175 Jahre Bonifatiuswerk"Atemräume" des Glaubens für die Diaspora

„Keiner soll alleine glauben“ – mit diesem Leitwort sind Ziel und Auftrag des Bonifatiuswerkes in sich radikal wandelnden Rahmenbedingungen umschrieben. 175 Jahre sind seit der Gründung vergangen. Doch wie wurde aus dem „Bonifacius-Verein für die kirchliche Mission in Deutschland“ das internationale Hilfswerk in seiner jetzigen Form? Welche Gestalt der Kirche gilt es heute zu fördern – bei unbekannten Zukunftswegen? Zu dieser Frage liefert der folgende Artikel einige Schlaglichter aus Historie und Gegenwart der Diasporahilfe unter dem Patronat des hl. Bonifatius.

Mit der Vereinsgründung durch engagierte Laien und Priester 1849 in Regensburg bei der dritten Generalversammlung des Katholischen Vereins Deutschlands – einem Vorläufer der heutigen Katholikentage – wird das Hilfswerk für den Glauben in Deutschland ins Leben gerufen. Einige Zeit später, im Jahr 1885, begründen Paderborner Kaufleute die Diaspora-Kinderhilfe. Mitten in den tiefgreifenden gesellschaftlichen, politischen und globalen Veränderungen des 19. Jahrhunderts entsteht so aus dem solidarischen Engagement und dem Glaubenszeugnis katholischer Christen in Deutschland, was bis heute durch die Arbeit des Bonifatiuswerkes weitergeführt wird: Die Förderung missionarischen Wirkens sowie die Unterstützung für und in der Weitergabe des Glaubens. Bedeutsam war und ist dabei besonders der generationenübergreifende, caritativ-soziale Einsatz für eine Kirche, die in einer Diasporasituation lebt und wirkt.
Ein deutlicher Ausdruckt der Solidarität sind – auch in Zeiten der innerdeutschen Teilung – die alljährlichen pastoralen Initiativen und Sammelaktionen der Erstkommunionkinder (seit 1918) sowie der Neugefirmten (seit 1952), die ihre Gaben für die Diaspora-Kinder- und -Jugendhilfe geben. Die Verkehrshilfe wird 1949 zur Motorisierung der Diaspora gegründet, gegenwärtig sind in Deutschland mehr als 600 BONI-Busse als mobile Glaubenshelfer im Einsatz. Seit 1966 findet zudem der bundesweite Diaspora- Sonntag in den Gottesdiensten auch als Spendenaktion statt. Kurze Zeit später, 1968, erfolgt die Umbenennung des Vereins in „Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken“. Die Ausweitung der Fördergebiete auf den Bereich der Nordischen Bischofskonferenz vollzieht sich in den folgenden Jahren schrittweise und wird schließlich 1974 in die Satzung des Werkes aufgenommen. Im Jahr 1995 kommen die baltischen Staaten Estland und Lettland hinzu. Sie komplementieren das Fördergebiet in seiner pastoralen und weltkirchlichen Ausrichtung. Auch mit diesen ausgeweiteten internationalen Möglichkeiten bleibt der Auftrag zu missionarischem Wirken und solidarischem Engagement weiterhin Ziel und Anspruch der Arbeit im Werk bzw. in der Zusammenarbeit mit den Projektpartnern in den Diasporaregionen. Gleichzeitig sind die Strukturen des Hilfswerkes nicht starr, sondern wachsen mit den erweiterten Hilfsmöglichkeiten des Werkes. Deutlich wird dies beispielsweise 2013 mit der Einrichtung der Glaubenshilfe als vierte Fördersäule neben der Kinder- und Jugend-, der Verkehrs- und der Bauhilfe. Mit der Glaubenshilfe ist die Unterstützung missionarischer Projekte in ganz Deutschland und damit nicht mehr ausschließlich in Regionen der zahlenmäßigen katholischen Diaspora möglich.

Veränderungen als zukunftsweisendes Agieren und Reagieren

All diese schrittweisen Veränderungen im Umfang der Fördergebiete und -säulen des Bonifatiuswerkes waren und sind immer zugleich Reaktion und Aktion. Sie reagieren auf die zeitgemäßen Notwendigkeiten bezüglich der Förderbedarfe katholischer Gläubiger in Diasporasituationen. Die Unterstützung versteht sich als Hilfe zur Selbsthilfe. Hundertausende Projekte und Initiativen konnten vor Ort dank der treuen Spenderinnen und Spender wirksam gefördert werden.
Der Grundauftrag des Bonifatiuswerkes ist auch für die Zukunft wertvoll: den christlichen Glauben wachsen lassen, Glaubensgemeinschaft ermöglichen und missionarisch wirken, Gebetsgemeinschaft stärken und Zugänge schaffen zu den Inhalten und sinnstiftenden, lebendigen Ritualen des Glaubens für ein gelingendes Leben. Die Umsetzungsweisen dieser Anliegen in tätiger Nächstenliebe sind dabei in einem stetigen wie notwenigen Prozess der Transformation. Hilfe des Bonifatiuswerkes ist zuverlässig, innovativ, professionalisiert, von außen geprüft (auch durch das Spendenzertifikat des deutschen Spendenrates) und damit gegenüber den Spenderinnen und Spendern sowie den Projektpartnerinnen und -partnern transparent. Die Stärkung von Netzwerken und die Beziehungspflege im internationalen Kontext der Weltkirche sowie in ökumenischer Verbundenheit sind für die Arbeit des Hilfswerkes von enormer Bedeutung.

Katholische Diaspora heute

In Deutschland ebenso wie in den europäischen Förderregionen heißt katholische Diaspora heute nicht (mehr), als Minderheit in einer Mehrheit Andersgläubiger zu leben. Die Diasporasituation zeigt sich als ein Verortet-Sein im insgesamt säkularen, mehrheitlich nichtgläubigen Umfeld. Eine oft genannte Diagnose für diese neue Ausgangssituation ist das Ende der sogenannten „Volkskirche“. Bischof Bätzing stellte dazu im Rahmen der Frühjahrsvollversammlung 2024 der DBK fest:
„Wir werden als Christinnen und Christen zu einer Minderheit. Das Modell der volkskirchlichen Milieus wird abgelöst von einer Diasporasituation, wie sie besonders im Osten Deutschlands bereits lange erfahren wird. Mir ist wichtig, dass wir zugeben, dass man längst nicht mehr selbstverständlich weiß, was Kirche ist und was den Glauben ausmacht.“
Die Folgerung aus solchen Feststellungen ist die faktische und durch Studien belegbare Existenz von nunmehr zwei primären Formen der Diaspora in Deutschland:
Die statistisch fassbare zahlenmäßige Diaspora, welche sich unter anderem in einem durch die hohe Zahl der Kirchenaustritte immer geringer werdenden Gefälle zwischen den Diözesen auf den Gebieten der ehemaligen DDR und BRD befindet.
Die Situation einer Glaubensdiaspora, in der sich katholische Gläubige auch in Gebieten, die statistisch gesehen keine Diasporaregionen sind, als vereinzelt erleben. Diese Erfahrung unterstreicht die zuletzt erschienene sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, indem sie unter anderem feststellt, dass zwei Drittel der Kirchenmitglieder in Deutschland kein spezifisch christliches Gottesbild teilen.
Für beide Formen lassen sich die deutlichen Kennzeichen von Diaspora spürbar feststellen: Vereinzelung, große Entfernungen und geringe (bzw. geringer werdende) finanzielle Mittel. Bei der Reflexion über veränderte und neue Diasporasituationen bzw. -erfahrungen ist zudem nach einer neuen, wachsenden Größe zu fragen: Die Gruppe derer, die getaufte Christinnen und Christen sind, im Zusammenhang mit der besonderen rechtlichen Situation in Deutschland nach dem Austritt aus der Kirche aber formell keiner Glaubensgemeinschaft mehr angehören. Kann und darf hier von einer „persönlichen Diaspora“ gesprochen werden? Lässt sich in Bezug auf jene, die ihrem Selbstzeugnis nach zwar den Austritt aus der Kirche, aber nicht die Abkehr vom christlichen Glauben erklären, vielleicht gar von einer „doppelten Diaspora“ sprechen? Und: Wie können sich kirchliche Handlungsträger und -trägerinnen in der spannungsvollen Gesamtsituation eine sensible Grundhaltung aneignen, durch die in der Begegnung mit kirchenfernen, religiös- indifferenten, anders denkenden und -glaubenden Personen keine neuen Negativmomente entstehen? Dies sind Fragen, die gestellt und mit aller notwendigen Umsichtigkeit angegangen werden müssen – von der katholischen Kirche in Deutschland und auch im Bonifatiuswerk als Teil dieser Kirche, das mit seinem Selbstanspruch als „Hilfswerk für den Glauben“ hier suchend und handlungsfähig bleiben muss. Gerade die Erfahrung des Kirche-Seins in der Diaspora, die Katholikinnen und Katholiken in den ostdeutschen Diözesen sowie den nordeuropäischen und baltischen Förderländern seit vielen Jahrzehnten machen, ist hierbei für kreative, innovative und auch nüchtern/realistische Zukunftswege nicht zu unterschätzen. Durch die Zusammenarbeit mit unseren Partnerprojekten in diesen Gebieten kann das Bonifatiuswerk an einen bestehenden Dialog anknüpfen und für mehr Menschen die praxisrelevante Erfahrung zugänglich machen, was es heißt, als Glaubensminderheit zu wirken und sichtbar zu sein.

Glaubensgemeinschaft und Glaubensräume fördern, um den Einzelnen zu erreichen

Ein Beispiel aus der Arbeit ist die im Rahmen der Glaubenshilfe eingerichtete Personalstellenförderung. Auch über den zweijährigen Förderzeitraum hinaus soll der Stelleneinsatz vor Ort nachhaltig konzipiert werden. So werden Perspektiven für längerfristiges, verlässliches Engagement geschaffen, die auf die Chancen missionarischen Wirkens ausgerichtet sind und dabei laufend reflektiert und evaluiert werden. Diasporahilfe wird hier konkret als Dialog und gemeinsamer Lernprozess gelebt.
Projektbezogen sind über die Glaubenshilfe des Bonifatiuswerkes zudem innovative Vorhaben missionarischer Pastoral in ganz Deutschland förderfähig – unabhängig von statistischen Kirchenmitgliedszahlen. Diese Fördermöglichkeit nimmt die Feststellung einer wachsenden „Glaubensdiaspora“ wertfrei an und überträgt sie in ein motivationales Moment neuer Wirkungschancen. So ist es möglich, bestehende Glaubensräume projektgebunden kreativ neu zu nutzen sowie über innovative Ideen neue Resonanzräume für den Glauben bzw. die Glaubensbildung und -weitergabe in unserer säkularen Gesellschaft aufzutun. In einem Umfeld, das geprägt ist durch die „Abkehr von christlicher Kulturtradition“ (Jan Loffeld), wird über die Projektförderung bewusst und gezielt dem einzelnen Menschen Raum, Zeit, Ort und Gemeinschaft für die persönliche Glaubenserfahrung ermöglicht.
Die vielfach positiven Erfahrungen aus der Glaubenshilfe zeigen, dass hier ein zukunftsfähiges Feld liegt. Die feststellbare steigende Nachfrage nach zeitgemäßen Impulsen und religionspädagogischen Materialien für die pastorale Arbeit fügt sich in dieses Bild ein. Christinnen und Christen, die sich in Bezug auf ihren Glauben in einer Minderheitensituation erfahren, gestalten ihr Leben selbstbewusst im gegebenen gesellschaftlichen Rahmen. Den Glauben nicht außerhalb dieses Rahmens zu verorten, sondern als integralen Bestandteil, kann dabei als gleichermaßen herausfordernd wie chancenreich verstanden werden. Diesen Balance akt lebensnah und zeitgerecht mitzutragen, soll das Zusammenspiel der Fördersäulen des Bonifatiuswerkes auch in Zukunft ermöglichen.

Missionarische Pastoral und Diasporahilfe – fünf fragmentarische Zukunftsthesen

These 1: Die katholische Kirche darf sich angesichts ihrer deutlicher werdenden Minderheitensituation in Deutschland das Selbstverständnis einer kreativschöpferischen und damit weiterhin missionarisch wirksamen Gesellschaftsgruppe aneignen  – Diaspora ist kein „Schreckgespenst“, sondern schon jetzt Lebens- und Glaubensrealität.
These 2: Aus der (real gegebenen und natürlich nicht wegzudiskutierenden) Verlusterfahrung durch die kleiner werdende katholische Glaubensgemeinschaft lässt sich eine Aufforderung zur Selbstbefragung ableiten: Was ist das Wesentliche unseres Tuns? Welche Ressourcen und Charismen haben wir (noch) in uns vereint? Wie können wir das, was wir haben und von Christus her sind, wirksam einsetzen? Wie lebe ich persönlich eine alltagstaugliche sowie tragfähige Gottesbeziehung und erfahre lebendige Glaubensgemeinschaft? Diese und weitere offen zu diskutierenden Fragen werden den Zeugnischarakter des kirchlichen Zusammenlebens stärken.
These 3: In der Minderheitensituation kommt dem gemeinsamen Tun, der Geschwisterlichkeit der christlichen Kirchen und dem ökumenischen Dialog eine große Rolle zu, auch im weltkirchlichen Kontext. Die Gemeinsamkeit in geistlichen, prophetischen und politischen Dimensionen der christlichen Botschaft wird sich in ihrer Relevanz für die Gesellschaft so deutlicher formulieren lassen.
These 4: Diasporachristen tragen und bewahren die christliche Botschaft durch ihr Umfeld. Sie tun gut daran, aufrichtig offen und experimentierfreudig in der Welt unterwegs zu sein und nach den göttlichen Funken auch in den säkularen Milieus und Lebenswelten zu suchen.
These 5: Das Bonifatiuswerk als Spendenhilfswerk ist nur „zukunftsfähig“, wenn ihm in der Beziehung mit den Menschen, Gemeinden und seinen Projektpartnern als Glaubenshilfswerk ein Dialog gelingt und die Menschen verlorenes Vertrauen in die Kirche (zurück-) gewinnen. Nicht zuletzt braucht es Menschen, die die Anliegen und Projekte durch ihr Interesse, Glaubenszeugnis (auch im verbindenden Gebet) und durch freiwillige Spenden unterstützen.

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