Seelsorge: Mehr als StrukturreformenDie Zeichen der Zeit verstehen

Die in den letzten Jahren in den deutschen Bistümern in Gang gesetzten und im Wesentlichen abgeschlossenen pastoralen Strukturreformen hinterlassen einen zwiespältigen und aufs Ganze gesehen unbefriedigenden Eindruck. Zwar geben sich einige (Erz-) Bischöfe programmatisch. Aber im Ganzen überwiegen die Einschätzungen, sich mit den Strukturreformen zufriedengeben zu dürfen und das derzeit Mögliche getan zu haben.

Fazit

Die pastoralen Strukturreformen leiden an inhärenten Blockaden. Sie sind zu lösen in der Ernstnahme der „theologalen Erfahrung" der Laien und früher Gedanken des heutigen Papstes. 

Erzbischof Zollitsch von Freiburg, damals noch nicht Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, äußerte auf einem Studientag der deutschen Bischöfe im April 2007: „Wir müssen weit mehr als bisher damit ernst machen, dass Seelsorge nicht allein Aufgabe der Priester und noch weiter gefasst, nicht allein Aufgabe der hauptamtlich in der Kirche Tätigen ist, sondern verstärkt Sache möglichst vieler in den Pastoralverbünden und Seelsorgeeinheiten." Ähnlich sein Weihbischof Paul Wehrle, der darauf hinwies, dass in der Kirche nicht nur gefragt werden dürfe: „Für welche Aufgaben brauchen wir noch jemanden, sondern auch, was will uns der Geist Gottes durch vorhandene Talente erst als bedeutsame Herausforderung der Gemeinde zeigen." Im Ganzen aber gab man sich mit den Strukturreformen zufrieden. 

Die Vielstimmigkeit der Begründungen

Dabei fällt die Vielstimmigkeit der Begründungen der Strukturreformen auf, die ein Indiz dafür ist, dass man sich seiner Sache nicht so richtig sicher ist. Am lautesten sprechen die Bischöfe von den größeren Lebensräumen, in denen sich heute das Leben abspiele. Die Mobilität der Menschen stelle eine pastorale Herausforderung dar. Diesen größeren Lebensräumen müsse sich die Seelsorge strukturell anpassen, um bei den Menschen zu sein. Sie sprechen vom Katholikenmangel in den Gemeinden, insbesondere vom Gottesdienstbesuchermangel, so dass die Seelsorge „über die Verhältnisse" lebe, wenn sie in ihren bisherigen kleinräumigen Strukturen weiterarbeite. Wesentlich verhaltener sprechen sie von den finanziellen Engpässen ihrer Diözesen als Grund der Strukturreformen, am verhaltensten aber vom Priester- beziehungsweise Pfarrermangel, als rangiere dieser gewissermaßen erst am Schluss. 

Aus dieser Begründungsvielstimmigkeit spricht Unentschlossenheit, sich den tatsächlichen pastoralen Herausforderungen konsequent zu stellen. Man muss es deutlich sagen: Mit ihren Reformschritten sehen die Bischöfe den heutigen Herausforderungen nicht entschlossen genug ins Auge. 

Die Verantwortung der Theologie

Angesichts dieser Situation ist es offensichtlich die Aufgabe der Theologie, insbesondere der Praktischen Theologie, das Terrain der pastoralen Herausforderungen genauer abzuschreiten und nach Lösungen zu suchen, die sich nicht zuletzt aus dem Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils her nahelegen. Dazu wird die Theologie ja auch durch Äußerungen von Bischöfen animiert. So schrieb Kardinal Lehmann der Theologie in einem Beitrag ins Stammbuch, dass sie die im Konzil unerledigt gebliebenen Aufgaben „auf ihre eigene Verantwortung hin mutig auf(zu) nehmen und weiter(zu)führen" habe. Unter diese Aufforderung muss man heute ohne Frage die Beschäftigung mit den pastoralen Strukturreformen subsumieren. Ähnlich äußerte sich im Januar letzten Jahres Bischof Wanke, der in einem Vortrag vor dem Katholisch-Theologischen Fakultätentag in Erfurt den Theologinnen und Theologen zu verstehen gab, dass die Bischöfe sie als theologische Lehrer bräuchten, „die nicht einfach das Alte nur wiederholen, als ob es dadurch richtiger würde". 

Die „Zeichen der Zeit" als die Praxis verändernde Zeichen 

Wenn man als Theologe dieser Aufforderung nachkommt, muss man auf das Zweite Vatikanische Konzil blicken. Das Konzil sprach in verschiedenen Zusammenhängen von der Bedeutung der „Zeichen der Zeit". Es sei notwendig, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten" (GS Art. 4). Ohne Frage mag in der größeren Mobilität des heutigen Lebens ein Zeichen der Zeit liegen, wobei man diese Mobilität nicht allein als räumliche, sondern vor allem als existentielle Kategorie zu deuten hat. Ungleich schärfer aber liegt im heutigen Priester- beziehungsweise Pfarrermangel ein Zeichen der Zeit, das die Kirche zu neuem Handeln und zum Mut zu neuen Handlungsstrukturen herausfordert. Nun ist es gerade das Charakteristikum der Zeichen der Zeit, dass sie in ihrer vollen Bedeutung erst dann realisiert und erfasst werden, wenn sie tatsächlich zu wirkmächtigen, die Praxis der Kirche verändernden Zeichen werden. Vorher nicht. Wie ist nun von daher mit der Tatsache umzugehen und wie ist sie zu deuten, dass heute in der Tat viele Stimmen im Gottesvolk neben dem bestehenden traditionellen Priestertum eine Öffnung der Zugangswege zum Amt auch für verheiratete im Beruf stehende Männer und auch für Frauen fordern beziehungsweise sich vorstellen können und wünschen? Dürfen solche Forderungen und Wünsche als indiskutabel zurückgewiesenen werden? Kommt solche Zurückweisung nicht einer Verweigerung vor den Zeichen der Zeit gleich? 

Die Deutungskompetenz des Gottesvolkes 

Man muss sich nur vergegenwärtigen, dass die Pastoralkonstitution Gaudium et spes in Artikel 44, über den erwähnten Artikel 4 hinaus, den „verschiedenen Sprachen unserer Zeit", sagen wir dafür, dem Wahrnehmungshorizont der Menschen von heute, eine Deutungskompetenz zuspricht, um unter dem Beistand des Heiligen Geistes die geoffenbarte Wahrheit immer tiefer zu erfassen und besser zu verstehen. Das ist ein erheblicher, geradezu revolutionärer Schritt über die Maßgabe des Artikels 4 hinaus. Gewiss ist hier (nur) von der geoffenbarten Wahrheit die Rede, und nicht - wenn man so will - lediglich von kirchendisziplinären Fragen wie den Zulassungsbedingungen zum kirchlichen Amt. Daraus ergibt sich aber umso klarer, dass, nach GS Art. 44, dem Gottesvolk die ihm eigene Kompetenz nicht abgesprochen werden darf, dass es unter dem Beistand des Heiligen Geistes angesichts der heutigen pastoralen Not- und Unterversorgung eigene Lösungsvorschläge unterbreitet. Dies gilt umso mehr, wenn man sich der These der „theologalen Erfahrung" von Giuseppe Ruggieri anschließt, die besagt, dass beim Volk Gottes - hier im Gegenüber zu Bischöfen und Theologen verstanden - sogar die ursprünglichere Kompetenz liegt, aufgrund seiner Wahrnehmung und in seiner Sprache auf Handlungsnöte und Handlungsanforderungen hinzuweisen, die leider nur zu oft „weiter oben" nicht oder nur mit spitzen Fingern angerührt oder gar blockiert werden. 

Die Bischöfe tun sich schwer, mutige Schritte zu tun. Karl Rahner hatte bereits vor vielen Jahren das Problem benannt. Es besteht darin, dass die Kirche die Erkenntnis, wie sie in einer konkreten Situation handeln soll, nicht einfach aus der Offenbarung schöpfen kann. Er rechnete aber mit dem Beistand des Heiligen Geistes: „D(ies)er Einfluss des Geistes wird ... vor allem darin zu sehen sein, dass die Kirche einerseits eine ... Analyse wagt, die für sie damit unter Umständen gegebenen harten Erkenntnisse nicht verdrängt, sondern sich ihnen unbefangen und demütig stellt, und andererseits darin, dass die Kirche aus der unübersehbaren Fülle der einzelnen Tatsachen und Ergebnisse einer solchen Analyse diejenigen hervorzuheben vermag, an denen ihr der charismatische Anruf des Geistes zu ihren eigenen Entscheidungen und Weisungen vermittelt wird." In der Tat kommen berechtigte Zweifel auf, ob die Strukturreformen der Bischöfe den charismatischen Anruf des Geistes hinreichend vernommen haben. Geht es doch bei den Reformen nicht selten unter dem Titel der Mobilitätsanpassung um die Aushöhlung bisheriger Gemeinden und ihrer Potentiale. Wir verkennen dabei nicht, dass es durchaus nicht Bimehr lebensfähige Gemeinden gibt, etwa in Diasporagebieten oder in weiten Teilen der neuen Bundesländer, in denen Ortsgemeinden nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Ansiedlung von Flüchtlingen und Vertriebenen entstanden waren, die heute geschrumpft und ausgedünnt sind. Aber die in diesem Sinn ausgedünnten und geschrumpften Gemeinden sind nicht das generelle Problem. 

Geringschätzung der Ortsgemeinden? 

Das Problem liegt in einem anderen Punkt. Es liegt unserer Meinung nach in einer gewissen Missachtung, oder sollen wir vorsichtiger sagen Geringschätzung, der ekklesialen Würde und Sakramentalität konkreter Ortsgemeinden durch Bistumsleitungen und Generalvikariate. Hier muss man immer wieder an einen berühmten Einschub in Lumen gentium Artikel 26 erinnern, dessen Sätze, bei allem Einschubcharakter, den sie haben, die ekklesiale Würde der Ortsgemeinde herausstellen: „Die(se) Kirche Christi ist wahrhaft in allen rechtmäßigen Ortsgemeinschaften der Gläubigen anwesend (ecclesia vere adest)". Dieser Einschub in langen Ausführungen über die Gesamtkirche und die Hierarchie stellt eine überraschende und höchst sinnvolle Perspektivenumkehr des Verständnisses der Kirche von den Ortsgemeinden und ihrem konkreten Leben in Verkündigung, Liturgie und Diakonie her dar. Er spricht den Ortsgemeinden das wahre Kirchesein zu. So kann LG Art. 26 fortfahren: „In diesen Gemeinden, auch wenn sie oft klein und arm sind oder in der Diaspora leben, ist Christus gegenwärtig (praesens est Christus)." Man wollte, nach den Worten Rahners, „die konkrete Kirche des alltäglichen Lebens da sehen, wo sie den Tod des Herrn feiert, das Brot des Wortes Gottes bricht, betet, liebt und das Kreuz des Daseins trägt, wo ihre Realität wirklich eindeutig und greifbar mehr ist als eine abstrakte Ideologie." An dieser theologischen Sicht der Ortsgemeinden haben sich die Bischöfe offensichtlich zu wenig orientiert. 

Aufgrund des Vorausgehenden müssen wir also drei bedenkliche Mängel der Reformen erheben: Zum einen die eben skizzierte ekklesiale Geringschätzung der Ortsgemeinden, zum anderen das weitgehende Verschweigen des Priestermangels als Grund der Reformen und schließlich die Geringschätzung der „theologalen Erfahrung" des Gottesvolkes. Die bischöflichen Reformen leiden an inhärenten Blockaden, die gelöst werden müssen. 

Aufbruch 

„Die Zeichen der Zeit" verstehen die Bischöfe dann, wenn sie aus ihnen den Mut zu neuen Handlungsstrukturen ableiten. Dabei sind sie in manchen ihrer Schritte auf einem guten Weg. So, wenn Erzbischof Zollitsch, wie eingangs bereits erwähnt, davon spricht, dass Seelsorge verstärkt die Sache möglichst vieler in den Pastoralverbünden und Seelsorgeeinheiten sein müsse, über den Kreis der Hauptamtlichen hinaus. Nur, warum dies erst in den neuen Seelsorgeeinheiten und nicht schon in den bisherigen Gemeinden? Es braucht hauptamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger, die die dem Gottesvolk eigenen Seelsorgekompetenzen tatsächlich fördern. Und dies nicht erst auf dem Terrain großer „Mobilitätsregionen". Die Bischöfe sprechen zwar immer wieder vom „Schatz" der Gemeinden, aber wenn es darauf ankommt, halten sie von diesem Schatz wenig. Es bedarf mühsamer Prozesse in den Ortsgemeinden, in denen die Menschen lernen können, sich als Subjekte der Gemeinden zu erfahren. Es bedarf der Prozesse, in denen die Diversität ihres Lebens, die Vielschichtigkeit und die Vielstufigkeit ihrer Gemeindezugehörigkeit als „Gemeindeschatz" da sein dürfen. Um solche Prozesse voranzutreiben aber braucht es die behutsame Hand pastoral Hauptamtlicher, deren Zahl nicht reduziert und nicht in eine größere Fläche zurückgezogen werden darf. Das wiederum läuft darauf hinaus, dass die bisherigen Amtsformen nicht mehr ausreichen, dass es neuer Formen des Amtes bedarf. Und da ist von Neuem mit Nachdruck an Gedanken Benedikt XVI. als Theologe aus dem Jahre 1970 zu erinnern. Auf die Frage, wie die Kirche im Jahr 2000 aussehen werde, schrieb er damals: Die Kirche der Zukunft „wird als kleine Gemeinschaft sehr viel stärker die Initiative ihrer einzelnen Glieder beanspruchen. Sie wird auch gewiss neue Formen des Amtes kennen und bewährte Christen, die im Beruf stehen, zu Priestern weihen. In vielen kleineren Gemeinden bzw. in zusammengehörigen sozialen Gruppen wird die normale Seelsorge auf diese Weise erfüllt werden. Daneben wird der hauptamtliche Priester wie bisher unentbehrlich sein". Diese Sätze sprechen für sich. 

An ihnen hat sich das Volk Gottes zu orientieren. Ratzinger hatte dabei das Jahr 2000 im Auge. Und heute schreiben wir bereits das Jahr 2009! Ob nicht ein „Pastorales Zukunftsgespräch", das das Zentralkomitee der deutschen Katholiken auf dem Ulmer Katholikentag 2004 ins Gespräch brachte, aus der Klemme helfen könnte? 

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