Jakobusbrief

Einordnung

Der Jakobusbrief eröffnet heute im Neuen Testament die Gruppe der »Katholischen Briefe« (Jak; 1 Petr; 2 Petr; 1 Joh; 2 Joh; 3 Joh; Jud). Die sieben Schriften dieser Gruppe stammen von verschiedenen Autoren und zeigen in ihren theologischen Vorstellungen sowie in Funktion und Absicht deutliche Unterschiede. Gemeinsam ist ihnen, dass sie nicht an eine konkrete Gemeinde oder Person, sondern an einen weiteren Kreis adressiert sind und in diesem Sinn als »katholisch«, d.h. als »allgemein« oder »umfassend «, gelten können (2 Joh und 3 Joh, auf die dies nicht zutrifft, finden sich aufgrund der Zusammengehörigkeit mit 1 Joh in dieser Gruppe).

Als Adressaten nennt der Jakobusbrief die »zwölf Stämme in der Zerstreuung« (1,1). Demnach scheint sich das Schreiben an Christinnen und Christen zu wenden, die aus dem Judentum in der Diaspora stammen. Für eine judenchristliche Ausrichtung und Perspektive scheint auch die Betonung der Zusammengehörigkeit von Glauben und Werken in 2,14–26 zu sprechen; denn der Passus klingt wie eine gezielte Zurückweisung der paulinischen These, dass der Mensch durch den Glauben allein und ohne Werke des Gesetzes gerechtfertigt wird, d.h. im Gericht Gottes das Heil erlangt (vgl. Röm 3,28). Bei dem als Absender genannten Jakobus, den der Zusatz »Knecht Gottes und Jesu Christi« als anerkannte Persönlichkeit und als Träger von Autorität ausweisen soll, ließe sich folglich an den gleichnamigen »Herrenbruder« denken, der ein herausragender Vertreter und die zentrale Identifikationsfigur des Judenchristentums in den frühen Gemeinden war (Apg 21,18–25; vgl. Gal 1,9). Auf seine Autorität beriefen sich judenchristliche Gegner des Paulus und seiner Theologie (Gal 2,12; vgl. auch Gal 2,5f). Auch wenn der Herrenbruder Jakobus mit Paulus darin übereinstimmte, dass Heiden ohne Beschneidung in die christlichen Gemeinden aufgenommen werden konnten und nicht zur vollen Erfüllung des mosaischen Gesetzes verpflichtet waren (Gal 2,9; Apg 15,13–21), so widersprach er dennoch der Sicht des Paulus, dass für das Heil des Menschen allein der Glaube an das Evangelium von der Erlösung im Tod Jesu Christi entscheidend sei.

Pseudepigraphie

Die kritische Forschung ist sich heute einig, dass der historische Herrenbruder Jakobus, bei dem es sich wohl um einen Bruder Jesu, nicht nur um einen nahen Verwandten handelte (Mk 6,3) und der nach Ostern eine der entscheidenden Autoritäten in der Jerusalemer Gemeinde war, nicht der tatsächliche Verfasser des Briefes sein kann. Das hervorragende Griechisch mit zahlreichen in den neutestamentlichen Schriften nur einmal belegten Wörtern und der ausgezeichnete Stil, der rhetorische Schulung erkennen lässt, sprechen nicht zwingend gegen seine Verfasserschaft, da Kenntnisse des Griechischen auch unter den Juden Palästinas im 1. Jahrhundert weit verbreitet waren und die Familie Jesu und die Mitglieder der Jesus-Bewegung nicht zur Unterschicht gehörten. Gegen den Herrenbruder Jakobus als Verfasser spricht jedoch, dass dieser bereits im Jahr 62 auf Betreiben des Hohenpriesters Ananus hingerichtet wurde. Bei einem judenchristlichen Schreiben, das vor diesem Zeitpunkt entstanden sein müsste und das auf paulinische Theologie antwortet, wäre überraschend, dass die Kontroverse um die Aufnahme der Heiden ohne Beschneidung und Verpflichtung auf das Gesetz sowie die Diskussion um Reinheitsgebote, Speisevorschriften, Sabbat, Kult und Tempel nicht aufscheint. Der Text scheint einer späteren Zeit anzugehören, in der diese Themen in den Gemeinden nicht mehr im Vordergrund standen.

Auch der Passus 2,14–26 zeigt die Akzentverschiebung einer späteren Zeit. Im Unterschied zu Paulus spricht der Jakobusbrief nicht von »Werken des Gesetzes«, sondern allgemein von »Werken «. Damit steht für den Jakobusbrief nicht mehr die grundsätzliche Frage nach der Bedeutung des mosaischen Gesetzes als Heilsweg im Vordergrund, sondern mit der Betonung der Einheit von Glaube und Werken zielt er auf ein moralisch verantwortetes Handeln, in dem sich der Glaube zeigen und als echt bewähren muss. Kritik und Polemik richten sich damit nicht mehr unmittelbar gegen Paulus selbst, sondern gegen Zuspitzungen seiner Theologie in nachpaulinischer Zeit. Gegen eine Abfassung durch den Herrenbruder Jakobus spricht außerdem, dass diese Zuschreibung erst Ende des 2. Jahrhunderts begegnet, der Brief bis zu dieser Zeit offenbar nicht rezipiert wurde und noch bis ins 4. Jahrhundert nicht in allen Gemeinden unter die anerkannten Schriften gezählt wurde (Eusebius von Caesarea).

Beim Jakobusbrief handelt es sich um ein Produkt der frühchristlichen Pseudepigraphie, d.h. er gehört zu jenen Schriften, bei denen der reale Autor seine Identität hinter dem Namen einer anerkannten Gestalt der Anfangszeit verbirgt, um mit ihrer Autorität seinem eigenen Anliegen Geltung zu verschaffen. Dass der als Absender des Briefes genannte Jakobus mit dem Herrenbruder zu identifizieren ist, wird im Text nicht ausdrücklich gesagt, scheint aber wahrscheinlich, da andere aus den neutestamentlichen Schriften bekannte Träger dieses Namens ausscheiden. Jakobus, der Sohn des Zebedäus, gehörte zwar wie sein Bruder Johannes neben Simon Petrus zu den herausragenden Gestalten des Zwölferkreises (vgl. Mk 1,29; 3,17; 9,2; 10,35.41; 13,3; 14,33), wurde jedoch bereits Anfang der 40er Jahre in Jerusalem durch den jüdischen König Agrippa I. hingerichtet (Apg 12,2). Jakobus, der Sohn des Alphäus, war als Mitglied des Zwölferkreises gewiss eine prominente Figur (vgl. Mk 3,18), bleibt in der frühen Überlieferung aber eine weitgehend blasse Gestalt. Dies gilt noch mehr für die weiteren Personen dieses Namens in den neutestamentlichen Schriften (vgl. Mk 15,40; 16,1; Lk 6,16; Apg 1,13). Die Wahl des Herrenbruders verdankt sich der Absicht, eine im Gegenüber zu Paulus profilierte Gestalt aufzubieten, um mit seiner Autorität eine Theologie zurückzuweisen, die sich auf Paulus berief; doch ist dies nicht die einzige Funktion des Briefes. Da der Herrenbruder schon früh als »Gerechter« und damit als mustergültig Frommer galt, bot er sich als geeigneter Absender an für ein Schreiben, das mit einer Vielzahl von Mahnungen zu moralischer Vollkommenheit im Handeln auffordern will.

Traditionsgebundenheit

Der Jakobusbrief schöpft aus einem breiten Strom konventioneller jüdischer und hellenistischer moralischer Unterweisun gen; dies zeigen zahlreiche Parallelen zu einzelnen Mahnungen in alttestamentlichen, frühjüdischen und antiken philosophischen Schriften. Das inhaltliche Profil und die theologische Eigenart des Briefes ergeben sich deshalb nicht aus den einzelnen Mahnungen, sondern aus der Auswahl und Zusammenstellung des traditionellen Materials. Eine klare Struktur und ein stringenter Aufbau jedoch fehlen dem Jakobusbrief, der außer der Eröffnung mit Angabe von Absender und Adressaten sowie Eingangsgruß (1,1) keine brieflichen Elemente besitzt. Die einzelnen Mahnungen scheinen weitgehend lose aneinandergefügt und nur vereinzelt durch Assoziationen oder Stichworte miteinander verknüpft. Sie sollen aber unter dem übergeordneten Gedanken der Aufforderung zu moralischer Vollkommenheit zusammengefasst und gelesen werden (1,4.17.25; 2,8.22; 3,2). Diese besteht nach dem Jakobusbrief darin, dass der Glaube im Alltag von Gemeinde und Welt gelebt und durch konkrete Werke wirksam wird (1,22f; 4,17). Der Glaube, der sich in vielfältigen Prüfungen und Versuchungen durch Standhaftigkeit und Geduld bewähren muss (1,3.12f; 5,7f), soll wirksam werden in der Liebe zum Nächsten, in der das göttliche Gesetz zusammengefasst ist (2,8) und die sich im Umgang mit Armut und Reichtum und mit sozialen Unterschieden in der Gemeinde realisiert (1,9–11; 2,1–5; 5,1–6), aber auch durch Bescheidenheit, Demut und Rücksichtnahme im Auftreten gegenüber allen Mitgliedern der Gemeinde (3,13; 4,6.11).

Parallelen zwischen dem Jakobusbrief und anderen frühchristlichen Schriften sind durch den traditionellen und konventionellen Charakter der einzelnen Mahnungen zu erklären, nicht durch Benutzung und direkte Abhängigkeit. Dies schließt auch die Parallelen zu Herrenworten der synoptischen Evangelien ein (z. B. das Verbot zu schwören in 5,12 und Mt 5,34–37; vgl. auch 1,22f; 5,2.9); das Fehlen einer entsprechenden Einleitungs- oder Zitationsformel zeigt, dass der Verfasser des Briefes dieses Material nicht als Herrenworte kannte und nicht dem Strom der Jesus-Überlieferung entnimmt. Parallelen in Schriften aus dem hellenistisch geprägten Judentum Alexandrias (besonders Philon) genügen wohl nicht als Indiz dafür, dass der Jakobusbrief in judenchristlichen Kreisen dieser Stadt entstanden ist. Klare Hinweise auf den Entstehungsort jedoch fehlen. Die starke Abhängigkeit von frühjüdischer Überlieferung und die hohe Qualität von Sprache und Stil lassen immerhin erkennen, dass der Verfasser des Jakobusbriefes ein gebildeter Judenchrist aus der hellenistisch geprägten Dias pora ist. Da der Jakobusbrief nicht unmittelbar auf Paulus, sondern auf Interpretationen und Fortschreibungen seiner Theologie reagiert, dürfte er erst in nachpaulinischer Zeit, wohl gegen Ende des 1. Jahrhunderts, entstanden sein.

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