"Der Westen ignoriert die Not der Christen"Patriarch Younan spricht vor der Papstwahl über die Lage in Syrien und die Zukunft der Kirchen im Nahen Osten

Vor dem Konklave mahnt Patriarch Ignatius Joseph III. Younan: Im Nahen Osten drohen die ältesten christlichen Gemeinden zu verschwinden. Vom nächsten Papst erwartet er mehr als Dialog – er fordert mutige Taten gegen Gleichgültigkeit und politisches Kalkül.

Ignatius Joseph III. Younan
© Andrea Krogmann/KNA

Marco Gallina: Sie haben das Pontifikat von Papst Franziskus aus der Perspektive einer Gemeinde erfahren, die häufig unter Druck steht. Welche Spuren hat dieses Pontifikat bei den Gläubigen in der Wiege des Christentums hinterlassen?

Ignatius Younan: Mit dem Tod von Papst Franziskus haben die Ostkirchen, die Weltkirche und die gesamte Welt einen barmherzigen Vater, einen Helden des Friedens und einen Anführer brüderlicher Menschlichkeit verloren. Die apostolischen Kirchen des Nahen Ostens – seit Jahrhunderten unterdrückt und diskriminiert – blieben häufig der Gleichgültigkeit eines Großteils der lateinischen Kirche ausgesetzt, die sich mit der Weltkirche zu identifizieren sucht. Sie hofften einst, dass Papst Franziskus sich aktiv für ihr Überleben in ihren Heimatländern einsetzen würde, insbesondere während seines offiziellen Pastoralbesuchs im Irak. Die Ostkirchen waren frustriert und fühlten sich vom Vergessen bedroht, während innerhalb der Weltkirche viele Worte über Synodalität verloren wurden! Wir hoffen, dass der neue Nachfolger Petri die Versprechen von Papst Franziskus erfüllen wird.

Papst Franziskus zeigte sich tief besorgt

Gallina: Sie hatten noch im Jahr 2024 die Gelegenheit zu einer persönlichen Begegnung mit Papst Franziskus. Wenn Sie an Franziskus zurückdenken – welche Eindrücke hat er bei Ihnen hinterlassen?

Younan: Papst Franziskus zeigte sich tief besorgt über die katastrophale Sicherheitslage und die existenziellen Bedrohungen, denen Christen und nichtmuslimische Minderheiten im Nahen Osten ausgesetzt sind. Unsere syrisch-katholische Kirche – eine der kleinsten Kirchen sui juris – war am stärksten von Ermordungen, Zerstörungen und der Vertreibung Tausender Gläubiger im Irak und in Syrien betroffen. Der Papst befürchtete ernsthaft, dass unser Überleben in unseren Heimatländern auf dem Spiel stand.

Gallina: Hat der Heilige Stuhl genügend getan? Das auch in Hinblick auf die muslimischen Machthaber und die muslimische Mehrheitsgesellschaft, die bekanntlich Andersgläubige nicht immer als gleichberechtigt betrachten.

Younan: Der Heilige Stuhl rief die internationalen Regierungen zweifellos immer wieder dazu auf, sich ernsthaft für den Schutz der Christen und aller seit Jahrtausenden im Nahen Osten lebenden Minderheiten einzusetzen. Das Hauptproblem bestand und besteht darin, dass es äußerst schwierig ist, Muslime weltweit dazu zu bewegen, ein religiöses Verständnis zu übernehmen und zu leben, das auf Respekt gegenüber allen Menschen gründet – so wie es der barmherzige Gott von uns fordert.

Gallina: Nach Jahren des Konflikts hat sich die Lage in Syrien zwar politisch und militärisch verändert, doch von einem echten Frieden kann kaum die Rede sein. Viele westliche Beobachter haben den Sturz der alten Ordnung begrüßt, ohne die langfristigen Folgen für die Zivilbevölkerung zu bedenken. Wie erleben Sie die Lage der Menschen vor Ort heute – auch und besonders in Syrien?

Younan: Es scheint, als hätten die Länder des Westens kein anderes Interesse, als mit den herrschenden Regimen der Mehrheitsgesellschaft befreundet zu sein und sie nach Kräften zu unterstützen. Aus politischen Gründen ignorieren sie oft das Überleben von Minderheiten, insbesondere der Christen, die die Ureinwohner ihrer Länder im Nahen Osten sind. Die reaktive Haltung der meisten westlichen Politiker gegenüber dem neuen Regime in Syrien erklärt sich vor allem durch die politisch korrekte Sprache ihrer Medien, welche die Einwanderungsprobleme in ihren Ländern größtenteils den ehemaligen Herrschern Syriens zuschreiben. Wir hoffen aufrichtig, dass das neu etablierte Regime in Syrien aktiv auf die Wiedervereinigung aller seiner Bürger im Geiste der Versöhnung und des Friedens hinarbeitet.

Gallina: Im Januar 2021 haben Sie einen Appell gegen die Sanktionen der Biden-Administration unterzeichnet. Washington blieb hart. Waren die letzten Jahre "verlorene Jahre", weil sie das Leid der Zivilbevölkerung nur verstärkten, statt politische Wirkung zu entfalten? Auch westliche Medien bringen die Sanktionen kaum in Zusammenhang mit dem Umsturz in Damaskus.

Younan: Es ist allgemein anerkannt, dass internationale Sanktionen gegen jedes Regime in erster Linie der Zivilbevölkerung des Landes schaden. Christen in Syrien litten schwer unter den jahrelangen Sanktionen gegen ihr Land. Diese verschärften die schreckliche Gewalt des Religionskriegs und führten zur Entwurzelung tausender christlicher Familien. Natürlich betraf das Chaos auch andere Bürger aller Religionen und Konfessionen. Dies hatte jedoch verheerende Folgen für die Zahl der Christen, die stetig sank – insbesondere unter jungen Menschen. Diese Tragödie wurde von den Politikern säkularisierter westlicher Regime, die sich als Verteidiger der Freiheit und Unterstützer unterdrückter Völker ausgaben, schlicht ignoriert.

"Es ist zweifelhaft, ob die meisten westlichen Politiker am Überleben der Christen im Nahen Osten interessiert sind. Sie sind vielmehr darauf bedacht, den Herrschern der Mehrheit nachzugeben, um glaubwürdige Lösungen für die bedrohliche Präsenz des politischen Islam in ihren Ländern zu finden."

Gallina: Haben Sie in den vergangenen vier Jahren eine Veränderung in den Bemühungen des Westens wahrgenommen, die Lage vor Ort zu verbessern?

Younan: Es ist zweifelhaft, ob die meisten westlichen Politiker am Überleben der Christen im Nahen Osten interessiert sind. Sie sind vielmehr darauf bedacht, den Herrschern der Mehrheit nachzugeben, um glaubwürdige Lösungen für die bedrohliche Präsenz des politischen Islam in ihren Ländern zu finden.

Gallina: Einmal umgekehrt gefragt: Was könnte der Westen aus den Erfahrungen der Menschen lernen, die in dieser Region leben?

Younan: Christen weltweit, insbesondere im Nahen Osten, bemühen sich, Jesus, ihrem göttlichen Lehrer, nachzufolgen, wahre Friedensstifter zu sein und Gewalt zu vermeiden. Doch sie werden von der säkularen Welt verspottet, die ihre Haltung als Zeichen der Schwäche und nicht als Ausdruck von Widerstandsfähigkeit betrachtet.

"Christen brauchen echte politische und moralische Unterstützung, um in Menschenwürde und christlicher Freiheit leben zu können."

Gallina: Was sehen Sie, abgesehen von humanitären Problemen, derzeit als die größte Gefahr in der Region und explizit in Syrien an?

Younan: Ich muss Ihnen sagen: Um in Syrien und im gesamten Nahen Osten überleben zu können, mussten Christen auf Gott, ihren himmlischen Vater, und auf sich selbst vertrauen – besonders in den schlimmsten Situationen von Armut, Unterdrückung und Entwurzelung. Es ist verständlich, dass sie aufgrund von Kriegen und wirtschaftlicher Krisen in Not und Armut gerieten und die Hilfe christlicher Organisationen benötigten, um zu überleben und ihre Wurzeln, ihre Kirchen und Institutionen zu bewahren. Vor allem brauchen Christen echte politische und moralische Unterstützung, um in Menschenwürde und christlicher Freiheit leben zu können.

Gallina: Welche Rollen nehmen die verschiedenen Nachbarstaaten Syriens ein? Man hat den Eindruck, die Türkei und Israel sehen den libanesisch-syrischen Raum mittlerweile als Vorhof.

Younan: Es ist bekannt, dass die schnellen Veränderungen in Syrien ohne die militärische Hilfe einiger Nachbarländer und ausländischer Milizen nicht möglich gewesen wären. Wir müssen weiterhin für Syrien und insbesondere für alle seine Minderheiten, einschließlich der Christen, beten, die in Zukunft noch turbulentere Situationen befürchten.

Ehrlichkeit im Dialog

Gallina: Welche diplomatischen oder spirituellen Schritte würden Sie sich vom nächsten Papst gegenüber den islamischen Mehrheitsgesellschaften des Nahen Ostens wünschen?

Younan: Wir brauchen eine klare Sprache der Wahrheit mit Liebe. Das bedeutet, Muslime daran zu erinnern, dass für den Aufbau einer friedvollen Welt alle Menschen Herzlichkeit und gegenseitige Toleranz brauchen, um einen lebenswerten Planeten für alle zu schaffen – nicht nur für die Anhänger ihrer Religion. Es ist wichtig, einige Worte aus der Rede des ägyptischen Präsidenten Al-Sisi in Erinnerung zu rufen: "Um den religiösen Diskurs zu erneuern", sagte er am Montag, dem 21. April, "brauchen wir aufgeklärte Muftis, die die Herausforderungen kennen … die in der Lage sind, das Gute zu wahren, Barmherzigkeit zu verbreiten und Botschafter des Friedens in der Welt zu sein."

Gallina: Ignorieren Muslime das Konklave, oder weckt der Vorgang auch bei ihnen Interesse?

Younan: Ich hoffe, unsere muslimischen Freunde sind an den Ergebnissen des bevorstehenden Konklaves interessiert. Viele von ihnen fühlen sich vom christlichen Glauben herausgefordert. Sie brauchen eine effektivere Beziehung, die auf echtem Dialog basiert – nicht auf Monolog, wie es bei religiösen Versammlungen üblich ist. Wahre Muslime glauben an einen aufrichtigen Dialog mit Christen, die ihnen mit Respekt und Mitgefühl die Wahrheit sagen.

"Ich bitte den neuen Papst, den katholischen Ostkirchen beim Überleben zu helfen, indem er ihnen erlaubt, ihre Herde in Europa zu hüten – so wie die lateinische Kirche das Recht hat, ihre Diözesen im Nahen Osten zu errichten."

Gallina: Wenn Sie dem neuen Papst einen einzigen Wunsch oder Rat mit auf den Weg geben dürften – was wäre es?

Younan: Ich möchte dem neuen Papst zwei Anliegen mitteilen: Erstens, die Heiligkeit der Familie, die auf einem Mann und einer Frau, einem Vater und einer Mutter, gründet und mit Gott, dem Allmächtigen, das wunderbare Geschenk des Lebens teilt, klar zu vertreten. Kinder sind keine Spielzeuge für Erwachsene; sie haben das Recht, in einer Familie mit Vater und Mutter aufzuwachsen. Mein zweiter Wunsch ist es, den neuen Papst zu bitten, den katholischen Ostkirchen beim Überleben zu helfen, indem er ihnen erlaubt, ihre Herde in Europa zu hüten – so wie die lateinische Kirche das Recht hat, ihre Diözesen im Nahen Osten zu errichten. Dieser zweite Wunsch wäre ein Ausdruck wahrer Synodalität in der Universalkirche.

"Die Wiege des Christentums droht zu verschwinden."

Gallina: Christliche Medien beklagen immer wieder die Verfolgung und den Niedergang, wenn nicht gar das Verschwinden der ältesten Gemeinden der Welt. Wie ernst ist die Lage tatsächlich?

Younan: Was die christlichen Medien über den Niedergang des christlichen Glaubens im Nahen Osten berichten, ist wahr und stellt eine reale Bedrohung dar. Wir fühlen uns im Stich gelassen von den westlichen Ländern, die tief im Säkularismus und Materialismus gefangen sind und sich über die muslimische Einwanderung Sorgen machen. Tatsächlich droht die Wiege des Christentums zu verschwinden. Dies wäre – Gott bewahre – nicht nur ein Verlust für die Länder des Ostens, sondern für die Weltkirche und die Kultur der Menschheit selbst.

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