Jenseits von IllusionenÜber die Notwendigkeit aktiver Friedensbemühungen

Ist verstärkte nukleare Abschreckung die richtige Antwort auf die russische Aggression? Nein, meint Bischof Peter Kohlgraf. Mit der nuklearen Abschreckung riskieren wir mehr, als wir verantworten können. Dem Frieden dient das nicht.

Kampfjet im Einsatz
© pixabay

Am 13. Februar 2024 war in diesem Forum ein Beitrag von Andreas Lutsch zu lesen, in dem er die nukleare Aufrüstung als legitime und notwendige Konsequenz vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Bedrohungslage verteidigt und fordert. Er nennt säkulare Gründe und beruft sich gleichzeitig auf die theologische Lehre vom "gerechten Krieg". Dadurch könne die Aufrüstung auch durch die katholische Soziallehre gerechtfertigt sein.

Die Berufung auf diese Quelle der Tradition ist theologisch sehr selektiv, da die Päpste, katholischen Friedensethiker und das Zweite Vatikanische Konzil sich in dieser Frage deutlich breiter und differenzierter positioniert haben. Dabei sind sie zwar nicht den Weg eines radikalen Pazifismus' gegangen. Allerdings haben sie klare ethische Bedingungen formuliert, die bei Andreas Lutsch nicht zu finden sind. Die Lehre vom "gerechten Krieg" schien längst überwunden, die Theologie und das Lehramt suchten und suchen nach Wegen zu einem gerechten Frieden. Denn das Zweite Vatikanum betont schon, dass Frieden mehr sein müsse als das Schweigen der Waffen: "Der Friede besteht nicht darin, dass kein Krieg ist; er lässt sich auch nicht bloß durch das Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte sichern; er entspringt ferner nicht dem Machtgebot eines Starken; er heißt vielmehr mit Recht und eigentlich ein 'Werk der Gerechtigkeit' (Jes 32,17)" (GS 78).

Bisherige Gewissheiten auf dem Prüfstand

Es ist wahr, dass es aufgrund des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine und wiederholter Drohungen Russlands, einschließlich der Androhung des Einsatzes von Nuklearwaffen, zu einer neuen Eskalationsstufe gekommen ist, die in den letzten Jahrzehnten nicht (mehr) erreicht wurde. Dadurch sind Sicherheiten infrage gestellt, auch manche Sicherheiten innerhalb der katholischen Friedensbewegung. In der Friedensbewegung Pax Christi gibt es sowohl Vertreter einer pragmatischen ("Realos") als auch einer fundamentalistischen ("Fundis") Ausrichtung. Es ist wichtig, beide Seiten in der Diskussion zuzulassen. Es findet sich jedoch niemand, der die nukleare Aufrüstung ohne gleichzeitige aktive Friedensbemühungen als möglichen Weg zu einem echten und dauerhaften Frieden sieht.

Eine Welt ohne Waffen, eine Welt, in der Menschen allein durch Verhandlungen und Dialog Frieden schaffen, ist mehr denn je in weite Ferne gerückt. Die nukleare Aufrüstung kann trotz allem nicht als Grundlage des Friedens erklärt werden und findet keine Grundlage in den kirchlichen Lehrtexten.

Zur Bedrohung durch Russland kommen Bemerkungen des Präsidentschaftskandidaten der USA, Donald Trump, hinzu, der eine Unterstützung der europäischen NATO-Partner im Falle einer auch nuklearen Bedrohung durch Russland infrage stellt. In diesem Zusammenhang laufen Überlegungen zu einem eigenen europäischen nuklearen Schutzschirm. Eine Welt ohne Waffen, eine Welt, in der Menschen allein durch Verhandlungen und Dialog Frieden schaffen, ist mehr denn je in weite Ferne gerückt. Die nukleare Aufrüstung kann trotz allem nicht als Grundlage des Friedens erklärt werden und findet keine Grundlage in den kirchlichen Lehrtexten. Der Besitz von Atomwaffen wurde in päpstlichen Dokumenten immer als tolerierte Übergangslösung betrachtet. Es wurde betont, dass dieser Besitz nur solange tolerabel sei, wie er Verhandlungen zu einer gerechten Welt ohne diese Waffensysteme beflügelt. Diese Phase ist nun offenbar vorerst vorbei, so dass der katholische Grund ihrer vorläufigen Akzeptanz weggefallen ist.

Auch als Präsident der deutschen Sektion von Pax Christi verstehe ich, dass der Staat Wege finden muss, um die Bevölkerung zu schützen. Dass ein christliches Medium sich zum Vorreiter der Unterstützung einer derartigen "Konfliktlösung" macht, ist jedenfalls erstaunlich, steht sie doch damit allen kirchlichen Dokumenten der letzten Jahrzehnte entgegen.

In den staatlichen Debatten, die auf die Situation seit Konrad Adenauer zurückgreifen, ist bisher nur von nuklearer Teilhabe die Rede. Der Weg zu einer europäischen Atommacht ist bisher nicht beschritten, da sind noch viele demokratische Schritte zu gehen. Die Mahnung, nicht ohne weitere Friedensbemühungen aufzurüsten, scheint mir ein legitimer christlicher Beitrag im Konzert der demokratischen Prozesse zu sein.

Frieden meint mehr als nur das Schweigen der Waffen

Andreas Lutsch beklagt, dass diejenigen, die für eine nukleare Aufrüstung und Abschreckung stehen, durch Friedensbewegungen als moralisch verwerflich dargestellt wurden. Die Debatte werde moralisch hoch aufgeladen geführt. Es stimmt, dass der Ton derartiger Diskussionen selbst nicht immer "gewaltfrei" verlief. Davor müssen wir uns hüten. Ich kenne aus Gesprächen das Argument, dass die Waffensysteme während des Kalten Krieges uns vor einem neuen Kriegsausbruch bewahrt und den Frieden gesichert haben. In diesem Zusammenhang machen mich einige Sätze des Moraltheologen Eberhard Schockenhoffs zumindest nachdenklich:

"Die strategische Formel 'Frieden durch gegenseitige Abschreckung' beschrieb keineswegs einen dauerhaften Friedenszustand, sondern ein höchst labiles Spannungsverhältnis zwischen den Machtblöcken, das jederzeit zu einer direkten militärischen Konfrontation hätte führen können. Die Bevölkerungen der europäischen Staaten (…) erlebten die Nachkriegszeit daher in einem äußerst prekären Sicherheitsgefühl, das von einer allgegenwärtigen Angst vor einem neuen, unvorstellbaren Krieg begleitet wurde" (Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globalisierte Welt, Freiburg 2018, 73).

Das Zweite Vatikanum hatte demnach recht: Frieden entsteht nicht allein dadurch, dass die Waffen schweigen. Und auch nicht dadurch, den anderen in Schrecken zu versetzen. Lutschs Behauptung, dass Personen, die nukleare Aufrüstung als konstruktiven Friedensbeitrag infrage stellen, naiv seien, trifft also nicht zu. Sie stecken ja keineswegs den Kopf in den Sand oder verweigern sich der Debatte, sondern richten Anfragen an die scheinbare Sicherheit, die die Gesprächspartnerinnen und -partner suggerieren.

Menschen innerhalb von Friedensbewegungen sind durchaus realistisch, denn zur Realität gehört auch, dass sie im Falle einer nuklearen Hochrüstung davon ausgehen, dass diese Waffen auch zur Anwendung kommen können. Ansonsten wäre eine derartige Abschreckung natürlich sinnlos. Wer diese Waffen besitzt, will sie im Ernstfall auch anwenden. Die Meinung von Papst Franziskus dazu ist glasklar. In seiner Enzyklika "Fratelli tutti" (2020) schreibt er dazu:

"Auch Regeln werden nicht ausreichen, wenn man meint, die Lösung der heutigen Probleme bestünde darin, andere durch Angst abzuschrecken, indem man mit dem Einsatz von nuklearen, chemischen oder biologischen Waffen droht. Denn zieht man die Hauptbedrohungen für Frieden und Sicherheit mit ihren vielen Aspekten in dieser multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts in Betracht [...], dann kommen einem nicht wenige Zweifel aufgrund der Unangemessenheit nuklearer Abschreckung als wirksamer Antwort auf diese Herausforderungen. Diese Sorgen werden noch größer, wenn wir an die katastrophalen humanitären und ökologischen Konsequenzen denken, die der Einsatz von Atomwaffen haben würde, mit verheerenden, in Zeit und Raum unkontrollierbaren Folgen für alle. [...] Wir müssen uns auch die Frage stellen, wie nachhaltig eine auf Angst gegründete Stabilität sein kann, insofern sie die Angst noch vergrößert und vertrauensvolle Beziehungen zwischen den Völkern untergräbt. Internationaler Frieden und internationale Stabilität dürfen nicht auf ein falsches Gefühl der Sicherheit gegründet sein, auf die Androhung gegenseitiger Zerstörung oder totaler Auslöschung oder indem man bloß ein Kräftegleichgewicht aufrechterhält. [...] In diesem Kontext wird das letzte Ziel der vollkommenen Abschaffung von Atomwaffen sowohl zu einer Herausforderung als auch zu einer moralischen und humanitären Pflicht. […] Zunehmende Interdependenz und wachsende Globalisierung bedeuten, dass jedwede Antwort auf die Bedrohung durch Atomwaffen kollektiv und abgestimmt erfolgen sowie auf gegenseitiges Vertrauen gegründet sein sollte. Dieses Vertrauen kann nur durch einen Dialog aufgebaut werden, der ehrlich auf das Gemeinwohl abzielt und nicht auf den Schutz von verschleierten Interessen oder Eigeninteressen". (FT 262)

Klare Haltung der katholischen Kirche

Derartige Vorbehalte finden sich nicht nur im theologischen Kontext. Ich verweise auf einen Artikel von Andreas Rüesch in der NZZ vom 16. Februar 2024 ("Das Atom-Phantom geht um"). Der Papst spricht die verheerende Zerstörungskraft dieser Waffen deutlich an. Es ist nicht zu erkennen, wie im Falle eines Einsatzes dieser Waffen eine angemessene Verteidigung und Schutz der Zivilbevölkerung gewährleistet werden kann. Dabei wird man sich eben nicht auf die Lehre vom "gerechten Krieg" berufen können. Nicht nur Papst Franziskus findet klare Worte, sondern auch der Katechismus der Katholischen Kirche beschreibt das Problem:

"Die Anhäufung von Waffen erscheint vielen als ein paradoxerweise geeignetes Vorgehen, mögliche Gegner vom Krieg abzuhalten. Sie sehen darin das wirksamste Mittel, um den Frieden zwischen den Nationen zu sichern. Gegenüber einer solchen Abschreckung sind schwere moralische Vorbehalte anzubringen. Der Rüstungswettlauf sichert den Frieden nicht. Statt die Kriegsursachen zu beseitigen, droht er diese zu verschlimmern. Die Ausgabe ungeheurer Summen, die für die Herstellung immer neuer Waffen verwendet werden, verhindert, daß notleidenden Völkern geholfen wird. Somit hält die übermäßige Rüstung die Entwicklung der Völker auf. Sie vervielfacht die Konfliktgründe und verstärkt die Gefahr der Ausbreitung von Kriegen." (KKK 2315)

Und der Katechismus benennt jede Kriegshandlung, die auf die Zerstörung ganzer Städte zielt, als Verbrechen gegen Gott und die Menschheit (KKK 2314). Wie dies im Falle eines nuklearen Waffeneinsatzes nicht gegeben sein sollte, erschließt sich mir nicht. Es bleibt für mich als Christ und Theologe dabei: Ohne weitere Friedensbemühungen, Suche nach einer gerechten Ordnung, nach dauerhaften Friedenslösungen und Dialog wird eine nukleare Abschreckung kein Weg zum Frieden sein.

Als Christ und Bischof kann ich den Weg, Menschen "kriegstüchtig" zu machen, nicht mitgehen. Obwohl dieser Begriff in aktuellen Debatten oft genannt wird, darf der Dienst der Kirche nicht darin bestehen, Menschen auf einen Krieg vorzubereiten. 

Die deutschen Bischöfe haben auf ihrer Vollversammlung in Augsburg ein Friedenswort herausgegeben ("Friede diesem Haus" vom 21. Februar 2024). Der Text versteht sich ausdrücklich als Diskussionsbeitrag in den Debatten um einen Weg zum Frieden. Den Bischöfen kann in diesem Kontext nicht der Vorwurf gemacht werden, die Zeitenwende nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Sie beschreiben die aktuelle Situation und auch die ethischen Dilemmata, in der sich Politik, Gesellschaft und Kirche derzeit befinden. Es ist offensichtlich, dass die bisherige Sicherheit vieler am Gespräch Beteiligten, Konflikte durch Dialog klären zu können, erschüttert ist. Sie erinnern auch an Beschlüsse der Bundesregierung von 2016, die damals (noch) auf Rechtsstaatentwicklung, Reform des Sicherheitssektors sowie Versöhnungsprozesse setzten. Hinzu kommen diplomatische Bemühungen, die auch im Konfliktfall nicht aufhören dürften (114). Zwar betonen die Bischöfe die Pflicht des Staates, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen, sie heben aber auch die moralischen Grenzen hervor, die nach einer Zeitenwende bestehen bleiben. Damit halten sie am "roten Faden" der katholischen Lehrverkündigung fest: "Es ist höchste Zeit, aus der Abschreckung mit nuklearen Mitteln auszusteigen" (119). Viele Texte der letzten Jahrzehnte lassen sich als Beleg dafür anführen, dass diese Aussagen in einer langen Tradition stehen. Diese wurden jedoch immer wieder als naiv kritisiert.

Biblische Friedensvisionen statt Schritte in Richtung Katastrophe

Als Christ und Bischof kann ich den Weg, Menschen "kriegstüchtig" zu machen, nicht mitgehen. Obwohl dieser Begriff in aktuellen Debatten oft genannt wird, darf der Dienst der Kirche nicht darin bestehen, Menschen auf einen Krieg vorzubereiten. Ich kann dazu beitragen, in der Demokratie notwendige Gespräche zu führen und vor allzu simplen Lösungen zu warnen, die Aufrüstung mit Frieden verwechseln. Für mich bleiben die bisherigen kirchlichen Aussagen zielführend. Ohne weiter an Friedensperspektiven und einem gerechten Frieden zu arbeiten, bleiben die anderen Schritte der Weg in eine mögliche Katastrophe.

Die Bibel verlegt den Frieden keineswegs nur ins Jenseits. Das Reich Gottes soll hier und jetzt beginnen, auch wenn es natürlich den Himmel auf Erden nie geben wird. Irgendwann werden wir vor der Frage stehen, wie denn Friedens- und Versöhnungsprozesse aussehen könnten, um ein neues Miteinander zu gestalten. Da mögen die biblischen Friedensvisionen helfen und motivieren.

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