Jesu Leiden am KreuzStreitfall Erlösung

Hemingway, Tóibín, Lehnert: Drei literarische Perspektiven auf Jesu Leiden am Kreuz und Ostern.

Drei römische Soldaten sitzen in einer Weinkneipe und lassen den Tag, an dem Jesus gestorben ist, Revue passieren. Sie sind bereits etwas angetrunken an diesem Abend in Jerusalem, doch was sich kurz zuvor auf der Schädelhöhe Golgota ereignete, geht ihnen nicht aus dem Kopf. „Der hat sich heute da recht ordentlich benommen“, sagt ein Soldat immer wieder. Vom Kreuz sei Jesus nicht heruntergestiegen, weil er es nicht gewollt hätte, weil es nicht „zu seiner Rolle“ gehörte. Ein anderer Römer antwortet: „Na, den Kerl möcht ich sehen, der nicht vom Kreuz runter will … Was ich sagen will, ist, wenn’s ernst wird. Wenn sie mit dem Annageln anfangen, dass es dann wohl keinen gibt, der nicht Halt sagen würde, wenn er könnte.“

Die Szene stammt aus der Kurzgeschichte „Heute ist Freitag“, in der der amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway (1899-1961) einen römischen Soldaten ein auf das Wesentliche reduziertes, ganz eigenwillig formuliertes Christus-Verständnis aussprechen lässt: Jesus von Nazaret ist nicht abgehauen, als er merkte, dass die Römer ihn umbringen wollen. Er ist nicht wie ein allmächtiger Gott von Kreuz herabgestiegen. Er hat sich auch nicht „entmenschlicht“ und schmerzfrei gemacht. Jesus ist geblieben und hat gelitten. In der Alltagssprache des hartgesottenen Soldaten heißt das: „Der hat sich heute da recht ordentlich benommen.“

Doch in Hemingways Text finden sich auch Zweifel an der Freiwilligkeit Jesu, einen solch grausamen Tod zu ertragen. Es gibt keinen Menschen, „der nicht Halt sagen würde“. Einer von Hemingways Soldaten erklärt: „Was ich nicht mag, ist, wenn sie sie annageln. Wisst ihr, das muss einem furchtbar an die Nieren gehen.“ Hier wird auf fiktiv-literarische Weise verpackt, was historisch wohl richtig und heute nahezu unvorstellbar ist: die grenzenlose Brutalität von Kreuzigungen im römischen Reich. Beim Philosophen Seneca (4 v. Chr. - 65 n. Chr.) heißt es: „Ich habe Kreuzigungen gesehen nicht nur von einer einzigen Art, sondern jede anders durchgeführt: Mit dem Kopf zur Erde schlagen manche ans Kreuz, andere treiben einen Pfahl durch die Schamteile, andere breiten am Querbalken die Arme aus.“

Angesichts dieser Grausamkeit hat Jesus vielleicht sogar „Halt“ gesagt, ohne dass es überliefert worden ist und ohne dass es an seinem Passionsweg etwas änderte. Von Leid, Tod und Auferstehung Jesu erwartet die Christenheit seit „Ostern“ die Erlösung. „Im Kreuz ist Heil.“ Doch seit den frühesten Anfängen und durch die Jahrtausende nicht für alle befriedigend und schlüssig geklärt, bleibt die Frage, ob die heilbringende Errettung nicht auch anders hätte geschehen können. Erlösung durch Leiden? Hätte ein erfolgreiches „Halt“ aus dem Munde Jesu das im Glauben bekundete Erlösungsgeschehen etwa verhindert?

Was wusste Lazarus?

Die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Leidens Jesu wird auf dramatische Weise auch in dem neuen Roman „Marias Testament“ des irischen Schriftstellers Colm Tóibín gestellt. Eine ganz und gar irdische, unorthodoxe Maria erzählt die erschütternde Geschichte ihres Lebens als Mutter Jesu. Sie schämt sich regelrecht für ihren Sohn. Sie berichtet, dass es ihr peinlich war, wenn Jesus die um ihn versammelten „Nichtsnutze“ aufforderte zu schweigen „und dann anfing, mit ihnen wie vor einer Volksmenge zu reden, seine Stimme ganz künstlich und sein Ton gestelzt“. Als die Jesus-Bewegung am Sabbat Unruhe stiftet und trotzdem die Menschentrauben um Jesus herum immer größer werden, fragt Maria einen Bekannten, ob man denn irgendetwas tun könne, „um ihn aufzuhalten“. Doch Jesus lässt sich nicht stoppen - darin stimmt der Roman mit den Evangelien überein (vgl. Mk 6,1-13).

Als Beispiel für Jesu Wirken erzählt Tóibín die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus nach und dichtet sie weiter. Wo der biblische Text aus dem Johannesevangelium (11,1-44) abbricht, fragt sich der Schriftsteller, wie die Geschichte damals hätte weitergehen können. Als Jesus in das geöffnete Grab „Lazarus, komm heraus!“ hineinrief und der Tote als Lebender sichtbar wurde, seien die Umstehenden voll Grauen und Furcht zurückgewichen. Lazarus’ Schwester Martha habe gemeint, dass das der Augenblick war, in dem Vögel aufhörten zu fliegen und zu zwitschern, in dem nichts entstand oder geboren wurde und nichts starb. Hatte seine Auferweckung von den Toten die Welt verändert, ihn aber nicht, wie es zunächst in der Erzählung heißt? Die Ich-Erzählerin Maria berichtet, wie ihr erst allmählich klar wurde, dass Lazarus nicht wieder „der Alte“ war, sondern ein Sterbender. „Wenn er ins Leben zurückgekehrt war, dann nur, um endgültig Abschied zu nehmen … Er hatte etwas äußerst Einsames, und wenn er tatsächlich vier Tage lang tot gewesen und dann wiederauf­erstanden war, besaß er ein Wissen, das ihn zermürbt zu haben schien, als habe er etwas gekostet oder etwas gesehen oder gehört, was ihn mit dem reinsten Schmerz erfüllte, ihn auf eine grausige, unaussprechliche Weise unvorstellbar verängstigt hatte.“ Das Wissen um das Jenseits und das, was Totsein bedeutet, habe Lazarus nicht mitteilen können, weil es dafür keine Worte gibt.

Tóibíns Maria ist eine Frau, die zutiefst irritiert wahrnimmt, was um sie herum geschieht. Besonders die Ausmaße menschlichen Leids und der (Un-)Sinn des Todes beschäftigen sie. An der Auferweckung des Lazarus kann sie sich nicht freuen, weil er verstört und lebensschwach ins Leben zurückgekehrt ist. Hätte sich für Maria die Möglichkeit ergeben, Lazarus nach seinen Erlebnissen auszuhorchen, dann wären es Fragen nach dem Ort gewesen. Wie ist diese „Höhle voller Seelen“? Ist es dort still oder laut? Träumt, schläft oder wacht man? Erkennt man Bekannte? Vor allem aber: „Gab es da Blut, Schmerzen?“ Es ist, als ahnt diese fiktive Maria, dass Leid, Trübsal und Grausamkeit sie noch weiter begleiten - bis nach Jerusalem, wo die Römer Jesus den Prozess machen.

„Er widersetzte sich“

Als Pilatus erklärt, dass er keine Schuld an Jesus findet, die aufgehetzte Menge und die Römer aber dennoch seinen Tod verlangen, steht das Urteil fest. „Auf den Balkon trat nun, das Gesicht mit Blut überströmt und ein Ding aus Dornen in die Schläfen gedrückt, mein Sohn, in den Purpurmantel eines Königs gekleidet, der ihm auf eine Weise um die Schulter herabhing, die mich vermuten ließ, dass seine Hände hinter dem Rücken gebunden waren.“ Die literarischen Schilderungen der anschließenden Kreuzigung zeigen - ähnlich dem Zeugenbericht Senecas - das Qualvolle dieser antiken Hinrichtungsmethode. Während in der Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte der Ausspruch „Seinen Mund hat er nicht aufgetan“ aus dem Gottesknechtslied beim Propheten Jesaja immer wieder auf Jesus angewendet wurde, um seine freiwillige Hingabe hervorzuheben, schreibt Tóibín in seiner Passionserzählung: „Er widersetzte sich, während Blut hervorspritzte und das Hämmern begann … Als sie es geschafft hatten, unternahm er alles, um sie daran zu hindern, auch seinen anderen Arm auszustrecken.“

Der Jesus, der in „Marias Testament“ beschrieben wird, heilt, hält Gemeinschaftsmähler, weckt Tote auf. Er ähnelt dem Jesusbild, das die Evangelien zeichnen - und ist doch ganz anders: Der von Jesus zum Leben erweckte Lazarus bleibt in der Todesatmosphäre verhaftet. Jesus weiß sich zwar zu „höheren Aufgaben“ berufen, doch die Notwendigkeit seines Leidens erschließt sich ihm nicht.

Maria wehrt alle nachträglichen Erklärungsversuche und Sinngebungen für den Tod ihres Sohnes ab und hält sie für Unfug. Der Roman gipfelt in Marias Golgota-Bekenntnis: „Ich war dort … Ich floh, bevor es vorbei war, aber wenn ihr Zeugen braucht, dann bin ich eine Zeugin, und wenn ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war. Das war es nicht wert.“

„Moria“ - Gotteskraft

Aussagen wie diese wären im vergangenen Jahrhundert noch als häretisch und blasphemisch verurteilt worden, als entgegengesetzt zur Lehrmeinung der Kirche und als Gotteslästerung. Heute aber dienen Texte wie die von Hemingway und Tóibín der „Schärfung des Denkens“, so Ulrich Greiner in der „Zeit“. Die großen, kritischen Glaubens(an)fragen sind notwendige Denkaufgaben für heutige Christen, deren Hoffnung vielfach angekratzt ist. Angesichts fortschreitender Entmythologisierungsprozesse und des Verlustes religiöser Plausibilitäten ist ein bruchloses Glaubenkönnen kaum mehr möglich.

„Gott gab seinen Sohn zur Vergebung der Sünden, als Opfer. Wie war es mit einem Male zu Ende mit dem Evangelium! Das Schuldopfer und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen!“ Hatte der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) nicht recht, als er in der scheinbaren Sinnwidrigkeit des Leidens Jesu keine „frohe Botschaft“ mehr erkennen mochte? Es ist sogar fragwürdig, ob der historische Jesus selbst in seinem Kreuzestod einen Sinn gesehen hat. „Die Möglichkeit, dass er zusammengebrochen ist“, schrieb der evangelische Neutestamentler Rudolf Bultmann (1884-1976), „darf man sich nicht verschleiern.“

Wie aber könnten heute das Kreuzgeschehen auf Golgota und das Leiden Jesu überzeugend verstanden werden, wenn Vorstellungen wie Sühnopfer und Stellvertretertod, Blutopfer oder reinigende Loslösung in rationalen Wissenschaftswelten unglaubwürdig geworden sind? Eine Möglichkeit, das Kreuz zu verstehen, scheint es zunächst nur zu geben, wenn man sich bewusst macht und eingesteht, dass der leidvolle Gottessohntod Chaos, Tohuwabohu, Zersetzung herstellt. „Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit“, schrieb Paulus realitätsbewusst im ersten Korintherbrief (1,18). Das griechische Wort für Torheit, moria, beschreibt einen „geistigen Mangel“, eine Dummheit, Schwäche, Unsinn. „Das Kreuz, ein gekreuzigter Gott, war eine Torheit, Zeugnis geistiger Deformation, nicht diskutabel“, erklärt der Dichter-Theologe Christian Lehnert. Paulus habe nicht die Wahrnehmungen und Ansichten der heidnischen Menschen in griechischen Gebieten und Kleinasien kritisieren wollen. „Wussten es die Christen denn besser? Nein: Es war eben eine moria. Auch für die, die ‚selig werden‘ sollten, blieb das so … In dieser sperrigen Substanz liegt die historische Fahrigkeit des Christentums begründet, seine dauernde innere Unruhe. Von Anfang an ist es traumatisiert.“ Wenn Jesus von Nazaret am Kreuz aber ein „Skandalon“, eine moria - Un-Sinn - ist, dann hat man die damals wie heute bekannten religiösen Vorstellungen und Bezüge verlassen. Der Christus ist anders, er bricht etwas auf, zuvor Unvorstellbares ist eröffnet. Paulus nennt das „Gotteskraft“.

Wenn es stimmt, dass Sinn an geistigen Brüchen und Schnittstellen entsteht, dann ist der gekreuzigte Gottessohn die Sinnquelle schlechthin. Denn ebenso wie der von den Toten auferweckte Lazarus ist auch das Kreuz ein Kategorienskandal, bisher eindeutig zugeordnete Begriffe geraten durcheinander: Dieser „Aufgehängte“ und „von Gott Verfluchte“ (Dtn 21,23) ist ein von Gott Gewollter.

Heil und Gottesnähe entstehen nicht durch Jesu Leiden. Sein Tod ist kein kultisches Opfer, nach dessen Logik man durch die tötende Hingabe des Opfers zu Gott kommt. Erlösung geschieht nicht durch das, was Jesus getan hat, sein Werk, sondern durch das, was er ist, seine Person. Dieses Erlösungsgeschehen hat mit der ganzen Lebensweise und Existenz des Jesus von Nazaret eine verbindliche, verdichtete Dramatik erfahren - eine Gottesdramatik, aus der Gott selbst nicht herauskommt, auch heute nicht. Da die Welt ihre Erlösungsbedürftigkeit jedoch nicht verloren hat, glauben, hoffen, beten Christen bis heute, dass der Messias - dass Christus - da ist und wirkt und Erlösung immer mehr geschehen lässt.

Die Würdigung des Würdelosen

Es ist die christliche Hoffnung seit den ersten Zeugen des „leeren Grabes“ am Ostermorgen, dass Gott zu uns gekommen ist durch Jesu Leben und durch das in seinem Leiden Geschehene. Dieses erlösende „Zu-uns-Kommen“ löst den Menschen und den Menschensohn aus den rein irdischen Verständnisweisen und Einordnungen, wonach Leiden nicht erlösen kann. „Erlösung … müsste die Gegenwirklichkeit sein zur Unheils-Wirklichkeit der Entwürdigung, die die Menschen zu Opfern macht und deshalb dazu antreibt, andere zum Opfer zu entwürdigen“, erklärt der Münsteraner Theologe Jürgen Werbick. Gottes Schöpferehre verlange nicht die Satisfaktion - also die Entschädigung, Wiedergutmachung, Sühne - der Sünder oder ihres Stellvertreters, „sondern die Würdigung derer, deren Würde niemand sonst verteidigt“. Beispielhaft hat das Jesus getan, indem er sich bedingungslos solidarisch an die Seite der Leidenden stellte. Sein Handeln war keine Stellvertretung, aber ein gott-menschlicher Akt, der Wirklichkeit verändert hat: die Würdigung der um ihre Würde Gebrachten.

Letztlich vertrauen Christen bis heute dem Zeugnis der Erstzeugen vom Ostergeschehen: Jesus ist von den Toten auferstanden. Die ersten Christen riefen nicht zur Wallfahrt oder Verehrung des Grabes auf, sondern verschrieben sich dem „Weitersagen“. Der Bonner Neutestamentler Martin Ebner schreibt: „Das Ende des historischen Jesus ist das Grab. Fluchtpunkt des Christentums ist es nicht.“ Der Name Jesu muss bekannt werden, seine Botschaft von Liebe und Barmherzigkeit und von seiner Auferweckung müssen weitergesagt werden - damit es das wert war.

Literatur:
Colm Tóibín, „Marias Testament“ (Hanser Verlag, München 2014)
Christian Lehnert, „Korinthische Brocken“ (Suhrkamp Verlag, Berlin 2013)
Jürgen Werbick, „Den Glauben verantworten“ (Herder Verlag, Freiburg 2005)
Martin Ebner, „Jesus von Nazareth“ (Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2014); darin ist auch „Heute ist Freitag“ von Ernest Hemingway abgedruckt.

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