indem sie ihm bis aufs letzte geschenkt und überlassen wurde» (37). Es ist deutlich, dass von Balthasar hier Grundfiguren seiner Soteriologie am Begriff der Angst durchspielt: Vollzieht sich Erlösung im theodramatischen Konzept dadurch, dass der Sohn selbst am Kreuz und im Höllenabstieg einen für endliches Begreifen unausdenklichen Abstand zum Vater einnimmt und damit die tiefste, größte und schmerzvollste aller möglichen Trennungen auf sich lädt, so ist auch die Angst des Sohnes durch die Absolutheit der Verlassenheit vom Vater die absolute Angst, während alle andere menschliche Angst als umgrenzt und durch Umgrenzung gemildert anzusehen ist.

Damit aber gelangt Hans Urs von Balthasar zu der einen Aussage über die Angst, an der ihm vor allem anderen gelegen zu sein scheint: In Christus ist die Angst besiegt. Sie ist «ein für allemal gebannt und überwunden. Und zwar nicht bloß juridisch und von Rechts wegen, sondern für den, der zu Christus gehört, seinshaft und im Wesen. Er kann, sofern er das Leben des Glaubens hat, sich nicht mehr fürchten» (43) – weil er sich sicher in der Liebe Gottes geborgen weiß und weil er nicht mehr auf seine eigene Schwäche, sondern nur noch auf die göttliche Macht blickt. In der Bergpredigt findet von Balthasar daher sogar «den strikten Befehl Christi an die Seinen, sich in allen Formen der Bedrängnis, und wenn sie auch ins äußerste geht, nicht zu fürchten» (45). Die Formulierungen sind hier von einer drastischen Klarheit: «Der Christ hat zu dieser Angst [sc. der Angst vor dem Sein in der Welt und vor dem Tod] schlechterdings keine Erlaubnis, keinen Zugang. Ist er trotzdem Neurotiker und Existentialist, dann fehlt es ihm an christlicher Wahrheit, dann ist sein Glaube krank oder schwach» (46). «Und mag die ‹Weltstunde› es den Menschen schwerer machen als zu andern Zeiten, von Angst und Neurose sich freizuhalten, so folgt daraus höchstens, daß von dieser Generation mehr gefordert wird als von anderen und daß es deswegen vermutlich weniger echte Christen geben wird als zu andern Zeiten» (46).

Das ist radikal. Zu radikal, wenn man das heutige Wissen um die physiologische Dimension von Depressionen und Angststörungen in Rechnung stellt. Aber selbst wenn man von solchen Formen der Angst einmal ganz absieht, bleibt eine in ihrer Radikalität mehr als herausfordernde Vision dessen, was Christsein bedeutet – nichts weniger nämlich als «das totale Jawort in seine [sc. Gottes] unsichtbare Allheit und In-differenz» (87), mithin: «Loslassen der bergenden stützenden Differenz, Überstieg ohne Geländer. Überstieg der Bootwand und Hinaustreten auf das Wasser. Überstieg im alleinigen Vertrauen auf das, was jenseits ist, und woher die Kraft, die Möglichkeit kommt» (88). So ist es letztlich, eigentlich gemeint, wenn von Balthasar Angst als zutiefst unchristlich zurückweist. Christsein realisiert sich im Sprung, wirft sich mitten in der Angst restlos auf Gott und findet in Gottes Allmacht Halt. Christsein heißt, kein Recht zu haben auf Angst. Und schon die Frage, wie das gehen soll, schon das Nachdenken über die Leistbarkeit dieses Anspruchs führt zum Versinken, wie Petrus es auf dem See erfuhr: «Man kann nicht zugleich loslassen und das Loslassen festhalten wollen. Immer muß der Glaube, die Liebe, die Hoffnung für die endliche Kreatur ein Sprung sein, weil es einzig so der Würde des unendlichen Gottes entspricht; ein Wagnis, weil er des ganzen Einsatzes wert ist […]. Im wagenden Sprung leuchtet etwas von der unendlichen Hingabe der göttlichen Personen aneinander; dort, wo jeder Boden, der Begrenztheit ist, verlassen wird, und wo der Mensch spüren darf, daß man im Absoluten – schwebt. In den Armen der Gnade aufgehoben, auf den Flügeln der Liebe getragen fühlt er ein Beben, das ihm als solches genau die Sicherheit verleiht, nicht mehr auf sich selbst oder auf der Erde zu stehen, sondern aus neuer Kraft fliegen zu können» (88).

Der Anspruch ist grandios. Er drängt die Frage nach seiner Lebbarkeit auf; auch die Frage nach der Bewertung von Endlichkeits- bzw. Schuldempfindung. Kann nicht gerade Schulderfahrung auch unmittelbare Folge, ja sogar die direkte Kehrseite einer Gnadenerfahrung sein? Und ist es von daher nicht fragwürdig, wenn von Balthasar jene «Dialektik, in welcher jedes Mehr an Gnade ein Mehr an Unwürdigkeit, ja an Schuld hervortreibt» (55), umstandslos als die Situiertheit eines Menschen abqualifiziert, «der mit dem Christentum nicht ernst machen» (56) und lieber auf dem eigenen als auf Gottes Boden stehen will? Ist es nicht zu statisch gedacht, die Dialektik von Gnadenerfahrung und dem eigenen Sich-als-unwürdig-Empfinden angesichts der Gnade einfach zum stabilen Ruhen im Vertrauen auf die absolute Zuverlässigkeit der göttlichen Treue hin aufzulösen? Wäre das menschenmöglich – und, wichtiger noch: Wäre es wirklich christlicher?

Aber die Radikalität in von Balthasars Skizze zur Angst hat doch einen tiefen Wahrheitskern. Es stimmt ja: In dieser Welt gibt es kein Geschick, das aus christlicher Perspektive ernsthaft zu fürchten wäre. «Wenn Gott für uns ist, wer kann dann gegen uns sein?» (Röm 8, 31); oder in einem Bildwort formuliert: Man kann nicht tiefer fallen als in die Hände Gottes. Wenn das aber stimmt, dann ist die Angst vor jeder (anderen) Form des Fallens im Grunde etwas Irreales, und als solches sollte sie keine Macht über den Menschen haben. So gesehen, schließen Christsein und Angst einander tatsächlich aus.

Damit ist allerdings noch nicht das gesamte Bild gezeichnet, denn natürlich gibt es die Angst ja trotzdem – auch bei dem Menschen, der den Sprung des Christseins vollzieht, und sogar bei Christus selbst. Hans Urs von Balthasar weiß sehr wohl darum, dass nicht nur die Angst des sündhaften Menschen existiert, sondern auch das, was er «Kreuzesangst» nennt: ein «innerhalb der Angst Christi sich mitängstigen […] dürfen» (48). Und ein ganzer Aussagestrang in Der Christ und die Angst trägt dem Rechnung: Angst ist eine Grunddimension (gefallener) menschlicher Existenz und insofern ein universalmenschliches Phänomen, das es anzunehmen und aus christlicher Warte umzuwerten gilt; auch der Bibel geht es somit nicht darum, «die Angst einfachhin wegzunehmen oder zu ersparen» (13). Angst kann als Gefolge einer tiefen Gnadenerfahrung schlicht Angst «um das Gottesverhältnis» sein (24), Angst vor der dunklen Nacht des göttlichen Schweigens, Angst vor dem Sich-Entziehen des vordem in lichter Gnade Zugewandten. Angst kann gemäß dem für Menschen bleibend unauflösbaren Ratschluss Gottes auch ein Mittel sein, durch das der Mensch, «der immer neu versagende, abfallende oder in falscher Sicherheit sich wiegende, von Gott selbst an den äußersten Rand der Angst geführt wird, um von dort sich bewußter und dankbarer wieder in die Mitte der Hoffnung hineinzubeten» (28). Angst hat also mitunter den Sinn, Menschen «von Gott aufzuschließen im Angstschrei nach Erbarmen» (32). Ja, das Matthäusevangelium berichtet gar davon, dass Jesus selbst den Jüngern als Gespenst, als Inbegriff des Ängstigenden erscheint: Hier «tadelt er nicht mehr: er selbst hat sie in die Nacht gesendet, hat nichts getan, um in ihren Herzen oder in seinem Erscheinen das Angsthafte und Gespenstische zu bannen: so wollte er diesmal aufgefaßt werden. Es ist Offenbarung in der Angst» (36). Und das eine ist vom anderen: die Angst der Sünde ist von der Angst der Anfechtung aus Sicht des Menschen, der sich ängstigt, gar nicht in aller Eindeutigkeit zu unterscheiden. Auf der phänomenalen Ebene, aus Sicht des sie erlebenden Menschen gleichen sie sich – und zwar so sehr, dass eine «Mehrdeutigkeit» der Angst vorliegt (33), die eine Verurteilung des Menschen, der sich ängstigt, überhaupt verunmöglicht.

Was bleibt dann aber übrig von dem brennenden Verdikt über die Angst als etwas zutiefst Unchristliches und mit erlöster Existenz prinzipiell Unvereinbares? Lässt sich daraus schlussendlich doch nichts «fürs Praktische machen» – weil die Emphase der Abwehr sich am Phänomen der Universalität und Ambiguität von Angst totläuft? Muss sich das Ideal somit doch der Macht des Faktischen beugen? Fraglos steht fest, dass die Angst in von Balthasars Überlegungen ein ambivalentes Phänomen ist, nicht einfach nur Ausdruck einer unchristlichen Haltung. Damit ist aber auch bereits gesagt, dass diese Ambivalenz sich nicht einfach zu einem der beiden Spannungspole hin auflösen lässt – auch nicht in dem Sinne, dass die Mehrdeutigkeit der Angst ein christliches Verbot der Angst verunmöglicht. Wie ist Letzteres dann aber zu deuten? Vielleicht so, dass hier ein kontrafaktisches Aufbegehren als Minimalanforderung einer christlichen Haltung der Angst gegenüber ausgesagt wird: Christlich ist es in jedem Fall, der Angst immer wieder die größere Hoffnung entgegenzusetzen. Und christlich ist es vor allem, der Angst als einer von Gott entfremdenden, den Menschen in sich selbst verkrümmenden Macht nicht das letzte Wort zu lassen. Die Philosophin Martha C. Nussbaum schreibt in ihrem Buch «Das Königreich der Angst», die Angst sei «asozial»,4 ja, «narzisstisch. Sie vertreibt alle Gedanken an andere, selbst wenn diese bereits in irgendeiner Form in uns verwurzelt sind».5 Noch einmal anders formuliert: «Angst ist das Gefühl eines absoluten Monarchen».6 Es ist wahr: Auch wenn mehrere Menschen dieselbe Angst teilen können und auch wenn es Angst um andere gibt, ist Angst doch zumeist eine Empfindung des Für-sich-selbst-Sorgens.

Dieser Dimension von Angst muss eine christliche Existenz ihr Veto entgegensetzen – selbst wenn sich dieses Veto auf eine bloße Willensverfügung beschränkt, die gegenüber dem konkreten, subjektiven Erleben von Angst unwirksam bleibt, die es aber doch in einen neuen Rahmen stellen kann, indem sie es in aller Schwäche Gott hinhält. So ist es gemeint, wenn dem christlichen Verdikt über die Angst der Charakter eines kontrafaktischen Aufbegehrens gegen die Tatsache der Angst zugeschrieben wurde: Auch eine Haltung tiefer christlicher Frömmigkeit vermag das Phänomen der Angst nicht einfach loszuwerden. Aber sie muss sich einem stillschweigenden Einstimmen in die Angst ebenso verweigern wie einem Nachgeben in das Gefälle der Angst zur Egozentrik hin. Und das bedeutet auch, dass sie sich «jenem fiebernden Problematisieren der modernen Seele»(9) entziehen, sich zumindest zu entziehen versuchen muss, weil der Habitus schrankenlosen Hinterfragens («Und wenn es doch nicht stimmt?») eine zersetzende Wirkung hat. Auf jede zwischenmenschliche Beziehungsrealität wirkt ständiges Misstrauen zerstörerisch – für die Gottesbeziehung gilt das nicht weniger. Und so bleibt schließlich doch nur von Balthasars Ruf in den Sprung: Sich selbst mit allen Verstrickungen, Aussichtslosigkeiten und Schwächen ohne Sicherungsleine ins göttliche Dunkel zu werfen, auch und gerade in der Angst. Nicht, weil die Angst dann enden würde. Aber im Vertrauen darauf, dass sie dann verwandelt wird.

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