Neue „Schrift“-ReiheDie andere Denkwelt des Alten Testaments

Ab sofort nimmt Mathias Winkler „langweilige Bibelstellen“ in den Blick. Im Interview erklärt er, warum auch Listen und Baupläne etwas zu sagen haben.

Portrait Mathias Winkler
Mathias Winkler ist Professor für Exegese und Hermeneutik des Alten Testaments an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg.© Foto: privat

CHRIST IN DER GEGENWART: Herr Professor Winkler, bevor wir über Ihre Reihe im CIG sprechen, würden wir Sie gerne persönlich etwas näher kennenlernen. Wie war Ihr Weg zum Alten Testament?

Mathias Winkler: Der begann mit der Sprache. Als ich im Studium Hebräisch gelernt habe, hat mich die Sprache sofort fasziniert. Sie „funktioniert“ komplett anders als etwa Latein, Griechisch oder auch Englisch und Französisch. Vor allem hat Bibel-Hebräisch immer einen etwas rätselhaften Charakter, es eröffnet eine ganz andere Denkwelt. Dem nachzugehen, hat mich begeistert. Und so habe ich mich für das Alte Testament als theologische Fachrichtung entschieden.

Nach diesen ersten Kontakten: Was macht für Sie heute den Reiz des Alten Testaments aus?

Es ist und bleibt eine spannende Herausforderung, bei der es immer wieder Neues zu entdecken gibt. Das Alte Testament ist ja einfach sehr umfangreich, unübersichtlich – und vor allem vielstimmig. Die Prophetie etwa denkt anders als der Pentateuch oder die Geschichtsbücher. Sich durch diesen „Wald“ zu kämpfen und eine biblische Theologie zu entwickeln, die dieser ganzen Vielstimmigkeit gerecht wird, ist faszinierend.

Welcher Teil dieser Vielstimmigkeit ist Ihnen persönlich am liebsten?

Ich sage es anders: Am wenigsten reizt mich die Prophetie. In diesen Texten ist die Stimmung nämlich meistens schlecht. Propheten treten in der Regel dann auf, wenn die Dinge im Argen liegen, wenn Missstände herrschen. Dann fordern sie Umkehr und eine neue Ordnung ein. Wer heute vor diesen Texten sitzt und sie analysiert, wird deshalb auch selbst nicht unbedingt gute Stimmung bekommen. Dennoch lohnt es sich natürlich, sich mit der Prophetie zu beschäftigen. Denn sie ist der Kern, aus dem unsere Bibel gewachsen ist. Den Leuten platzt der Kragen, weil irgendetwas in ihrer Gesellschaft nicht stimmt: Arme werden ausgebeutet, Menschen übers Ohr gehauen, man bereichert sich auf Kosten anderer, Schutzbedürftige werden alleingelassen … Im Zentrum unserer Bibel steht also kein frommes oder gar frömmelndes Geschehen – sondern Menschen, die sich über reale Ungerechtigkeiten empören.

Oft heißt es, wir müssten das Alte Testament mehr wertschätzen, etwa in der Leseordnung im Gottesdienst. Wie kann das gelingen?

Das ist nicht so einfach, weil das Alte Testament eben sehr umfangreich, disparat und oft nicht selbsterklärend ist. Natürlich gibt es auch im Neuen Testament Passagen, die auf den ersten Blick schwer verständlich sind. Aber gerade die Evangelien sind ja mehr oder weniger Jesus-Biografien, also eine große zusammenhängende Geschichte, die sich gut lesen und verstehen lässt. So eingängig ist das Alte Testament nicht. Es kann hilfreich sein, die alttestamentlichen Texte eher nachzuerleben und nachzuempfinden. Man könnte beispielsweise einen Psalm nicht nur lesen, sondern auch nachsprechen oder intonieren und das Ganze körperlich nachvollziehen. Gerade die poetischen Texte des Alten Testaments haben dieses Erlebnispotenzial. Wenn wir uns darauf einlassen, merken wir, dass uns die Menschen von vor 2000 oder 2500 Jahren doch gar nicht so fremd sind. Sie haben nicht viel anders getickt als wir, und gerade in ihren Emotionen sind sie uns durchaus nah.

Könnte eine stärkere Wertschätzung nicht auch dadurch zum Ausdruck kommen, dass wir statt vom Alten vom Ersten Testament sprechen?

Ich selbst sage Altes Testament, weil dies national wie international der Standard ist. Außerdem finde ich, dass diese Debatte keinen Sieger kennt. Wenn ich Erstes Testament sage, ist darin ja genauso eine Rangfolge enthalten: Platz eins ist besser und kommt vor Platz zwei! Das ist für mich also nur eine Umetikettierung, die keine Verbesserung bedeutet. Ich bringe „alt“ mit „bewährt“ in Verbindung. Denken Sie zum Beispiel an den positiven Klang, den Begriffe wie Vintage oder Retro in manchen Kreisen haben. In diese Richtung müssten wir „alt“ verstehen. Aber das ist natürlich schwierig, da wir oft nur in den Kategorien wie altes Handy – neues Handy denken.

Mit welcher inneren Haltung sollte ich als christlicher Leser bzw. als christliche Leserin an das Alte Testament herangehen?

Ich empfehle, das Alte Testament zunächst einmal wie ein normales Buch zu lesen. Denken Sie zum Beispiel nicht unbedingt schon Jesus im Hintergrund mit. Und setzen Sie auch keine paulinische Brille auf, ja nicht einmal unbedingt eine „Gottbrille“; denn es gibt weite Passagen im Alten Testament, in denen Gott gar nicht oder allenfalls am Rande vorkommt. Deshalb: Lesen Sie die Texte einfach einmal vorurteilsfrei so, wie Sie vielleicht auch einen Roman lesen würden. Sie können gerne auch mit Stift, Textmarker oder Notizzettel arbeiten. Es ist ein Buch! Sie können da nichts „entweihen“. Die Bibel ist nicht die Offenbarung selbst, sondern ist Zeugnis der Offenbarung. Wenn ich so pragmatisch rangehe, entdecke ich vielleicht leichter Sinnpotenziale oder Anknüpfungspunkte an meine sonstigen Bibellektüren und meinen Glauben.

Und womit beginne ich die Lektüre des Alten Testaments am besten?

Einfach die Bibel aufzuschlagen und loszulegen, kann aus den genannten Gründen schnell frustrierend sein. Mein Vorschlag: Nehmen Sie sich für einen überschaubaren Zeitraum – etwa im Advent oder in der Fastenzeit – ein alttestamentliches Buch als Abendlektüre vor. Ich würde das ganz pragmatisch entscheiden. Habe ich Lust auf ein dickes Buch? Oder möchte ich mit einem der dünneren Bücher anfangen? Bin ich jemand, der Poesie mag? Dann würde ich mit den Psalmen beginnen. Oder finde ich leichter Zugang zu Erzählungen? Wenn Sie sich auf diese Weise für ein Buch entschieden haben, lesen Sie es von vorne bis hinten. Nicht unbedingt am Stück, aber doch als Lektüreaufgabe. Beobachten Sie sich dabei: Wenn Sie an irgendeiner Stelle hängenbleiben, gehen Sie tiefer rein. Andere Übersetzungen oder Bibelkommentare helfen dann weiter.

Sprechen wir über das Thema unserer – Ihrer! – Reihe im CIG. Wie kamen Sie darauf, sich „langweilige Bibeltexte“ vorzunehmen?

Weil die Bibel über weite Strecken einfach ein äußerst langweiliges Buch ist. Wenn Sie versuchen, das Alte Testament von vorne bis hinten durchzulesen, werden Sie irgendwann aufgeben. Das ist kein Page-Turner. Man hätte es viel spannender schreiben können. Es gibt Texte, die lesen Sie einmal, zweimal, dreimal – und sie sagen Ihnen immer noch nichts. Ich denke da etwa an die seitenlangen Anweisungen zum Bau des Zeltheiligtums oder für die Gewänder des Hohenpriesters. Es gibt endlose Namens- und Städtelisten. Oder nehmen Sie den Beginn des Buches Numeri, an dem vier Kapitel lang einfach die zwölf Stämme Israels gezählt werden. Bei solchen Passagen fragt man sich unwillkürlich: Was hat das mit mir zu tun? Ist das wirklich Wort des lebendigen Gottes? In die Reihe aufnehmen werde ich auch Texte, die in einem anderen Sinn langweilig sind: nämlich die Klassiker, die man eigentlich nur noch überfliegt, weil man sie schon so oft gelesen oder gehört hat.

Zum Beispiel?

Ein sehr langweiliger Text ist die erste Schöpfungserzählung, mit der unsere Reihe beginnt. Er ist sprachlich so stereotyp formuliert, dass man ihn oft nur herunterrattert. Oder man springt gleich zum Schluss, zur Menschenschöpfung. Damit verpasst man jedoch einige Höhepunkte. Man sollte sich einfach mal die Frage stellen: Warum ist die Struktur so langweilig? Das hat ja auch eine Aussage. Wenn man sich das näher anschaut, kommt womöglich eine neue Erkenntnis zutage.

Also sind langweilige Texte eigentlich gar nicht langweilig?

Die Kategorie „langweilig“ ist natürlich immer ein Stück weit subjektiv. Und es wird sicher nicht so sein, dass mit unserer Reihe aus den langweiligsten plötzlich die spannendsten Texte werden. Aber es führt in jedem Fall weiter, wenn wir fragen: Warum wird mir das erzählt? Und warum wird es genau auf diese Art und Weise erzählt? Welche Informationen teilen mir die Texte auf einer anderen Ebene mit?

Wären Sie in Ihrer Reihe offen für Vorschläge und Fragen der CIG-Leserinnen und -Leser?

Selbstverständlich. Es wäre in jedem Fall interessant zu hören, welche Texte die Leserinnen und Leser als nichtssagend oder langweilig empfinden. Aber noch einmal: Es geht nicht um die klassischen befremdenden Texte des Alten Testaments, also beispielsweise nicht um die Passagen mit einem gewalttätigen Gottesbild. Darüber ist schon genug geschrieben worden. Sondern eben die Bibelstellen, vor denen Sie gleichsam achselzuckend stehen und sich fragen: Was soll das jetzt? Ist das Bibel – oder kann das weg?

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