An der Realität vorbeiDie Debatte um den Abtreibungsparagrafen krankt an falschen Alternativen

Eine von der Bundesregierung eingesetzte "Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin" empfiehlt eine Streichung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch. Mit dem Namen der Kommission war die Richtung schon vorherbestimmt: Das Thema wird heute vor allem unter der Rubrik "Selbstbestimmung" diskutiert. Das gilt als fortschrittlich, wird aber der Komplexität von Beziehungen, Interessen, Rechten und Bedürfnissen im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft nicht gerecht.

Schwangerschaftstext
© Pixabay

Wenig überraschend hat am 15. April 2024 die vor einem Jahr von der Bundesregierung eingesetzte "Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin" als Ergebnis ihrer Arbeit ein klares Votum für die Streichung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch abgegeben. Schon die Zusammensetzung der Kommission, deren Mitglieder von den Ministern Karl Lauterbach (SPD), Marco Buschmann (FDP) und der Ministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) berufen worden waren, ließ erahnen, dass am Ende wohl kein Ergebnis des Konsultationsprozesses stehen würde, welches dem parteipolitischen Mainstream in den Reihen der Ampelkoalition gegenläufig ist.

Ähnlich überraschungsfrei wie das Votum der Kommission sind in der gesellschaftspolitischen Diskussion über die Vorstöße zur Legalisierung von Abtreibungen auch die Stereotype, mit denen die Pro- und Contra-Positionen eingeordnet werden. Schnell sind die gängigen Rollen und Etiketten gleich wieder verteilt: Die einen, welche das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung der Frau betonen und für eine möglichst liberale juristische Regelung eintreten, gelten als modern und sozial sensibel; die anderen, denen der Lebensschutz und die Menschenwürde von Embryonen ein Anliegen ist und die deshalb eine restriktivere juristische Regelung befürworten, gelten als konservativ, patriarchalisch oder rechtslastig. Ob solche groben Muster der differenzierten Auseinandersetzung mit einem ebenso brisanten wie sensiblen Thema zuträglich sind, wird man bezweifeln dürfen.

Das Leben Ungeborener ist ein Rechtsgut

Gerade Vorbehalte aus der Perspektive einer theologischen Ethik gegenüber jetzt wieder forcierten Plänen, den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches zu regulieren, sind gehörig missverstanden, wenn man sie als Plädoyer für eine möglichst strikte Handhabung des Strafrechtes und als ein knallhartes Verdikt über betroffene Frauen deuten würde. Es geht nicht darum, zu verurteilen und zu verdammen, sondern es geht darum, das Leben Ungeborener nach wie vor als hoch relevantes und keineswegs zur beliebigen Disposition stehendes Rechtsgut auszuweisen. Eine humane Gesellschaft, zu deren Grundlagen das Tötungsverbot zählt, kann nicht darauf verzichten, in aller Deutlichkeit zu markieren, dass auch der aktiv herbeigeführte Tod eines Menschen in seinem frühen Entwicklungsstadium ein gravierendes Unrecht darstellt.

Ein prinzipielles Recht von schwangeren Frauen auf einen Schwangerschaftsabbruch im Sinne reproduktiver Selbstbestimmung hielten die Richter des Zweiten Senates des Verfassungsgerichts 1993 mehrheitlich für unvereinbar mit der Wertordnung des deutschen Grundgesetzes.

Wegweisend ist und bleibt in dieser Hinsicht, dass das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 28. Mai 1993 festgehalten hat, dass dem ungeborenen Kind der rechtliche Schutz auch gegenüber seiner Mutter zukommt und die im Grundgesetz verankerte Schutzpflicht für das ungeborene Leben nur dann gewahrt bleibt, wenn der Gesetzgeber einen Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verbietet. Ein prinzipielles Recht von schwangeren Frauen auf einen Schwangerschaftsabbruch im Sinne reproduktiver Selbstbestimmung hielten die Richter des Zweiten Senates des Verfassungsgerichts mehrheitlich für unvereinbar mit der Wertordnung des deutschen Grundgesetzes.

Über die Frage, ob dreißig Jahre nach dem genannten Urteil im möglichen Fall einer Verfassungsklage gegen konkrete legislative Initiativen, Abtreibungen künftig außerhalb des Strafgesetzbuches zu regulieren, das Bundesverfassungsgericht der Spur seiner früheren Entscheidung folgen würde, lässt sich nur spekulieren. Eines aber dürfte sicher sein: Die völlige Tilgung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch würde noch mehr jene moralische Lethargie in der Gesellschaft hierzulande bestärken, die gar kein Problem mehr mit der Tötung eines Kindes im Mutterleib hat.

Das geltende Recht ist autonomiefördernd

Ob eine weitgehende Legalisierung der Abtreibung tatsächlich im Sinne aller ungewollt schwangeren Frauen und ihrer Selbstbestimmung wäre, bleibt fraglich. Denn neben jenen Frauen, die tatsächlich in klarer Entschiedenheit, psychisch und physisch robust einen Abbruch der Schwangerschaft vornehmen lassen, gibt es schließlich auch andere, die ihre Situation als weit schwieriger und belastender erleben, die unsicher in ihrer persönlichen Werteinstellung bzw. ihrem moralischen Selbstbild sind und die von Dritten in Richtung der Entscheidung für eine Abtreibung beeinflusst werden, obwohl sie selber Bedenken und Zweifel haben.

Könnte hier das öffentliche Signal der Rechtsordnung, welche am Unrechtscharakter der Tötung eines ungeborenen Kindes festhält, so mancher Frau nicht sogar den Rücken stärken? Eben gerade dann, wenn sie um eine unmittelbar persönlich akzeptable Entscheidung ringt und dabei den Sirenengesängen in ihrem sozialen Umfeld misstraut, ein Nein zum Kind sei der beste, einfachste und sicherste Weg in eine gute Zukunft. Sich in so einer Lage darauf berufen zu können, dass ein Schwangerschaftsabbruch eben keine harmlose "Gesundheitsleistung" darstellt, sondern prinzipiell verboten ist, wirkt autonomiefördernd. Denn es kann helfen, sich gegen wohlfeile Bagatellisierungsversuche Dritter (Vater des ungeborenen Kindes; weiteres soziales Umfeld) zu wenden, die oft aus Eigeninteresse einer "schnellen Problemlösung" das Wort reden, deren physische und psychische Konsequenzen dann natürlich in erster Linie die betroffene Frau zu tragen hat.

Schwanger ist man nie allein

In den moralischen und gesellschaftspolitischen Diskursen der Gegenwart läuft das fast schon zur Beschwörungsformel avancierte Motto "Selbstbestimmung über alles" ernsthaft Gefahr, den realistischen Blick auf den Menschen selbst zu verstellen. Denn gerade mit Blick auf die Situation der Schwangerschaft bleibt zu bedenken, was die Online-Beratung des Sozialdienstes katholischer Frauen und der Caritas einmal ganz grundsätzlich so formuliert hat: "Schwanger ist man nie allein." Wobei es durchaus auch ambivalente Erfahrungen sein können, die mit dieser Einsicht verbunden sind.

Die Konstellation, in der Väter ihre Verantwortung für das ungeborene Leben allein auf die Partnerinnen übertragen, das soziale Umfeld sich entsolidarisiert oder vielleicht sogar Druck ausübt, damit Frauen entgegen ihren eigenen Gefühlen und Wünschen die Schwangerschaft abbrechen lassen, wurde bereits problematisiert. Es gibt aber auch Konstellationen, in denen sich manche Väter der noch nicht geborenen Kinder als die ausgeschlossenen Dritten erfahren, die abseits der besonderen Zweierbeziehung zwischen Mutter und Kind stehen. Natürlich kann ein Mann die Präsenz einer Schwangerschaft nicht in der unmittelbar physischen und psychischen Wahrnehmung einer Frau erfassen. Trotzdem hat die Erkenntnis, dass die Partnerin schwanger ist, auch Auswirkungen auf den beteiligten Mann, seine Lebensplanung und sein emotionales Empfinden. Auch der Mann wird sich Fragen stellen: Was heißt es für mich, Vater zu werden? Wie wird es wohl mit einem Kind? Welche Auswirkung hat ein Kind auf mein Leben und auf die Beziehung?

Vor diesem Erfahrungshintergrund bleibt eine vermeintlich so modern, sozial und liberal geartete Position, welche in Debatten um den Schwangerschaftsabbruch immer nur das Recht der Frau auf "reproduktive Selbstbestimmung" betont, merkwürdig blind und unsensibel hinsichtlich der weit größeren Komplexität von Beziehungen, Interessen, Rechten und Bedürfnissen, wie sie in der Situation einer Schwangerschaft gegeben sind. Zudem müsste es doch weit eher den zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Perspektiven und Zielen von Gleichberechtigung und Partnerschaft entsprechen, dass man die Übernahme und Ausgestaltung gemeinsamer Elternverantwortung betont und stärkt, anstatt Schwierigkeiten und Konflikte im Kontext einer Schwangerschaft pseudo-emanzipatorisch als ein reines "Frauenthema" zu betrachten.

"Mehr Fortschritt wagen"

Der Koalitionsvertrag der Ampelparteien vom Dezember 2021 formuliert in seinem Titel programmatisch "Mehr Fortschritt wagen". Ein solches Motto ist natürlich interpretationsoffen und hängt sehr von den damit verbundenen Einstellungen, Wertmaßstäben und Zielsetzungen ab. Inwiefern die Abschaffung der Paragrafen 218 und 219 StGB und die Selbstverständlichkeit, mit der man hinnimmt, dass in einem so wohlhabenden Land wie Deutschland jedes Jahr rund 100.000 Kinder im Mutterleib getötet werden, einen Fortschritt an Humanität, Prosperität und Lebensglück bringen soll, ist schleierhaft. Man kann "mehr Fortschritt wagen" und dabei ganz gehörig auf dem Holzweg sein.

Stereotype Einordnungen von Pro- und Contra-Positionen werden einer qualifizierten ethischen und rechtlichen Urteilsbildung in Sachen Abtreibung sowie einem fairen gesellschaftlichen Diskurs keineswegs gerecht.

Was aber wäre stattdessen ein Pfad, der positiv in die Zukunft führt? Schon im Februar 2022 wurde in einer Stellungnahme des Kommissariats der Deutschen Bischöfe – Katholisches Büro in Berlin zum damaligen Gesetzesentwurf der Bundesregierung bezüglich der Aufhebung des Verbots der Werbung für den Schwangerschaftsabbruch (§ 219a StGB) die Richtung gesellschaftspolitischer Reformansätze angedeutet, welche in der Tat sowohl den Interessen und Rechten schwangerer Frauen als auch dem fundamentalen Lebensrecht der ungeborenen Kinder Rechnung tragen können. Dort heißt es: "Letztlich sollte es unser aller Auftrag sein, ein gesellschaftliches Klima und entsprechende Rahmenbedingungen als Anreize zu schaffen, dass alle Menschen sich gerne und bewusst für ein Leben mit Kindern entscheiden können. Dazu gehören weitere Verbesserungen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ein partnerschaftliches Verständnis bei der Kinderbetreuung bzw. die Unterstützung von alleinerziehenden Elternteilen, die Verhinderung von Kinderarmut und die Gleichberechtigung im Beruf."

Als anti-liberal, patriarchalisch und rückwärtsgewandt wird man solche Impulse nicht unbedingt abqualifizieren können, wenngleich sie betont von der Sorge um das Lebensrecht der Kinder im Mutterleib her motiviert sein mögen. Insofern zeigt sich auch hier noch einmal, dass – wie eingangs in diesem Beitrag angemerkt – stereotype Einordnungen von Pro- und Contra-Positionen einer qualifizierten ethischen und rechtlichen Urteilsbildung in Sachen Abtreibung sowie einem fairen gesellschaftlichen Diskurs keineswegs gerecht werden.

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