Menschenwürde im Austausch von Philosophie, Theologie und RechtEine kleine Begriffsgeschichte

Was Menschenwürde ist, wird weder in der deutschen Verfassung noch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte definiert. Genau diese Zurückhaltung ist die Pointe. Der Begriff verbindet Politik und Recht mit Ethik und Kultur, auch mit Religion. Papst Johannes XXIII. setzte mit seiner Enzyklika "Pacem in terris" 1963 neue Akzente im kirchlichen Verständnis. Heute kommt es darauf an, dass die Menschenwürde nicht nur von der Kirche, sondern auch in der Kirche anerkannt wird.

Raffael (1483-1520): Justitia
© gemeinfrei / Wikimedia Commons. Raffael (1483-1520): Justitia

Worin besteht die Würde des Menschen? Wem steht sie zu? Und wie wirkt sie sich aus? Wo über den Anfang und das Ende des Lebens gesprochen wird, über die Begründung von Menschenrechten und über Schutzpflichten des Staates, braucht es klare Antworten. Sie finden sich im Austausch zwischen Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaften.

Cicero (106-43 v. Chr.) hat den Würde-Begriff ethisch bestimmt. Er kennt die älteren Vorstellungen, die "Würde" (dignitas) als "Ansehen" verstehen. Aber er dringt zur Einsicht vor, dass die Würde eines Menschen nicht in seinem Prestige besteht, sondern in seiner "Natur" liegt. Durch seinen Verstand und sein Ethos unterscheidet er sich von den Tieren:  "Wenn wir darüber nachdenken wollen, welche Vortrefflichkeit und Würde in unserer Natur liegen (quae sit in natura excellentia et dignitas), werden wir verstehen, wie schändlich (turpe) es ist, im Luxus zu schwelgen und verzärtelt und verweichlicht zu leben, und wie ehrenvoll (honestum) es ist, sparsam, enthaltsam, streng und nüchtern zu sein" (De officiis I 106).

"Würde" ist nicht "Ehre" – "Würde" begründet "Ehre". "Würde" entspricht dem Menschsein, der humanitas, "Ehre" (honor) ist Respekt, Anerkennung, Bejahung. "Ehre" legt man bei anderen Menschen ein; Würde kommt einem Menschen selbst zu. Zwar kann ein Mensch würdelos leben; dann widerspricht er aber seinem Menschsein: seiner Fähigkeit, die Gier zu beherrschen. Desto wichtiger ist es, der eigenen Würde innezuwerden und ihr entsprechend zu leben.

Diese ethische Prägung ist für die Sinnkarriere des Begriffs fundamental. Sie hat aber eine Schattenseite: Was ist mit Menschen, die nicht bei Verstand sind und kein Gewissen haben? Sind sie nicht Menschen? Haben sie keine Würde?

Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild: "Würde" ist die Güte Gottes, die jeder Mensch empfangen hat – und ausstrahlt, wenn er seiner Berufung zum Menschsein entspricht, also auch den anderen Menschen, mit denen er zu tun hat, sagt: Es ist gut, dass es dich gibt.

Die antike Theologie findet eine Antwort auf diese Frage. Der Begriff der "Würde" steht allerdings nicht in der Bibel. Weder auf Hebräisch noch auf Griechisch lässt sich ein genaues Äquivalent zu dignitas finden. Aber die Fähigkeit, sich auf den Dialog mit der Philosophie einzulassen, hat die lateinische Kirche zum Begriff der dignitas geführt und der "Würde" eine neue Bedeutung verliehen.

Leo der Große (400-461) predigt zu Weihnachten: "Wach auf, o Mensch, und erkenne die Würde deiner Natur (et dignitatem tuae agnosce naturae). Erinnere dich, dass du zum Bild Gottes geschaffen wurdest, das, obwohl in Adam verdorben (corrupta), in Christus erneuert (reformata) worden ist" (Sermo 27,6).

Cicero hat den Unterschied der Menschen zu den Tieren stark gemacht, Leo die Verbundenheit der Menschen mit Gott. Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild: "Würde" ist die Güte Gottes, die jeder Mensch empfangen hat – und ausstrahlt, wenn er seiner Berufung zum Menschsein entspricht, also auch den anderen Menschen, mit denen er zu tun hat, sagt: Es ist gut, dass es dich gibt.

Ein Gott, ein Schöpfer und Erlöser

Diese theologische Bestimmung hat eine dreifache Wirkung. Erstens: Weil es nur einen Gott gibt, den Schöpfer und Erlöser, haben alle Menschen "Würde"; denn alle sind seine Geschöpfe. Ihre Würde ist nicht in ihrem Bewusstsein, ihrem Verhalten, ihrem Glauben, ihrer Herkunft begründet, sondern in ihrer "Natur": Sie sind Kinder Gottes. Zweitens: Religion ist nicht kulturell vorgegeben, als pietas, sondern personal geprägt, als Glaube – und der Glaube ist die Erkenntnisquelle für die "Würde", die der "Natur" des Menschen innewohnt. Die Religionsfreiheit hängt von dieser Einsicht ab. Drittens: Durch moralisches Fehlverhalten verlieren Menschen ihre Würde nicht, aber ihre "Natur" wird korrumpiert, weil sie ihr eigenes Menschsein und das der anderen nicht anerkennen, sondern verleugnen. Der Begriff der "Würde" bleibt ethisch relevant, markiert aber den Unterschied zwischen dem, was der Mensch ist, und dem, was er tut und erleidet.

Wer im Glauben Weihnachten feiert, weiß, dass die Menschen, auch wenn sie sündigen, nicht zur Verdammung, sondern zur Erlösung bestimmt sind. Diesen weiten Blick verstellt sich die christliche Theologie, wenn sie von der Macht der Sünde so redet, dass sie die Güte der Schöpfung vergiftet, und von der Gnade der Befreiung so, dass sie die Hoffnung auf Erlösung und die Erfahrung des Heiles nicht positiv, sondern exklusiv an den Glauben bindet. Wenn sie diese Verengung überwindet, bleibt die Theologie für die Philosophie, für Politik und Recht relevant.

Jeder Mensch ist wertvoll

Die Neuzeit macht einerseits Anleihen bei der christlichen Überlieferung, weil sie in ihr eine große Offenheit für die Philosophie erkennt, und entwickelt andererseits philosophische Konzepte, die der Theologie zugänglich sind.

Samuel Pufendorf (1632-1694), einer der Begründer des Völkerrechts, definiert: "Der Mensch ist von höchster Würde, weil er eine Seele hat, die ausgezeichnet ist durch das Licht des Verstandes, durch die Fähigkeit, die Dinge zu beurteilen und sich frei zu entscheiden, und die sich in vielen Künsten auskennt" (De jure naturae et gentium, 1672, 2. Buch, 1. Kapitel, § 5). Pufendorf greift den Begriff der Seele auf, weil er theologisch und philosophisch gefüllt werden kann. Er verbindet Vernunft und Freiheit, weil er gegen eine seelenlose Gesellschaft die Menschlichkeit stärken will.

Immanuel Kant (1724-1804) zielt auf das Prinzip, dass kein Mensch Mittel zum Zweck werden darf, sondern jeder Mensch Selbstzweck ist. Zur Erläuterung differenziert er zwischen Preis und Wert: "Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was, auch ohne ein Bedürfnis vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d.i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemütskräfte, gemäß ist, einen Affektionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d.i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d.i. Würde" (Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten BA 77).

Indem er als Würde den unbezahlbaren "Wert" eines jeden Menschen feststellt, entspricht Kant einem Jesuswort, das in den Hoffnungsraum von Tod und Auferstehung gestellt ist, um die Kreuzesnachfolge als Weg zum Leben zu qualifizieren: "Wer sein Leben (psyché/anima) retten will, wird es verlieren. Wer aber sein Leben um meinet- und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten. Denn was nützt es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen, aber sein Leben einzubüßen? Denn was könnte ein Mensch als Gegenwert (antállagma/commutatio) für sein Leben geben?" (Mk 8,35-37).

Die Begründung im Evangelium ist eine allgemeine Lebensweisheit, nicht eine spezielle Offenbarung: "Nichts sind mir die Schätze gegen das Leben (psyché) wert (antáxios)", erklärt bei Homer der zürnende Achill, der sich in seiner Ehre verletzt sieht, und weist Odysseus zurück, der ihn mit der Aussicht auf Ruhm und Lohn von seinem Zorn abbringen will (Ilias 9,401).

Kant sieht die "Würde" des Menschen in seiner Fähigkeit zur sittlichen Autonomie. Sie wird oft als Gegensatz zur Theonomie betrachtet. Aber dieser Gegensatz kann nur dann aufgestellt werden, wenn die biblische Verheißung des Neuen Bundes ausgeblendet wird: dass Gottes Gebot nicht eine fremde Macht ist, die den Menschen versklavt, sondern die Selbstbestimmung jedes Menschenkindes, das sich seiner Berufung zur Gottesebenbildlichkeit bewusst wird.

Der "Wert" des Lebens, den das Neue Testament aufnimmt, um das Geheimnis des Glaubens zu erläutern, beschreibt bei Immanuel Kant die "Würde" des Menschen, der um seiner selbst willen anerkannt werden muss. "Wert" ist die moderne Übersetzung von dignitas – und bleibt eine Schnittstelle für die Anthropologie der Gottesebenbildlichkeit.

Kant sieht die "Würde" des Menschen in seiner Fähigkeit zur sittlichen Autonomie. Sie wird oft als Gegensatz zur Theonomie betrachtet. Aber dieser Gegensatz kann nur dann aufgestellt werden, wenn die biblische Verheißung des Neuen Bundes ausgeblendet wird: dass Gottes Gebot nicht eine fremde Macht ist, die den Menschen versklavt, sondern die Selbstbestimmung jedes Menschenkindes, das sich seiner Berufung zur Gottesebenbildlichkeit bewusst wird. Genau diese Verheißung ist es, die auf der Strecke vom Alten Testament (Jer 31,31-34) zum Neuen Testament (Joh 6,45; 1 Joh 2,27) die biblische Theologie der befreiten Freiheit prägt (Gal 5,1).

Das Lehramt hat die Aufgabe, dieser Verheißung Raum zu geben. Dies gelingt, wenn die "Würde" des Menschen anerkannt wird, nicht nur von der Kirche, sondern auch in der Kirche.

Leo XIII., der Pate der Christlichen Soziallehre, hat hundert Jahre nach der Französischen Revolution, die "Würde" des Menschen vom Gebrauch der Freiheit abhängig gemacht – und diesen Gebrauch unter den Vorbehalt gestellt, seine Sittlichkeit kirchlich beurteilen zu können (Libertas praestantissimum 1). Erst Johannes XXIII. hat 1963, an die Vereinten Nationen adressiert, die Vorzeichen umgestellt: Die "Würde" zeichnet den Menschen als "Person" aus, die Gott geschaffen hat; seine "Natur" ist "mit Vernunft und Willensfreiheit ausgestattet"; daraus folgen fundamentale Rechte und Pflichten (Pacem in terris 5). Die neueste Erklärung der Glaubenskongregation zur Menschenwürde, Dignitas infinita, will diese Linie weiter ausziehen, macht aber die Lehrentwicklung nicht klar und zitiert Pacem in terris nicht.

Nicht "Leerformel", sondern "Schleusenbegriff"

Erst seit dem Zweiten Weltkrieg wird die Menschenwürde zu einer Größe der Politik und des Rechts. Diese Platzierung nimmt die ethische Perspektive der Menschenwürde auf, bezieht sie aber nicht nur auf sittliche Pflichten, sondern auch auf politische Rechte. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, das Gründungsdokument der Vereinten Nationen, besagt in Absatz 1: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, beschlossen 1949, formuliert in Artikel 1 Absatz 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Was "Würde" ist, wird im einen wie im anderen Dokument nicht definiert – zu Recht, weil dem Staat und auch den Vereinen Nationen keine Definitionshoheit über das Menschsein zukommt. Genau diese Zurückhaltung ist die Pointe: und der Stein des Anstoßes. Die Menschenwürde ist in einer politischen Erklärung oder Verfassung keine "Leerformel" (Panajotis Kondylis), sondern ein "Schleusenbegriff" (Ernst-Wolfgang Böckenförde): Er verbindet Politik und Recht mit Ethik und Kultur, auch mit Religion. Die Menschenwürde ist ein Vorzeichen vor jedem positiven Recht. Im Grundgesetz entspricht sie dem Gottesbezug der Präambel. Sie ist der ethische Konstruktionspunkt, an der sich die Qualität von Gesetzen beurteilen lässt. Ungeborenen wird die Menschenwürde nur dann abgesprochen (Horst Dreier), wenn sie doch wieder an Eigenschaften wie Fähigkeiten festgemacht wird und nicht am Leben selbst.

Dieselbe Würde begründet freilich noch nicht dieselben Rechte. Die Grundrechte schützen sie zwar, aber ein inflationärer Rekurs auf die Menschenwürde schwächt sie (Angelika Nußberger). Weil sie ein so hohes Gut ist, muss sich der Staat in seiner Gesetzgebung und Rechtsprechung auf die besonders sensiblen Lebensfelder und -phasen beschränken. Welche dies sind, kann weder die Politik noch das Recht allein entscheiden. Es braucht den Austausch mit Philosophie und Theologie. Es braucht vor allem die Menschen, die sich für die Menschenwürde und die Menschenrechte einsetzen.

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