Überlegungen zu einer Theologie und Pastoral priesterlicher BerufungAnsprache und Anspruch des Priesterlichen

Grimmig und entschlossen schaut er aus, der alte Uncle Sam, der von alten Rekrutierungsposter herabblickt: „I want you to join the army!“ - Der ausgestreckte Zeigefinger trifft jeden, der sich auch nur halbwegs in die Nähe dieser Werbekampagne wagt: „I want you!“. Ganz so einfach geht es heute allerdings weder bei der Musterung zur Wehrfähigkeit noch in der Pastoral geistlicher Berufungen.

Man könnte sich schlechterdings keinen Bischof vorstellen, der einfachhin mit dem Finger auf einen Kandidaten weist und ihn mit der Macht seines Blickes und der Stärke seines Willens bindet - so notwendig es auch wäre, dass wieder mehr (geeignete) Kandidaten bereit wären, sich als Priester kirchlich in Dienst nehmen zu lassen. 

Warten auf ein Wort der Erlösung 

Gerade angesichts der kontinentalen Gottvergessenheit wird der Ruf umso dringlicher: Unsere Welt braucht Priester! Weltpriester, die die Erinnerung an das Heilige - besser: den Heiligen par excellence - in der säkularen Welt wach halten und die „große Erzählung" (Neil Postman), Gottes Heilsgeschichte mit der Menschheit, präsent machen. Die zuletzt aufgekommene Wertedebatte macht indes deutlich, wie armselig eine Gesellschaft der Ich-AG's ist, in der die ethische Dimension zur Verfügungsmasse für den eigenen Vorteil degeneriert und der Sinn für die großen Fragen des Lebens verlo- ren geht. Ob man den kursierenden Säkularisierungsthesen Glauben schenkt oder nicht, eine Respiritualisierung unseres Kontinents, die über das Aufkommen diffuser Religiosität hinausreicht, ist jedenfalls nicht erkennbar. Da drängt sich ein furchtbarer Verdacht auf, der an alttestamentliche Prophetenworte erinnert: Gott entzieht sein Wort - die härteste Strafe, die er den Menschen (seinem Volk!) überhaupt antun kann. „Tage werden kommen, Spruch Gottes des Herrn, da schicke ich den Hunger ins Land, nicht den Hunger nach Brot, nicht den Durst nach Wasser, sondern nach einem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt." (Am 8,11). Das Schreckensszenario, durch den Propheten Amos dem alttestamentlichen Gottesvolk vor rd. 2750 Jahren angedroht, klingt wie eine aktuelle Zeitdiagnose und eine Parabel auf den modernen Menschen: „Dann wanken die Menschen von Meer zu Meer, sie ziehen von Norden nach Osten, um das Wort des Herrn zu suchen; doch sie finden es nicht." (Am 8,12). Mit sich selbst beschäftigt und sich selbst genug, scheint unsere (post)moderne Welt selbst das Fragen nach ewigen Wahrheiten und unbedingten Werten vergessen zu haben. Zwar ist die Kirche auch heute durchaus geschätzt, allerdings als eine „Sinndeutungsagentur" unter vielen, und die Anwesenheit des Priesters ist gesellschaftlich erwünscht, doch seine Worte, obwohl in der Regel gern gehört, entwickeln keine Kraft und verlieren sich weithin in freundlich-wohlmeinender oder höflich-distanzierter Konversation. 

Allerdings haben der Einsturz des World Trade Centers und der Zusammenbruch der Finanzmärkte an der Wallstreet, das doppelte Trauma unserer postmodernen Weltgesellschaft, zu einer neuen Nachdenklichkeit geführt. Wo der Glaube an die Macht des Geldes und an die Selbstheilungskräfte des Marktes erlischt und Wissenschaftsgläubigkeit nicht weiter trägt, stellt eine Gesellschaft wieder Fragen: nach der Sinnhaftigkeit und Rechtschaffenheit des Lebens, nach wahrer Kommunion gegen alle Selbstbezogenheit, nach göttlicher Absolution in allem Scheitern. Eine Welt auf der Suche „nach Worten, die aus Gottes Mund kommen", nach wegweisenden und wirkmächtigen Worten. Eine Welt im Wartestand, voller Sehnsucht nach Erlösung. 

Resonanzboden für das Wort Gottes 

Dabei gibt es dieses befreiende Wort der Erlösung bereits, schon seit 2000 Jahren. Das Evangelium von der Menschwerdung Gottes ist die Gegengeschichte zum Katastrophenszenario eines Amos: „und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt" (Joh 1, 14). Gott selbst nimmt den Dialog mit der gottvergessenen Welt wieder auf. Er spricht sein Wort, das im Leben der Kirche aufklingt, die es hineinbuchstabieren soll in die Sehnsucht dieser Welt, übersetzt in immer neue gesellschaftlichen Kontexte und persönliche Lebenssituationen. Dafür braucht es Menschen, die für das Unverfügbare stehen und allein durch ihr Dasein auf die Dimension des Ewigen in allem Zeitlichen hinweisen: die der Welt das Reich Gottes ansagen, die die Eucharistie feiern und das Sakrament der Versöhnung spenden. Ja, es ist „die erste Aufgabe der Priester als Mitarbeiter der Bischöfe, allen die frohe Botschaft Gottes zu verkünden" (PO 4), und es ist ihre Schuldigkeit, diese Botschaft dem Volk Gottes nicht vorzuenthalten, das „an erster Stelle geeint [wird] durch das Wort des lebendigen Gottes, das man mit Recht vom Priester verlangt" (PO 4). 

Here I am, Lord. Is it I, Lord, 
I have heard you calling in the night. 
I will go, Lord, if you lead me.
I will hold your people in my heart. 

Text (nach Jes 6): Daniel L. Schutte SJ 

Doch ist es das, was heute vom Priester verlangt wird? In einer Zeit, da im Volk Gottes der eucharistische Hunger oft nur schwach ausgeprägt ist, da das Wort Gottes immer weniger den Menschen zu Herzen geht und den Gläubigen der Sinn für ein Leben aus der Gnade der Versöhnung abhanden gekommen ist. Wenn heute landauf landab von einer Krise priesterlicher Berufungen die Rede ist: Könnte es sein, dass Gott sein Wort und die, die es verkündigen sollen, zurückhält, da unser Glaube „weder heiß noch kalt" ist (vgl. Offb 3,15f)? Die Gemeinden haben zwar nach wie vor hohe Erwartungen an die Priester, vielleicht zu hohe, zumal in Zeiten epochaler Strukturveränderungen. Aber rechnet man im Ernst damit, dass es den Priestern vor allem um das „Wort" gehen muss, das „Fleisch" werden und in und unter uns wohnen will? Ist es also das, was die Gemeinden von ihren Priestern erwarten und warum sie - vor allen Rekrutierungsbemühungen - um Priesterberufungen beten: dass es auch morgen noch Priester gebe, damit uns das Wort Gottes nicht ausgehe, jenes wirkmächtige Wort von befreiender und verwandelnder Kraft? 

Wachstumsraum geistlicher Berufungen 

An dieser Frage müsste eine Theologie und Pastoral der geistlichen Berufe heute zentral ansetzen. Wo im Volk Gottes jener Hunger nach dem Wort Gottes lebendig ist, werden sich auch Berufene finden, diesen Lebenshunger zu stillen. Denn geistliche Berufungen sind schließlich ein Indikator für die „Faszination Kirche" wie Ausdruck einer ursprünglichen Leidenschaft für Gott. Insofern wäre es ein vornehmliches Ziel der Berufungspastoral, auf solche geistlichen Orte und Erfahrungsräume hinzuweisen, wo man aus dem Wort Gottes, aus der Gnade der Versöhnung und aus der Kraft der Eucharistie lebt: Intensivorte geistlichen Lebens, Klöster und geistliche Zentren, kirchliche Bewegungen und kleine geistliche Gemeinschaften, Bibelkreise und vocational teams … - Orte, an denen der Himmel der Erde offensichtlich näher ist. Natürlich kann man Berufungen nicht „machen", aber es bedürfte einer geistlichen Aufmerksamkeit, um wahrzunehmen, wo junge Christen in einem guten Sinn „anspruchsvoll" sind: wenn sie „mehr" wollen und sich nicht mit einer christentümlichen Religiosität zufriedengeben. 

Die Förderung geistlicher und priesterlicher Berufe müsste daher darauf bedacht sein, dem Einzelnen Perspektiven für ein erfüllendes Leben aus der Fülle der christlichen Botschaft zu vermitteln und ihm geistliche und menschliche Begleitung anzubieten, dies aber in der Freiheit, eine Berufung auch wachsen zu lassen, selbst wenn sie sich anders als erhofft entwickelt. Denn wer sich konsequent vom Evangelium formen und durchdringen lässt und sich der Dynamik des Glaubens und der Liebe anheim gibt, der wird darüber auch seine persönliche Berufung finden; dem werden sich nach und nach alle Dimensionen einer Glaubensexistenz erschließen, die befreiende Erfahrung eines sakramental besiegelten Neuanfangs ebenso wie ein persönlicher Zugang zur Eucharistie und in ihr die Kommunion mit Christus und der Gemeinschaft der Kirche. Das wäre zugleich auch eine Kriteriologie der Priesterberufung. 

Priesterliche Berufung - Anspruch und Ansprache 

Doch wer sagt es dem aussichtsreichen Kandidaten, und wer traut und mutet ihm zu, sich radikal und lebenslang als „Werbeträger" für die Wirkmacht Gottes in Dienst nehmen zu lassen und die eigene Lebensplanung hintanzustellen? Denn die Bereitschaft, interessante und interessierte Männer mit dem Anspruch der Priesterberufung zu konfrontieren, so scheint es, verhält sich umgekehrt proportional zur allseits geführten Klage über fehlende Priester. Ich erinnere mich, dass ich in einem Priesterrat einmal gebeten habe, konkret aufzuschreiben, wann man zuletzt einen jungen Mann auf das Priesteramt angesprochen hat (und zwar namentlich: wen?); es kamen meist leere Blätter zurück. Dabei muss die persönliche Ansprache auf den Priesterberuf ja nicht im Stil jener grimmig-entschlossenen Anwerbung auf dem Rekrutierungsplakat erfolgen: „I want you!". Doch die übergroße Vorsicht, nur ja keinem in einer so persönlichen Frage wie der des eigenen Lebensentwurfs zu nahe zu treten, scheint in einer individualistisch- emotionalen Engführung des Berufungsverständnisses begründet zu sein. Wo Berufung ausschließlich als persönliches Erweckungserlebnis gedeutet wird, ergeht allenfalls die Aufforderung, dem „nachzuspüren", was man im Innern fühlt. Das ist bei den biblischen Berufungsszenen allerdings anders, von David und Jeremia bis zu den Jüngerberufungen. Die potenziellen Bewerber werden da nicht gefragt, was sie spüren; es wird ihnen vielmehr gesagt, dass Gott, Jesus, das Volk Gottes sie braucht. Auch wenn die Kirche unzweifelhaft „in den Seelen erwacht" (Guardini): zum Glauben erwachte und in der Kirche engagierte junge Leute wollen auch wissen, dass und wozu sie gebraucht werden. 

Jener eigenartigen Scheu, jemanden dezidiert auf den Priesterberuf anzusprechen, liegt nicht selten eine (falsche) Rücksichtnahme auf andere kirchliche Berufe zugrunde, für die vermeintlich nur „paritätisch" geworben werden könne. Doch wird dabei verkannt, dass die Sorge um geistliche Berufe eine gesamtkirchliche Aufgabe und nicht nur Nachwuchsarbeit der jeweiligen Berufsgruppe ist, und dass es zu unterschiedlichen Zeiten auch einen unterschiedlichen Bedarf an spezifischen geistlichen Berufen gab und gibt. Überdies besteht heutzutage wohl kaum ein Grund zur Sorge, die Angesprochenen könnten hinsichtlich der Frage ihrer Berufung bevormundet werden. Wer letztlich nicht selber von seiner Priesterberufung überzeugt ist, wird dazu auch nicht überredet werden können, jedenfalls nicht auf Dauer. Dagegen: Wessen Bezug zur Kirche in ihrer konkreten Sozialgestalt getrübt ist, der wird nur schwerlich einem anderen nahelegen, sich die Frage nach dem Priesterberuf zu stellen. Nur liegt das Problem dann nicht bei den nicht angesprochenen potenziellen Bewerbern. 

Berufungspastoral und ihre Folgen 

Berufungspastoral ist allerdings alles andere als folgenlos, weder für den Angesprochenen noch für die Ansprechenden. Wem heute gesagt wird, dass er als Priester gebraucht wird, der fragt zu Recht, ob er in einer Funktion (oder die Aufrechterhaltung einer Struktur) gebraucht wird oder als Person gefragt ist: mit seinen charakterlichen Stärken und Schwächen, seinen Potenzialen und Defiziten, seiner Biographie und Lebenskompetenz. Dann muss sich zeigen, ob und wie sich die Persönlichkeit des Einzelnen mit den formalisierten Abläufen von Ausbildung und Personaleinsatz verträgt. Denn hier stehen der Respekt vor der Individualität der Bewerber und der Pluralität ihrer Glaubensbiographien und Lebensstile in Spannung zur gebotenen Interaktion und Integration in Ausbildungskommunität und Presbyterium. Um diese Balance zwischen Einheit und Freiheit muss je neu gerungen werden, was nicht immer spannungsfrei abläuft, letztlich jedoch für den Entwicklungs- und Reifungsprozess der Einzelnen wie für die Lebendigkeit und Wandlungsfähigkeit der entsprechenden Assoziationen von Gewinn ist. 

„I want you!" - Was an der eingängigen Botschaft jenes Rekrutierungsplakats besticht, ist der unbedingte Anspruch der staatlichen Autorität, die für ihre Dienste wirbt. Wer von sich selbst und seiner Mission restlos überzeugt ist, kann mit umso größerem Gewicht auch für seine Mission werben - ohne Konjunktiv und Konditional. Interne Flügelkämpfe, Überarbeitungssyndrome oder allgemeine Larmoyanz der Berufsträger dagegen geben dem potenziellen Nachwuchs wenig Anreiz, sich ernsthaft mit dem Anspruch der priesterlichen Berufung auseinanderzusetzen. Doch wenn das Heil der Menschen davon abhängt, dass Gottes Wort mit Vollmacht verkündet wird: wie sollte die Kirche dann nicht alles daransetzen, um für ihre wichtigste Mission auch die besten Kräfte zu gewinnen? Man muss ja nicht in Konkurrenz mit Universitäten und Wirtschaftsunternehmen um den besten Führungskräftenachwuchs buhlen. Aber warum sollte es nicht auch für die Kirche geboten sein, Exzellenzinitiativen für den Priesternachwuchs zu lancieren: mit speziellen Tutoren- und Trainee- Programmen im In-und Ausland, in Wissenschaft und Pastoral, in missionarischen Projekten und sozialcaritativen Einrichtungen - immer in der Perspektive des Förderns und Forderns (vgl. ermutigende Initiativen und Programme wie Missionar auf Zeit-Programme, Jesuit Volunteers, Sozialakademie / Kommende Dortmund; Crossing Over, Propädeutische Kurse in Israel; Kollegium Germanicum in Rom, Studienjahr der Dormition Abbey in Jerusalem, Studienstiftungen etc.). Als Weltkirche hätte sie alle Möglichkeiten internationaler Vernetzung, differenzierter Schulungen und exzellenter Programme, und es wäre gut investiertes Geld, sofern Ausbildung und späterer Diensteinsatz anschlussfähig sind. Voraussetzungen für solche gezielten Förderprogramme sind freilich spirituelle Lebens- und Rückzugsräume, in denen die gemachten Lernerfahrungen unter Anleitung und Begleitung reflektiert und in den Horizont des eigenen Glaubens und der persönlichen Berufung rückgebunden werden können. 

Bereitschaft wecken - und in Anspruch nehmen 

Weltjugendtag 2005. Eine Retrospektive. Rd. 15.000 Jugendliche waren in der Erzdiözese Paderborn an zwei Tagen durch die Berufungskirche gepilgert. Berufung, so die überraschende Erkenntnis, war offensichtlich ein „Thema", dem sich viele mit großer Ernsthaftigkeit und Offenheit gestellt haben. Und wie ein cantus firmus zog sich eine schlichte Melodie, von Jugendlichen immer und immer wieder angestimmt, durch die beiden Tage: „Here I am, Lord". Klingt darin nicht der Grundton der Bereitschaft an, sich herauslocken zu lassen zu einem ganzheitlichen Lebensengagement? „Hier bin ich." Es sind dieselben Worte, mit denen die Weihekandidaten vor den Bischof treten, der sie in den priesterlichen Dienst aufnimmt, allerdings nicht mit der herrischen Geste des Recruiters: „I want you", sondern mit dem einladenden Verweis auf den, der der eigentlich Rufende ist und in jeder Berufung auch Erfüllung schenkt: „Gott selbst vollende das gute Werk, das er in dir begonnen hat." (Pontificale/ Priesterweihe, 103) 

Mir scheint, wir sollten als Kirche etwas mehr davon überzeugt sein, dass Jesus auch heute (nicht nur) junge Männer in den priesterlichen Dienst am dreifachen Wort der Weisung, Vergebung und Wandlung beruft, und es spräche nichts dagegen, in diesem Sinn nicht nur Resonanzboden, sondern auch Verstärker des Gotteswortes zu sein - vorausgesetzt, die Kirche ist in allen ihren Gliedern ihrer eigenen Berufung als „Sakrament des Heils" gewiss und von der eigenen Botschaft überzeugt. Die Bereitschaft, sich in den Dienst ihrer Mission zu stellen, ist geweckt. 

Anzeige:  Herzschlag. Etty Hillesum – Eine Begegnung. Von Heiner Wilmer

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