"Wir verurteilen das System der Apartheid, das Israel dem palästinensischen Volk auferlegt." Mit diesem Satz greift der Zentralausschuss des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) eine Debatte auf, die bereits bei der Vollversammlung des Weltkirchenrats in Karlsruhe 2022 eine Rolle gespielt hatte. Während man vor drei Jahren noch auf diesen Begriff verzichtete, entschied man sich nun dafür, ihn zu verwenden, um die Politik Israels in Gaza zu kritisieren.
"Das liegt in dem Erschrecken über das unermessliche Leid begründet, das die Bombardements der israelischen Armee im Gazastreifen angerichtet haben und das durch keine noch so legitime Selbstverteidigung mehr zu rechtfertigen ist", begründete der Vorsitzende des ÖRK-Zentralausschusses, der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, diese Entscheidung. Gleichzeitig wies er auf offene Diskussionen und Randunschärfen bei der Übertragung des Begriffs hin: "Ein von einem nach wie vor unfassbaren Völkermord traumatisiertes Volk, das nach aller Verfolgung endlich einen Ort findet, wo es sicher leben kann, lässt sich nicht einfach gleichsetzen mit den weißen Kolonialisten, die das System der Apartheid in Südafrika errichtet haben."
Bedford-Strohm ist nicht nur ein differenziert argumentierender Theologe, sondern im jüdisch-christlichen Dialog engagiert. Als Ratsvorsitzender nahm er regelmäßig an den Gesprächen der liberalen und orthodoxen Rabbinerkonferenzen mit Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland teil. Dass ein Bischof vom Format Bedford-Strohms die Begriffsverwendung "Apartheid" verteidigt, ist deshalb ein Statement und ein Signal.
In der Definition eines israelbezogenen Antisemitismus durch das International Holocaust Remembrance Alliance gilt der sogenannte 3 D-Test als Marker: Dämonisierung Israels, Brandmarkung als Apartheidssystem und eine Politik doppelter Standards: "Eine Aussage ist antisemitisch, wenn an den Staat Israel andere Maßstäbe angelegt werden als an andere demokratische Staaten." Die Reaktion der Europäischen Rabbinerkonferenz griff diesen Aspekt auf und kritisierte nicht zuletzt die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche im Weltkirchenrat.
In Debatten um das völkerrechtlich indizierte Vorgehen Israels in Gaza taucht der Begriff "Apartheid" immer wieder auf. Postkoloniale Theoretiker verwenden ihn, was 2020 eine öffentliche Auseinandersetzung um den aus Kamerun stammenden Philosophen Achille Mbembe auslöste. Markant: Der Antisemitismusbeauftragte der deutschen Bundesregierung, Felix Klein, und der Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, Andreas Görgen, lieferten sich damals eine öffentliche Auseinandersetzung um Mbembes Position, der die Eröffnungsrede der Ruhrtriennale 2020 halten sollte und ausgeladen wurde. Mbembe versteht sich nicht als Antisemit, stellt nach eigener Auskunft auch nicht das Existenzrecht Israels infrage, hatte aber keine Bedenken, das Vorwort zu einem Buch mit dem Titel "Apartheid Israel" beizusteuern, dessen Erlös an eine BDS-Gruppe ging. Dass auch in Israel selbst das Konzept kritisch gegen die Netanjahu-Regierung eingesetzt wird, macht deutlich, in welche Untiefen es führt.
Das hängt entscheidend mit der rassistischen Politik des südafrikanischen Apartheidsregimes und der systematisch organisierten Rassentrennung zusammen, die über ein biologistisches Konzept "weißer" Vorherrschaft begründet wurde. Räumliche Abtrennung setzte die umfassend wirksame gesellschaftliche Unterdrückung der als "schwarz" definierten Mehrheitsbevölkerung um. Diesen Aspekt nimmt Apartheids-Kritik an Israel in den Blick, schließlich zielen Teile der extremen Rechten in Israel und in der regierenden Koalition auf eine Vertreibung der Palästinenser in Gaza. Der obskure Gaza-Plan des US-Präsidenten Trump spielt ihnen dabei in die Hände.
Im Hintergrund stehen allerdings keine rassistischen, sondern nationalreligiöse Begründungsmuster – mit menschenrechtlichen und humanitären Folgen, die von der internationalen Politik zunehmend schärfer kritisiert werden. Völkerrechtlich steht das Verteidigungsrecht Israels nach dem genozidalen Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 außer Frage. Dass aber Hilfsgüter und medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung in Gaza von Israel unterbunden und Krankenhäuser zum Teil militärisch attackiert werden, dass es konkrete Verdachtsfälle von Kriegsverbrechen gibt, löst mehr als nur Bedenken aus. Die Sorge um die Menschen in Gaza steht deshalb im Fokus der Stellungnahme des Weltkirchenrats.
Differenzierungsschärfe und Sensibilität sind gerade von den Kirchen gefordert, die sich der historischen Verantwortung für christlichen Antijudaismus nicht entziehen dürfen. Das bedeutet nicht, dass sie sich der Kritik an konkreter Politik Israels enthalten müssten.
Wer freilich den Begriff Apartheid auf Israel anwendet, begibt sich mit seiner politischen Semantik in die Nähe zu Aktionsgruppen wie Boycott, Divestment and Sanctions (BDS). Differenzierungsschärfe und Sensibilität sind gerade von den Kirchen gefordert, die sich der historischen Verantwortung für christlichen Antijudaismus nicht entziehen dürfen. Das bedeutet nicht, dass sie sich der Kritik an konkreter Politik Israels enthalten müssten. Die auch von Bedford-Strohm angesprochenen Unterschiede in der Begriffsübertragung hinterlassen aber die Frage, welchen Gewinn die Analogiebildung eines israelischen Apartheidssystems verspricht.
Sprachliche Eskalation trifft Juden weltweit
Sprachliche Eskalation in Zeiten des Krieges ist für Christen eine zweifelhafte Option. Die humanitär bestimmte Perspektive des Weltkirchenrats auf das Leid der Menschen in Gaza verlangt angesichts der komplexen historischen wie politischen Situation präzisere Analyseformate. Israel steht mit der Hamas einer Terrororganisation gegenüber, die im Verbund mit Hisbollah, Huthi-Milizen und Iran auf die Vernichtung nicht nur des Staates, sondern jüdischen Lebens zielt. Wo die Grenzen militärischer Intervention zu ziehen sind, muss vor diesem Hintergrund diskutiert werden. Gleichzeitig muss Israel sich die Frage stellen lassen, was die Siedlerbewegung und die innenpolitische Situation für palästinensisch-stämmige Israelis bedeutet und welche Zukunftsperspektiven für die Menschen in Gaza und die Palästinenser bestehen.
In diesem hoch gespannten Feld vereinfachen Zuschreibungen wie Apartheid, was auch in Israel hochumstritten und umkämpft ist. Semantische Klassifizierungen stellen Festlegungen dar, die im Fall des Apartheid-Begriffs mit moralisch fest verfugten Zuordnungen arbeiten. Sie haben politische Konsequenzen, weil sie mit Freund-Feind-Unterscheidungen assoziiert sind und neue Ausschließungen schaffen. Sie treffen mehr als nur das Netanjahu-Regime – sie erreichen Juden weltweit. Das muss im Blick haben, wer aus christlichem Gedächtnis um antisemitische Dynamiken weiß.