Deuteronomium/5. Buch Mose

Stellung im Pentateuch und Name des Buches

Das fünfte und letzte Buch des Pentateuch bildet eine ausgedehnte Schlussfermate der großen Anfangserzählung Israels. Denn es ist durchgängig als Abschiedsrede des Mose an Israel stilisiert und bietet außer dem Bericht vom Tod des Mose im Schlusskapitel (Dtn 34) kaum noch einen Erzählfortgang. Schauplatz dieser Abschiedsrede sind die »Steppen Moabs« im Ostjordanland, wohin das Volk Israel auf seiner vierzigjährigen Wüstenwanderung vor dem Jordanübergang gelangt ist. Auch Moses Tod ereignet sich im Ostjordanland: Vom Berg Nebo kann Mose das Gelobte Land nur noch aus der Ferne schauen (34,4).

Die Moserede setzt sich aus Gesetz und Gebot (12–26), Mahnung und Belehrung (5–11; 27–30) sowie Rückblicken auf die Stationen der Wüstenwanderung (1–4) zusammen. Die sich daraus ergebenden Wiederholungen zu den Geschehnissen der Wüstenwanderung, wie sie in den Büchern Exodus bis Numeri erzählt sind, haben dem fünften Buch des Pentateuch den griechischen Namen »Deuteronomium« (»zweites Gesetz«) verschafft, nach der in 17,18 genannten »Wiederholung/Zweitschrift der Tora« (hebr.: mischnä ha-tora).

Literarischer Aufbau und Werdegang des Buches

Kern und ältesten Bestandteil des Deuteronomiums bildet das »Deuteronomische Gesetz« in 12–26, das nach dem »Bundesbuch « (Ex 21–23) und dem »Heiligkeitsgesetz« (Lev 17–26) die dritte Gesetzessammlung (Kodex) des Pentateuch darstellt. Sie ist thematisch nach den Dekaloggeboten geordnet und enthält Regelungen zum Kult (12–14; 16), zu sozialen Fragen (14,28–15,18; 23,16–25,4), zur Neuordnung der Staatsverfassung (16,18–18,22) und des Militärs (20,1–20; 23,10–15) sowie der Familie (21,15–21; 22,13–23; 24,1–4; 25,5–10). Sie mündet in ein Erntedankritual mit einem identitätsstiftenden Bekenntnis der Israeliten (26,1–11: sog. »kleines geschichtliches Credo«). In welcher literarischen und historischen Beziehung diese Gesetzessammlung zu der im Jerusalemer Tempel unter König Joschija aufgefundenen Gesetzesrolle und der in 2 Kön 22f geschilderten Kultreform steht, bleibt in der gegenwärtigen Forschung umstritten. Die textlichen Bezüge zum deuteronomischen Gesetz sind jedenfalls überdeutlich.

Eine erste Erweiterung erfuhr dieser Kern des Deuteronomiums durch die Rahmung mit ausgedehnten Mahnreden (»Paränesen «: 5–11; 27–30). An ihrer Spitze steht der Dekalog als Gottesrede (5,1–22), der sich von den Mahnungen der folgenden Moserede abhebt (5,23–6,3). Sie gehen vom Hauptgebot der Gottesliebe (6,4–9) aus, entfalten es (7–11) vor der dunklen Hintergrundfolie des Bundesbruchs mit dem Goldenen Kalb (9,9–29) und stellen es auf die Grundlage der zweiten Gesetzestafeln, die Mose in die dafür angefertigte Lade legt (10,1–5).

Die auf das Gesetz (12–26) folgenden Rahmenteile 27–28 enthalten als Sanktionsbestimmungen für Gesetzestreue bzw. Gesetzesbruch Anweisungen zu Segen und Fluch. Dabei lehnen sich die Segens- und Fluchworte von 28 (»Moab-Bund«) an das Sanktionsformular neuassyrischer Vasallenverträge an. Die Paränesen schließen mit mahnenden Rückblicken auf die Erfahrungen von Ägyptenaufenthalt und Wüstenwanderung und mit warnenden Ausblicken auf die Zukunft im Gelobten Land (29f), ehe Mose Israel zur Entscheidung zwischen Segen und Fluch, Leben und Tod aufruft (30,15–20).

Eine zweite, noch jüngere Rahmung des Gesetzeskerns stellen die Rückblicke auf die Stationen der Wüstenwanderung zu Beginn des Buches dar (1–3); sie münden in ein Lob des Gesetzes (4,5–8), eine Einschärfung des Bilderverbots (4,15–22) und in das monotheistisch formulierte Bekenntnis zu JHWH als dem einzigen Gott der Welt (4,35–40). Am Buchschluss enthalten die jüngsten Rahmenteile Ergänzungen in Prosa und Poesie: Die Anordnung und Einsetzung Josuas als Mosenachfolger (31) sowie der Bericht vom Tod des Mose (34) rahmen die poetisch gestalteten Kapitel mit »Moselied« (32) und »Mosesegen« (33).

Als Entstehungszeit mag für Teile des deuteronomischen Gesetzeskerns noch die vorexilische Epoche der ausgehenden Königszeit angenommen werden, während die Paränesen und die äußeren Rahmenteile erst in der exilischen und nachexilischen Epoche als Rückblick auf die Katastrophe von 587 v. Chr. und ihre Bewältigung sowie als Impulstexte für den Neubeginn nach 539 v. Chr. verfasst wurden und langsam zum Buchganzen gewachsen sind.

Inhaltliche Schwerpunkte und Besonderheiten

An der Spitze des Gesetzeskerns (12,2–28) steht das Gebot der Kultzentralisation; es beschränkt die JHWH-Verehrung auf ein einziges legitimes Heiligtum (Mono-JHWH-ismus). Nach dem Bericht von der Durchsetzung des Gebots in der Kultreform König Joschijas (2 Kön 22f) ist dies der Jerusalemer Tempel. Mit der Zentralisierung des Kultortes geht einher die auf das Hauptgebot 6,4f gründende und häufig wiederholte Einschärfung der Ausschließlichkeit der JHWH-Verehrung (Monolatrie). Diese ausschließliche Beziehung Israels zu seinem Gott ist als Bund gedeutet (»Horeb-Bund« nach 5,2–5): Der göttlichen Erwählung Israels als JHWHs Eigentumsvolk korrespondiert Israels Treue in strenger Beobachtung der göttlichen Gebote (7,6–11). Die Bundesformel formuliert dieses wechselseitige Verhältnis so: JHWH ist der Gott Israels und Israel ist das Volk JHWHs (26,17–19). Das Hauptgebot 6,4f beschreibt die Beziehung Israels zu seinem Gott als personales Liebesverhältnis, das alle emotionalen Kräfte des Menschen erfordert (30,6).

Das soziale Handeln von JHWHs Eigentumsvolk richtet das deuteronomische Gesetz an den schwächsten Gliedern der Gesellschaft aus: Sklaven, Fremde, Waisen, Witwen sind ausdrücklich Mitglieder der Festgemeinschaft Israels (16,11.14); Arme und Verarmte haben Anteil am Zehnten (14,28f), an der Ackerbrache im siebten Jahr (15,1–6) und an Pfandleihe und Kredithilfen (15,7–11).

Die erstaunlichen Ausnahmeregelungen bei der Rekrutierung des Heeres in 20,5–9 tragen die Bezeichnung »Humanitätsgesetze « und sind Zielforderungen einer künftigen Idealgesellschaft. Das Ämtergesetz in 16,18–18,22, auch »Verfassungsentwurf« genannt, beschränkt den König auf die Rolle eines Toragelehrten (17,14–20), profiliert dagegen den Propheten nach dem Vorbild des Mose als kontinuierliche Leit- und Orientierungsgestalt des Volkes (18,15–18).

Scharnierfunktion im Alten Testament

Die formelhafte Sprache des Deuteronomiums, ebenso die inhaltlichen Ideale und Intentionen seiner Gesetzgebung und Mahnreden finden sich sowohl in den dem Deuteronomium vorausgehenden Büchern des Pentateuch als auch in den folgenden Geschichtsbüchern und darüber hinaus in Propheten und Psalmen, so dass man mit gutem Recht von einer Scharnierfunktion des Buches und einer deuteronomistischen Prägung und Überarbeitung großer Teile der alttestamentlichen Literatur aus dem Geist des Deuteronomiums sprechen kann. Deuteronomistische Überarbeitungen und Redaktionen finden sich beispielsweise in den Paschavorschriften des Buches Exodus (Ex 12,25–27; 13,3– 16), in den Erweiterungen des Dekalogs (Ex 20,5f) und im Kundschafterbericht des Buches Numeri (Num 14,10–24).

Maßstäbe und Wertungen des deuteronomischen Gesetzes und seiner rahmenden Paränesen prägen auf weite Strecken die Geschichtsdarstellung der Bücher Josua bis 2 Könige (s. Jos 23f; Ri 2f; 1 Sam 12; 2 Sam 7; 1 Kön 8; 2 Kön 17). So wird die Einhaltung des Gebots der Kultzentralisation von Dtn 12 zum Maßstab bei der Bewertung der Könige Israels und Judas; sie ergeht in der stereotypen deuteronomistischen Formulierung: »Der König NN. hat Gutes/Böses in den Augen JHWHs getan« (s. z. B. 1 Kön 22,43.53). Diese und andere Beobachtungen haben zur These des »Deuteronomistischen Geschichtswerkes« geführt, das die Texte der Bücher Dtn bis 2 Kön umfasst haben soll.

Von den Prophetenbüchern ist besonders das Jeremiabuch von der Sprache und den ethischen Maßstäben des Deuteronomiums geprägt. Sie werden deutlich artikuliert etwa in der Tempelrede Jeremias (Jer 7,21–28), in den Klagen über den Bundesbruch (11,1–10; 31,32) und in der Kritik an Königen (21,1–10) und Propheten (23,25–32; 27,9f; 29,8f). Im Psalter bedienen sich die im Kult auftretenden prophetischen Einzelstimmen der Psalmen 81,6.9–17; 85,9–14; 95,7–11 sehr deutlich der Sprache und Denkungsart des Deuteronomiums.

Aus der Wirkungsgeschichte

Das Hauptgebot von 6,4f und seine in 6,6–9 angeschlossenen Bestimmungen sind in Judentum und Christentum die wirkungsgeschichtlich bedeutendsten Texte des Deuteronomiums geworden. In der jüdischen Liturgie werden 6,4f (Das Schma’ Jisra’el) beim Abend- und Morgengebet täglich rezitiert. Das wörtliche Verständnis von 6,6–9 hat sich im Brauch der Tefillin-Gebetsriemen um Arme und Stirn und der Mezuzot-Kapseln an den Türeingängen niedergeschlagen; er ist bereits in Qumran (2./1. Jh. v. Chr.) bezeugt. In den Tefillin und Mezuzot befinden sich auch Texte des Deuteronomiums.

Die Geschehnisse um Moses Tod auf dem Nebo (Dtn 34) und das Geheimnis seines Grabes (s. auch Judasbrief 9) nimmt die unvollständig erhaltene jüdisch-apokalyptische Schrift »Die Himmelfahrt des Mose« auf; sie ist zu Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. entstanden und steht der Qumran-Literatur nahe.

Im Neuen Testament lassen die synoptischen Evangelien Jesus nach gut rabbinischer Tradition das Gebot der Gottesliebe (Dtn 6,4f) zusammen mit dem Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) als erstes und wichtigstes Gebot der Tora bezeichnen (Mk 12,28–34 par.). In den Versuchungserzählungen bei Mt 4,1– 11; Lk 4,1–13 weist Jesus mit drei Zitaten aus dem Deuteronomium (Dtn 8,3; 6,16; 5,9 mit 6,13) den Versucher und seine Verlockungen zu einem vordergründigen Messiasverständnis zurück und besteht damit die Versuchung in der Wüste.

Aus der musikalischen Wirkungsgeschichte ist auf eine prominente Vertonung der Rühmung von Israels Gesetz (Dtn 4,8f) in den »Fest- und Gedenksprüchen«, op. 109/3 von Johannes Brahms aus dem Jahr 1888 zu verweisen: »Wo ist ein so herrlich Volk?« Weniger bekannt geworden ist bisher die sinfonische Dichtung »Der Tod des Moses« von Alexander Goehr aus dem Jahr 1992.

Diese letzte Szene des Buches und des Gesamtpentateuch findet sich bisweilen auch in den großen Mosezyklen der Kunstgeschichte, so auf der ausführlichen Mosaikreihe der rechten Langhauswand in Santa Maria Maggiore in Rom aus dem 5. Jahrhundert n. Chr., in der mittelalterlichen Buchmalerei und auf Glasmalereien wie im Fenster 4 der Sainte Chapelle in Paris, das dem Buch Deuteronomium gewidmet ist.

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