Vorsicht vor Modevokabeln!Warum wir nicht von "reproduktiver Gerechtigkeit" sprechen sollten

Neuerdings ist auch in der katholischen Theologie von "reproduktiver Gerechtigkeit" die Rede, etwa an der Universität Graz. Der Begriff ist nicht unschuldig, sondern Ausdruck einer politischen Agenda. Dabei wird die Schutzbedürftigkeit bestimmter Personengruppen gezielt ausgeblendet: der ungeborenen wie der geborenen Kinder sowie der von Ausbeutung betroffenen Frauen auf dem internationalen Reproduktionsmarkt.

Eizelle
© Pixabay

Der Begriff der "Gerechtigkeit" gehört zu den strapaziertesten Kategorien unserer Moralsprache. Wer ein bestimmtes Interesse hat, scheint in der politischen Alltagsrhetorik gut beraten, dieses als Gerechtigkeitsproblem darzustellen. Denn wer sich ungerecht behandelt fühlt und dies lautstark beklagt, dem winken – sofern er medial gut vernetzt ist – öffentliche Aufmerksamkeit und politische Unterstützung.

Das muss nicht immer schlecht sein. Die gerechtigkeitsethische Problematisierung eines objektiv unzulänglichen Zustands kann gerade politisch schlecht organisierten Personengruppen helfen, ihren berechtigten Anliegen besser Gehör zu verschaffen. Es gibt aber auch Konstellationen, in denen der Gerechtigkeitsbegriff gezielt dazu missbraucht wird, komplexe Phänomene so zu verzeichnen, dass dadurch gerade nicht die Rechte aller Betroffenen fair zur Geltung gebracht werden. Statt um einen gerechten Ausgleich zwischen womöglich konkurrierenden Rechtsgütern geht es dann um die unzulässige Privilegierung der partikularen Interessen einer bestimmten Gruppe.

Der semantische Trick besteht darin, eine Problembeschreibung komplexer reproduktiver Vorgänge zu erzeugen, in der insbesondere die Existenz und die besondere Schutzbedürftigkeit ungeborener Personen gar nicht mehr vorkommen.

Genau das ist der Fall bei der Rede von der "reproduktiven Gerechtigkeit", die ebenso wie die verwandten Begriffe der "reproduktiven Autonomie" und der "reproduktiven Selbstbestimmung" längst zu politischen Code-Wörtern dafür geworden sind, die derzeit bestehenden rechtlichen Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs und des Zugangs zu verschiedenen Angeboten der Fortpflanzungsmedizin so zu verändern, dass dabei vor allem der Lebensschutz immer weiter an den Rand gedrängt wird.

Der semantische Trick besteht darin, eine Problembeschreibung komplexer reproduktiver Vorgänge zu erzeugen, in der insbesondere die Existenz und die besondere Schutzbedürftigkeit ungeborener Personen gar nicht mehr vorkommen. Die Problemverengung wird dabei so weit vorangetrieben, dass der Eindruck entsteht, die einzige moralische Herausforderung bestehe darin, derzeit noch bestehende Grenzen des Zugangs zu reproduktionsmedizinischen Techniken endlich zu überwinden.

Bei den Ausdrücken "reproduktive Gerechtigkeit" und "reproduktive Autonomie" handelt es sich keineswegs um neutrale und daher philosophisch unschuldige Konstrukte zur Analyse komplexer Phänomene, sondern um politische Kampfbegriffe, denen eine ganz bestimmte Agenda eingeschrieben ist. Ein kurzer Blick auf ein Lieblingsprojekt der Ampel-Regierung in Berlin kann dies bestätigen. So muss man muss kein Prophet sein, um die Ergebnisse der von der amtierenden Bundesministerin für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, Lisa Paus, in beispielloser Einseitigkeit besetzten Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin zu erahnen, zumal das politisch angesteuerte Ziel einer Legalisierung etwa der sogenannten Eizellspende sowie der möglichst ersatzlosen Streichung des §218 StGB bereits im Vorfeld in aller Deutlichkeit kommuniziert worden ist.

Eine unheilige Allianz

Obwohl die Zusammenführung einander ergänzender partikularer Interessen – in diesem Fall der unheiligen Allianz zwischen den finanziellen Begehrlichkeiten einer expandierenden Reproduktionsmedizin und der emanzipativen Belange des politischen Feminismus – im Raum der Politik nicht ungewöhnlich ist, mutet es doch äußerst befremdlich an, wenn man ausgerechnet in diesem politischen Umfeld auf ein bevorstehendes universitäres Symposium zum Thema "Reproduktive Gerechtigkeit im Rahmen von Queer und Trans*Reproduktion mit Assistierten Reproduktionstechnologien (ART)" stößt, das zu allem Überfluss auch noch von der Leiterin des Instituts für Moraltheologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz – der auf Public-Health-Fragen spezialisierten Philosophin Martina Schmidhuber – verantwortet wird.

Zwar weist die Projektbeschreibung zu Recht darauf hin, dass es sich bei der "reproduktiven Gerechtigkeit" um ein anti-essentialistisches, intersektionales politisches Programm und auch eine aktivistische Bewegung handelt, doch deutet nichts darauf hin, dass sich die Protagonisten der Veranstaltung in ein kritisch-reflexives Verhältnis zu den nicht nur philosophisch, sondern auch medizinethisch hochgradig umstrittenen Positionen dieser Bewegung setzen. Im Gegenteil: Die inhaltliche Zuspitzung lässt vermuten, dass es hier vielmehr um die Ausweitung der aus feministischen Debattenbeiträgen der letzten Jahrzehnte hinlänglich bekannten Positionen auf die besonderen Interessen von "queeren" und "transgeschlechtlichen" Personen gehen wird.

Man könnte derartige Veranstaltungen einfach auf sich beruhen lassen, wenn sie nicht so symptomatisch für eine grundsätzliche Problematik des aktuellen Umgangs kirchlicher Einrichtungen mit sexuellen Minderheiten wären. Das Problem besteht weniger in der einseitigen Fokussierung mancher Fachvertreter auf die speziellen Belange zahlenmäßig kleiner Kollektive, deren Angehörige infolge besonderer somatischer, psychischer oder sozialer Gegebenheiten spezifische Bedürfnisse und Vulnerabilitäten aufweisen, sondern vielmehr darin, wie unkritisch dabei mit den teilweise hochgradig ideologischen Selbst-Stilisierungen der Betroffenen umgegangen wird.

Da bereits ein oberflächlicher Blick in die kontroversen fachwissenschaftlichen Debatten insbesondere um das Phänomen der Transgeschlechtlichkeit zeigt, dass hier noch viele medizinische, psychiatrisch-psychologische, anthropologische und ethische Einzelfragen offen sind, kann es eine theologische Auseinandersetzung mit dieser vielschichtigen Problematik nicht dabei bewenden lassen, sich einfachhin auf einen vermeintlich gesicherten "Wissensstand der modernen (Sexual-)Wissenschaft" zu berufen, den es in dieser Eindeutigkeit nicht gibt, und sich ansonsten unkritisch zum Sprachrohr der Wünsche von Aktivisten machen.

Reproduktionsmedizin und Diskussionskultur

Gerade das sensible Thema der Reproduktion und des Zugangs zu verschiedenen reproduktionsmedizinischen Techniken, der in einem solidargemeinschaftlich finanzierten Gesundheitssystem neben individual- auch umfangreiche sozialethische Reflexionen erfordert, gebietet wenigstens zweierlei: zum einen eine angemessene Berücksichtigung des Kindswohls und zum anderen eine kritische Analyse des internationalen "Reproduktionsmarktes", der nicht nur bezüglich des kommerziellen Handelns mit Keimzellen, sondern mehr noch im Bereich der Organisation und Vermittlung der sogenannten Leihmutterschaft von massiven sozio-ökonomischen Asymmetrien sowie regelrechten Ausbeutungsphänomenen gekennzeichnet ist.

Da die Gender- und Reproduktionsmedizin insgesamt derzeit gesamtgesellschaftlich zu den am stärksten polarisierenden Sektoren unseres medizinischen Versorgungssystems gehört, sollte sich der dringend notwendige akademische Begleitdiskurs nicht nur um eine inhaltliche Ausgewogenheit der Problemdarstellung und die faire Repräsentanz verschiedener Stakeholder bemühen, sondern auch eine sprachliche Sensibilität erkennen lassen, die der Versuchung widersteht, durch die Übernahme modisch klingender Vokabeln einer ohnehin schon weit fortgeschrittenen ideologischen Polarisierung weiter Vorschub zu leisten.

Insofern ist es zu begrüßen, dass der Deutsche Ethikrat am 24. April 2024 ein Forum Bioethik zum Thema Reproduktionsmedizin und Diskussionskultur ausrichtet, das den längst überfälligen Versuch unternimmt, durch die Analyse der Polarisierungsdynamiken auf diesem ebenso wichtigen wie belasteten Handlungsfeld einen Beitrag zur Versachlichung zu leisten.

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