Priesterliche Existenz und priesterlicher Dienst

Im Blick auf die Feier von 50 Jahren priesterlicher Dienst habe ich nochmals über priesterliche Existenz und priesterlichen Dienst nachgedacht. Bei dieser Besinnung habe ich den Ausgangspunkt bei den Berufungs- und Aussendungsgeschichten der ersten Jünger genommen, wie sie in allen vier Evangelien berichtet werden.

Auch wenn sie von der einmaligen und unwiederholbaren Berufung und Sendung der ersten Jünger sprechen und wenn dabei von einer Berufung und Sendung zu Priestern und zum Priestertum nicht ausdrücklich die Rede ist, lassen sich die Berufungsgeschichten als maßgebender Typos priesterlicher Berufung und Sendung verstehen.

Berufung und Bestellung

Besonders eindrucksvoll ist der Bericht bei Markus (3,13-19). Er setzt damit ein, dass berichtet wird, wie Jesus auf einen Berg stieg, wie er es bei allen wichtigen Ereignissen während seines irdischen Auftretens tat. Bereits mit dieser ersten Aussage wird also angedeutet, dass die Berufung der ersten Jünger kein beiläufiger, sondern ein herausgehobener und grundlegender Akt ist.

Die gleich darauf folgende Aussage bestätigt diesen ersten Eindruck. „Er rief die zu sich, die er wollte." Die Aktivität geht hier ganz von Jesus aus; keiner der Berufenen hat sich beworben und keiner konnte gar einen Rechtsanspruch geltend machen. Die Berufung der Jünger ist ein Akt freier und souveräner Erwählung.

Die freie Erwählung und Berufung schließt die freie Antwort der so Erwählten ein. Es heißt: „und sie kamen zu ihm." Auch die Antwort der Erwählten geschieht ohne Zwang, ohne inneren oder äußeren Druck. Die berufenen Jünger lassen sich freiwillig in Dienst nehmen. Wie die Evangelien berichten verlassen sie alles: ihre Familie, ihren Beruf, ihre Heimat und das bisschen Besitz, das sie hatten. Sie stellen sich ohne jede Bedingung freiwillig ganz und gar zur Verfügung; sie tun dies mit allen Konsequenzen, die sie im Augenblick ihrer Berufung noch in keiner Weise überschauen konnten. Sie sprechen ein „Adsum" ohne jede Rückversicherung.

Doch die entscheidende Aussage folgt erst: „Er setzte die Zwölf ein". Der griechische Text ist noch stärker: „Er machte die Zwölf", d.h. er schuf sie zu den Zwölfen. Die Berufung ist demnach mehr als eine bloße Aussonderung aus dem größeren Kreis der Jünger, mehr auch als eine bloße Ernennung; sie ist ein schöpferischer Akt, in dem „etwas" an den Jüngern und mit ihnen geschieht. In nachösterlichen Texten und in der kirchlichen Tradition ist darum von der Mitteilung einer besonderen Gnaden- bzw. Geistgabe durch Handauflegung und Gebet die Rede (vgl. Apg 14,23; 20,28; 1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6). Wir wissen, dass Gott treu ist und dass seine Gaben reuelos sind. Die Berufung hat darum von Gott her Bestand; sie prägt den Berufenen für immer, und er kann immer wieder auf die ihm gegebene Verheißung zurückkommen.

Diese schöpferische Berufung ist in den Evangelien zweifellos persönlich gemeint, aber sie wird nicht individualistisch verstanden. Die Berufenen und Erwählten werden zu den „Zwölf"; sie werden als Gemeinschaft und in eine Gemeinschaft berufen. Sie können den Dienst, zu dem sie berufen werden, nicht als Einzelkämpfer leisten, sondern nur miteinander und in Gemeinschaft tun. Sie sollen zusammenarbeiten, einander stützen, einander ermutigen, trösten und Kontakt miteinander halten. Sie sollen einander als Mitbrüder und Freunde verbunden sein.

Als Gemeinschaft der Zwölf repräsentieren die Berufenen das Zwölfstämmevolk Israel. Später ist die Kontinuität mit Israel leider weitgehend aus dem Blick geraten. Die Konflikte und der gegenseitige Ausschluss zeigen sich bereits in neutestamentlicher Zeit. Erst nach der nicht nur physischen, sondern vor allem moralischen Katastrophe der Schoah ist der Zusammenhang der Kirche mit dem Volk Israel wieder deutlicher ins Bewusstsein getreten.

Die Rückbindung an das Alte Testament bewahrt vor einer falschen Spiritualisierung oder einer trügerischen Idealisierung der Berufung; sie macht realistisch, weil sie an die konkrete geschichtliche Verwurzelung des kirchlichen Auftrags erinnert; sie deutet an, dass die Kirche - wie das letzte Konzil uns erinnert hat - als das wandernde Volk Gottes zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes unter vielen Schwierigkeiten, unter vielerlei inneren und äußeren Anfechtungen geschichtlich unterwegs ist (Lumen gentium, 8).

Sammlung und Sendung

Nach diesen grundlegenden Aussagen folgt die konkrete Zielbestimmung der Berufung. In einer prägnanten Doppelaussage wird gesagt, was Sinn und Ziel der Berufung ist. Das doppelte Sinnziel wird in einem Relativsatz formuliert: „die er bei sich haben und die er dann aussenden wollte". Es geht um Sammlung und Sendung. Dabei ist wichtig, die Zusammengehörigkeit beider Aussagen zu beachten. Beachtet man beide Aussagen, dann ist sowohl ein rein aktivistisch funktionalistisches Verständnis wie ein rein innerlich quietistisch beschauliches ausgeschlossen.

Das Johannesevangelium hat den Aspekt der Sammlung, das Bei-Jesus- Sein, in einer sehr persönlichen Weise näher beschrieben (1,35-42). Es berichtet, wie die ersten Jünger zuerst fast schüchtern Jesus nachgelaufen sind; sie wollen sehen, wo Jesus wohnt, um bei ihm zu sein. Jesus wendet sich ihnen zu mit der Einladung: „Kommt und seht!" Zunächst blieben sie den ganzen Tag bei ihm, nachher schlossen sie sich ganz seiner Lebens- und schließlich seiner Leidensschule an. So konnte Jesus seine Jünger als seine Freunde bezeichnen (vgl.15,14 f). Damit hat er das tiefste Wesen der Jüngerschaft zum Ausdruck gebracht und die innerste Mitte des Priesterseins bezeichnet: Persönliche Freundschaft mit Jesus.

Die Freundschaft mit Jesus ist die Herzmitte des Priesterseins. Sie wird sich im Leben des Priesters auf vielfältige Weise äußern: im betenden Verweilen bei Jesus, im Bedenken seiner Worte und Taten, wie sie uns die Hl. Schrift berichtet, in der konkret gelebten Nachfolge in apostolischer Einfachheit und Anspruchslosigkeit, in Ehelosigkeit, Menschen freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, die sich besonders der Kleinen und am Rande stehenden annimmt, in ansteckender Freude auch in schweren Situationen, kurzum: in einem Leben gemäß den Seligpreisungen der Bergpredigt.

Aus dem „Sein bei Jesus" wird wie bei Jesus selbst das „Sein für die anderen", die Sendung „hinaus in alle Welt", zu allen Menschen bis an die Grenzen der Erde (vgl. Mt 28,19). Der Priester ist nicht für sich da; das Priestertum hat keinen Selbstzweck. In der Nachfolge Jesu, der nicht gekommen ist, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen, hat er sein Leben dranzugeben für die vielen (vgl. Mk 10,45). Nur so ist er kein nach Stundenlohn bezahlter Taglöhner, sondern ein Hirte, ein Pastor; nur so tut er seinen pastoralen Dienst (vgl. Joh 10,11-13).

Als Ausführung dieses pastoralen Dienstes nennt die Berufungsgeschichte an erster Stelle die Verkündigung. Sie steht bei Jesus selbst und im gesamten Neuen Testament im Vordergrund. Paulus konnte sogar sagen, er sei nicht gesandt, um zu taufen, sondern um das Evangelium zu verkünden (vgl. 1 Kor 1,17). Dabei gilt es in erster Linie, die positive Option des Evangeliums, das Evangelium nicht als Gesetz, sondern als Zuspruch des Lebens und der Hoffnung zum Ausdruck zu bringen. Das Evangelium verkündigen heißt, von dem lebendigen Gott Zeugnis geben und ihn gegen alle rein innerweltlichen Verheißungen als „Leben in Fülle" (Joh 10,10) und Jesus Christus als „Weg, Wahrheit und Leben" (Joh 14,6) zu bezeugen.

Die Verkündigung wird erst recht heute die erste pastorale Priorität sein müssen. Denn die Sakramente sind Sakramente des Glaubens; die sakramentale Versorgung setzt darum den Glauben voraus, den wir heute längst nicht mehr bei allen Getauften voraussetzen können. Deutschland und Europa sind wieder Missionsland geworden; darum stellt sich dringend die Aufgabe einer neuen Evangelisierung.

Der Aussendung zur Verkündigung fügt Jesus die Vollmacht zur Austreibung der Dämonen hinzu. Sie spielte im Leben Jesu eine nicht unbedeutende Rolle. Dennoch wird man bei diesem Auftrag nicht nur und nicht in erster Linie an Exorzismen im engeren Sinn zu denken haben. Der Epheserbrief sagt viel allgemeiner, wir hätten nicht nur gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen Mächte, Gewalten, böse Geister (vgl. Eph 6,12). Der Auftrag, den die Jünger erhalten, ist also alles andere als harmlos. Heute ist das Böse in vielfältiger Weise mächtig und präsent. Wer dem Reich Gottes und damit der Wahrheit und dem Guten in der Welt Raum schaffen will, muss mit Widerständen und Konflikten rechnen.

Die eigentliche Vollmacht zum Kampf gegen das Böse ist dem Priester mit der Vollmacht zur Sündenvergebung gegeben. Jesus hat sie zum großen Ärgernis seiner Gegner ausgeübt. Sie ist das österliche Geschenk Jesu an seine Jünger (vgl. Joh 20,23). Heute werden wir uns fragen müssen, ob wir dieses österliche Geschenk noch wirklich achten, oder ob wir es nicht allzu gering schätzen. Ich bin überzeugt, dass wir mit dieser Frage einen großen Schwachpunkt der gegenwärtigen Kirche berühren.

Das Mandatum magnum

Am Ende seines irdischen Lebens und am Abend vor seinem Leiden und Sterben hat Jesus die Sendung der Zwölf gleichsam als sein Testament nochmals konkretisiert, sie auf das Wesentliche konzentriert und über den anfangs erteilten Auftrag hinausgeführt. Rückschauend hat er nochmals das zentrale Anliegen seiner Botschaft, das Kommen des Reiches Gottes, genannt; er hat auf dessen endgültiges Kommen vorausgeschaut und in der Feier des letzten Mahles unter Brot und Wein sich selbst seinen Jüngern geschenkt und damit das eschatologische Mahl vorausgefeiert (Mk 14, 22-25 par). Dann gab er den Seinen den Auftrag: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!" (Lk 22,19; vgl. 1 Kor 11,25).

„Gedächtnis" meint im Sinn der Bibel nicht nur, dass wir ein frommes subjektives Andenken wahren und dieses immer wieder feiernd begehen sollen. Im biblischem Sinn meint Gedächtnis, dass das, was einmal und ein für alle Mal durch Kreuz und Auferstehung geschehen ist, in der liturgischen Feier objektiv gegenwärtig wird, dass dabei Jesus unter Brot und Wein real gegenwärtig wird und sich uns schenkt. In solcher Gedächtnisfeier drückt sich Jesu Freundesliebe bis ans Ende, bis zur Vollendung und damit bis zum Letzten und bis zum Äußersten aus (vgl. Joh 13,19). Weiter als sich selber schenken, kann selbst Gott nicht gehen.

So kann man das Wort „Tut dies zu meinem Gedächtnis!" als Testament, ja als das „Mandatum magnum" Jesu an die Zwölf und an diejenigen, welche in ihre Sendung eintreten, bezeichnen. Es ist offenkundig, dass solches kein Mensch tun und dass keiner solche Worte im eigenen Namen sprechen kann. Dies kann nur im Namen und „in der Person" von Jesus Christus geschehen. Diesen Auftrag kann der Priester nur vollziehen, indem er Jesus Christus gleichsam seinen Mund und seine Hand leiht. Mit dem Vollzug dieses Auftrags ist das tiefste Geheimnis priesterlichen Tuns berührt: Er darf Diener und Verwalter der Geheimnisse Gottes sein (vgl. 1 Kor 4,1).

Der Vollzug des Auftrags „Tut dies zu meinem Gedächtnis!" bezeichnet deshalb Höhepunkt und Mitte priesterlicher Existenz. Darauf ist alles andere, die Verkündigung wie der diakonische Dienst, hingeordnet, und darauf soll alles andere bezogen sein. Die Feier der Eucharistie soll sozusagen vor allem anderen die Vorfahrt haben; ihr soll alles andere zu- und untergeordnet werden.

Es ist eine schmerzliche Erfahrung, dass solche „Vorfahrt für die Eucharistie" unter den Bedingungen des gegenwärtigen und nach menschlichem Ermessen wohl noch zunehmenden Priestermangels schwere pastorale Probleme aufwirft, für die es keine einfachen Lösungen gibt. Vor Schein- und Ersatzlösungen ist dennoch zu warnen. Die Eucharistie kann durch nichts anderes ersetzt werden, auch nicht durch noch so gut und ansprechend gestaltete Wortgottesdienste. Es wird noch viel Phantasie und Wagemut, vor allem noch viel Gebet und Glaubensmut bedürfen, um Antworten zu finden, die nicht auf der breiten Straße, auf der alle dahinschlendern, liegen können, die vielmehr dem steilen Höhenweg des Evangeliums entsprechen (vgl. Mt 7,14).

Wenn ich auf die 50 Jahre priesterlichen Dienst mit all den dramatischen Wandlungen in der Kirche und in der Welt, auch in meinem eigenen Leben zurückschaue, dann machen mich solche Probleme nicht traurig oder niedergeschlagen, sie machen mich in keiner Weise resigniert oder frustriert. Die Kirche ist aus schwierigen Situationen noch immer gestärkt hervorgegangen. Der Primizspruch, den ich vor 50 Jahren gewählt habe, ist für mich nach wie vor gültig, ja er hat sich für mich in diesen 50 Jahren vielfältig bewährt: „Wir sind nicht Herren eures Glaubens, sondern Diener eurer Freude" (2 Kor 1,24). Wir dürfen darum unseren Dienst mit Freude tun.

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