Esra und Nehemia

Die Bücher Esra und Nehemia waren ursprünglich ein einziges Buch. Sie erzählen von einem inneren und äußeren Neuanfang. Mit der Eroberung Jerusalems, der Zerstörung des Tempels und der Deportation der führenden Personen in das Babylonische Exil im Jahre 587 v. Chr. war die Identität des Gottesvolkes zutiefst erschüttert. Der Staat war zusammengebrochen und mit ihm das religiöse Zentrum, der Tempel. Das Gebiet des ehemaligen Staates Juda war geschrumpft, seine Bevölkerung stark dezimiert. Nach menschlichem Ermessen dürfte sich eine Gemeinschaft unter diesen Bedingungen auflösen. In der Geschichte Israels wäre ein solches Schicksal nicht neu gewesen. Gut hundert Jahre vor dem Ende des Südreiches Juda wurde dem Nordreich Israel ein ähnliches Geschick zuteil. Im Jahre 722 v. Chr. fiel es mit seiner Hauptstadt Samaria der assyrischen Expansion zum Opfer. Ein großer Teil der Bevölkerung wurde ins Exil nach Assyrien deportiert. Das Nordreich Israel starb den Assimilationstod. Zwar konnte sich ein Teil der Bevölkerung durch Flucht in das Südreich retten, doch als eine religiöse Gemeinschaft mit eigener Identität verschwand das Nordreich Israel aus der Geschichte. Sollte es Juda nicht ähnlich ergehen? Die Not war groß. Doch diesmal gelang es, gestärkt aus der Krise hervorzugehen. Wie das möglich war, davon erzählen die Bücher Esra und Nehemia.

Es gibt immer wieder glückliche Momente in der Geschichte eines Volkes. Ein solcher Kairos war für die Juden der Untergang des Babylonischen Weltreiches und der Aufstieg der Perser unter ihrem König Kyrus II. (559–530 v. Chr.). Dieser gestattete den Juden, in ihre Heimat zurückzukehren und den Tempel wiederaufzubauen. Mit diesem sogenannten Kyrus-Edikt beginnt das Buch Esra.

Esra

Wenn eine Gemeinschaft nach einem neuen Anfang sucht, stellt sich die Frage nach der Zugehörigkeit. Diesem Zweck dienen die Listen der Heimkehrer (Esra 2). Sie verbindet eine gemeinsame Geschichte; sie repräsentieren das wahre Israel.

Sowohl bei den Zehn Geboten als auch in der Botschaft Jesu steht Gott an erster Stelle. Entsprechend beginnt der Neuaufbau der nachexilischen Gemeinde mit der Errichtung eines Brandopferaltares, der Wiederaufnahme des Opfergottesdienstes und dem damit einhergehenden Entschluss, den Tempel wiederaufzubauen. Trotz äußerer Widerstände kommen die Arbeiten nach einer etwa fünfjährigen Bauzeit im Jahre 515 v. Chr. zu einem erfolgreichen Abschluss (Esra 3; 5–6). Die Vollendung des Tempelbaus wird mit einer großen Pessachfeier begangen (Esra 6,19–22), vergleichbar dem ersten Pessach beim Einzug in das Land der Verheißung unter der Führung Josuas (Jos 5).

Dem äußeren Aufbau muss eine innere Erneuerung entsprechen. Es geht darum, dass sich die Gemeinschaft dem Willen Gottes unterstellt. Der Wille Gottes wird in der Tora des Mose offenbar. Diese muss in rechter Weise ausgelegt und verstanden werden. Dazu bedarf es der Schriftgelehrten. Ein solcher Schriftgelehrter, »kundig in der Weisung des Mose« (Esra 7,6), war Esra. Er war »von ganzem Herzen darauf aus, die Weisung des Herrn zu erforschen und danach zu handeln und Gesetz und Rechtsentscheid in Israel zu lehren« (Esra 7,10). Unter seiner Leitung wurde die nachexilische Gemeinde neu aufgebaut. Dabei mussten schmerzhafte Entscheidungen getroffen werden. Führende Männer des Volkes hatten Frauen aus anderen Völkern geheiratet. Damit haben sie gegen das Bündnisverbot der Tora verstoßen (Ex 34,16; Dtn 7,1–4). Es kommt zur Auflösung der sogenannten Mischehen (Esra 9–10). Die Auflösung der Mischehen gehört nach heutigen Maßstäben zu den hoch problematischen Passagen des Buches. Das Problem wird auch im Buch Nehemia in ähnlich radikaler Weise gelöst (Neh 13,23–31). Eine Ehe wird in den westlichen, christlich geprägten Kulturen weitgehend als eine freie Entscheidung zweier Menschen auf der Grundlage individueller und affektiver Zuneigung verstanden. In vielen Kulturen jedoch werden Ehen vor allem unter politischen, kulturellen und religiösen Gesichtspunkten geschlossen. In Esra und Nehemia finden sich Hinweise, dass die Mischehen führender Schichten der jüdischen Bevölkerung gezielt auf eine interkulturelle und interreligöse Lebensform hin ausgerichtet waren. Das widerspricht nun den wesentlichen Zielen des Neuanfangs. Denn schon einmal war Israel ins Verderben gelaufen, als es sich den Lebensformen anderer Völker mit ihren Göttern angepasst hat. Unter dem Gesichtspunkt der Identitätssicherung durch Abgrenzung lässt sich das für das nachexilische Judentum wichtige Gebot der endogamen Eheschließung verstehen (vgl. Tob 4,12f; 7,10–12).

Nehemia

Die neue Gemeinschaft bedarf auch des äußeren Schutzes. Dieser wird mit dem Wiederaufbau der Stadtmauern und der Wiederbesiedlung Jerusalems in die Wege geleitet. Verantwortlich dafür ist Nehemia, ein von der persischen Regierung mit dem Wiederaufbau beauftragter Statthalter.

Eine religiöse und politische Gemeinschaft bedarf auch des inneren Friedens und des sozialen Ausgleichs. Wenn große Teile des Gottesvolkes verarmen, widerspricht das dem in der Tora bezeugten Willen Gottes. Durch Schuldenerlass sorgt Nehemia für die innere Befriedung und das unabdingbare Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Juden (Neh 5).

In einem öffentlichen Gottesdienst auf dem Tempelplatz wird die Tora feierlich verlesen und ausgelegt (Neh 8). In einem Bußgebet, dem längsten Gebet innerhalb des Alten Testaments, schaut die Gemeinde zurück in die Vergangenheit und richtet zugleich den Blick nach vorn in die Zukunft. Es reflektiert die bisherige Geschichte, ruft die Gründe für das vergangene Scheitern in Erinnerung und zieht Schlussfolgerungen daraus für eine gute Zukunft unter dem Segen Gottes (Neh 9). Mit der feierlichen Einweihung der neu errichteten Mauern wird Jerusalem zur heiligen Stadt (Neh 11,1), in der das aus dem Exil, das heißt dem Gericht Gottes gerettete und von allem Fremden gereinigte Volk Gottes wohnt.

Von den drei großen Institutionen Israels, dem Tempel, dem Königtum und der Tora, werden nach dem Exil Tempel und Tora wiedereingesetzt. Das Königtum hingegen bleibt auf der Strecke. Das Gottesvolk will nicht mehr als Staat mit einem König an der Spitze existieren. Sein einziger König ist Gott, der Herr.

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