Die Balance des Lebens findenLeere als Kraftquelle

Seelsorgende können eine überzeugende, engagierte Gelassenheit leben, indem sie sich immer wieder Auszeiten gönnen. So enfalten sie ein tiefes Gottvertrauen, in dem sie sich erinnern, dass es wohl auf sie ankommt und nie von ihnen alleine abhängt.

Dreißig Speichen gehören zu einer Nabe,
doch erst durch das Nichts in der Mitte
kann man es verwenden;
man formt Ton zu einem Gefäß,
doch erst durch das Nichts im Inneren
kann man es benutzen;
man macht Fenster und Türen für das Haus, doch erst durch ihr Nichts in den Öffnungen
erhält das Haus seinen Sinn.
Somit entsteht der Gewinn
durch das, was ist,
erst durch das, was nicht da ist.

Die weisen Worten von Lao Tse aus dem vierten Jahrhundert vor Christus haben mein Leben verwandelt. Ich habe sie vor 28 Jahren in einer großen Burnout-Zeit entdeckt. Ich bin zusammengebrochen, weil ich vom Liebesappell Jesu nur den ersten Teil „Liebe deinen Nächsten“ gehört habe. Wenn mich damals jemand nach der Kernkompetenz des Christentums gefragt hat, dann habe ich mit großer Überzeugung geantwortet: „Tag und Nacht für andere da sein, bis zum Umfallen!“ Und ich bin tief gefallen, tiefer als tief, es war lebensgefährlich, weil die Zusage Jesu „wie dich selbst“ nicht erlaubt war für mich. In diesen verzweifeltesten Zeiten meines Lebens bin ich der mystischen Tradition begegnet, die mir das Leben gerettet hat. Hildegard von Bingen, Meister Eckhart, Johannes Tauler, Teresa von Avila, Johannes von Kreuz, Edith Stein, Madeleine Delbrêl, Thomas Merton, Dag Hammarskjöld und Dorothee Sölle sind mir seither zu alltäglichen Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern geworden, weil sie durch ihre originellen Lebensentwürfe uns aufzeigen, wie wir dank dem Eintauchen in die Leere, in das Nichts, kreativ schöpferisch werden können. Diese interreligiöse Lebenskunst finde ich auch bei Lao Tse und Rumi.  

Mir etwas schenken lassen  

In meinem Terminkalender schreibe ich auf der ersten Seite einen meditativen Text auf, den ich mir das Jahr hindurch jeden Tag (auch laut) vorlese. Er soll all meinem Arbeiten und Tun eine Orientierung geben. Seit dem 1. Januar 2018 begleitet mich folgendes Gedicht vom islamischen Mystiker Rumi Tag für Tag als Gebet:  Morgens ging ich in den Garten,
eine Rose zu pflücken,
heimlich und in Furcht, der Gärtner könnte mich dabei erblicken,
doch es waren seine Worte köstlich über mein Erwarten:
„Nicht die Rose nur allein, ich schenke dir den ganzen Garten!“  Weil ich jemand bin, der zur Genüge kennt, nicht zu genügen, rühren mich diese Worte immer wieder im Innersten an. Sie erzählen von der göttlichen Gnade, dass wir gesegnet sind vor allem Tun. Sie erinnern mich, dass ich endlich einfach sein darf. „Endlich“ im doppelten: endlich, jetzt erst recht und endlich, ersetzbar, sterblich. Deshalb bin ich aus eigener Erfahrung fest überzeugt, dass gerade Seelsorgende sich in einer Zeit der pastoralen Not aus Verantwortung noch mehr zurückziehen dürfen, um eine gesunde Balance einzuüben, die ermutigt, endlich mehr zu vertrauen, dass das Wesentliche im Leben immer ein Geschenk ist. Eine innere Freiheit kann wachsen, wenn wir nicht mehr pflegeleicht es allen recht machen müssen, sondern wenn wir aus geistlichem Weitblick für das Ganze, uns Ruhepausen gönnen, in denen wir einfach da sind, achtsam gehen, verweilen in der Schöpfung.  

Weniger Druck, mehr Kind  

Eine Untersuchung der Schweizer Stiftung „Pro Juventute“ aus dem Jahre 2018 lässt mich nicht mehr los. Darin lese ich, dass 27 Prozent der elfjährigen Kinder unter Schlaflosigkeit leiden, die zu suizidalen Gedanken führen. Die Forschungsergebnisse führen zu folgendem unglaublichen Schluss: Kindern fehlt es an freier und selbstbestimmter Zeit. Deshalb fordert Pro Juventute „Weniger Druck. Mehr Kind.“ Ein gnadenloses Spiegelbild kommt mir da entgegen, in dem Kinder uns Erwachsenen aufzeigen, dass sie den zunehmenden Druck von „immer schneller, immer mehr, immer erfolgreicher“ nicht mehr aushalten. Diese Not führt mich zu einem Bewusstseinswandel, in dem ich nicht noch aktiver werde, sondern ich vorbildhaft bei mir anfange, um dem Hamsterrad die spirituelle Lebenskunst des Sabbats entgegenzuhalten. Unseren Kindern und Enkeln zuliebe braucht unsere Welt aus gesundheitspolitischer Verantwortung Menschen, die miteinander allen wirtschaftlichen Zwängen zum Trotz einen gesunden Lebens- und Arbeitsrhythmus miteinander einüben. „Weniger Druck, mehr Kind“ bringe ich in Verbindung mit der kraftvollen Lebensschule Jesu, der uns zuspricht und auffordert, ein Leben lang Kind zu bleiben, um Gottes Geborgenheit ganzheitlich erfahren zu können. Seelsorgende Menschen haben aufgrund ihrer Verwurzelung in einem Gott des Lebens die besondere Aufgabe, sich regelmäßig der Sabbatkultur anzuvertrauen. Sie können sich dank ihrer inneren Auferstehungskraft immer wieder für die Stille einsetzen.  

Gesegnete Lange-Weile  

Der Reformator Thomas Müntzer, ein Weggefährte von Martin Luther, schreibt im 16. Jahrhundert die höchst aktuellen Worte: „Die Langeweile ist die höchste Stufe auf einem Christusweg.“

Wir drücken uns oft vor der Stille, weil wir (unbewusst) eine panische Angst vor Langeweile haben. „Bleibt etwas von mir übrig, wenn ich mich nicht mehr durch Leistung definieren kann?“, war meine panische Frage, als ich 1999 als Gruppenteilnehmer die dreißigtägigen Exerzitien nach Ignatius von Loyola in einem Bildungshaus der Jesuiten bei Fribourg besucht habe. Das Eintauchen in die Stille schenkt uns ja nicht nur Entspannung und innere Ruhe, sondern sie kann uns auch tief auf uns selbst zurückwerfen, auf Kindheitswunden, auf existenzielle Fragen wie „Was trägt wirklich im Leben?“. Ohne das tägliche Begleitgespräch mit einem Jesuiten wären diese ersten zwei Wochen im Schweigen für mich noch unerträglicher geworden. Ich wurde depressiv, weil ich es mit mir kaum ausgehalten habe. Dann hat sich beim Verweilen an einem Seerosenteich in mir etwas befreit, was bis heute 7 nachhaltig in mir nachklingt. Es war die Offenbarung, dass eine Seerose sich öffnet mit ihrer ganzen Pracht und sie sich immer wieder schließen darf, um in sich ruhen zu können. Dieses Symbol bestärkt mich zu einer engagierten Gelassenheit. Ja, jede und jeder von uns hat eine ureigene Aufgabe auf dieser Welt, die nur er oder sie erfüllt. Eine Aufgabe, die wir nicht stressorientiert aus uns selbst angehen müssen, sondern die sich paradoxerweise noch kreativer, origineller und überzeugender entfalten kann, wenn wir nebst dem Tun den Segen der Lange-Weile als Kraftquelle entdecken. Christus als Quelle des Lebens erfahren, heißt auch dankbar verweilen im Urvertrauen, dass Gott alltäglich auch in mir neu geboren wird, im Zupacken und Geschehenlassen.  

Pastoral der Leere  

Ottmar Fuchs, der von 1998 bis 2014 Professor für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen war, hat schon 1993 in seinem wegweisenden Buch „Heilen und befreien. Der Dienst am Nächsten als Ernstfall von Kirche und Pastoral“ ein inspirierendes Plädoyer für eine Pastoral der Leere entfaltet: „Wo nichts leer wird, kann sich auch nichts Neues ereignen. Es gilt, von vielem abzurüsten, vielleicht ein Sabbatjahr für sich und die Gemeinde zu riskieren und zu warten, das Warten wieder zu lernen, was dabei herauskommt, wenn man nichts bzw. weniger macht. Ein unmöglicher Vorschlag? Ich glaube, der einzig mögliche Weg, zur Besinnung zu kommen und Gott kommen zu lassen. Glauben kommt vom Hören, und Hören braucht Zeit: zum Leerwerden und Verlernen des Bisherigen. Ja, ich plädiere für eine Pastoral der Leere, die einzige Chance, uns unsere eigenen Betriebsamkeiten und Alltagszwänge nehmen zu lassen.“ (Ottmar Fuchs, Im Raum der Poesie. Theologie auf den Wegen der Literatur, Grünewald 2011, S. 292) Befreiende Worte, die eine Wohltat für meine Seele sind. Jeder künstlerische und seelsorgliche Prozess braucht Zeiten des Leer-Laufes! Dadurch konkretisieren wir, ob wir unser Tun wirklich aus der Kraft der Psalmenspiritualiät leben, wie sie im Psalm 127,1 auftaucht: „Wenn DU das Haus nicht baust, müht sich jeder umsonst, der daran baut.“ Der große Schatz unserer mystischen Wurzeln befreit uns, die Leere, das Innehalten, den Sabbat als große Chance unserer eigenen Glaubenserneuerung zu sehen. Mut und Zivilcourage braucht es, um sich regelmäßig Auszeiten zu schaffen. Viele Verbündete ermutigen uns dazu, wie Bernhard von Clairvaux, der seinem Mitbruder, dem Papst Eugen III. schreibt: „Damit deine Menschlichkeit allumfassend und vollkommen sein kann, musst du also nicht nur für alle andern, sondern auch für dich selbst ein aufmerksames Herz haben … Es ist klüger, du entziehst dich von Zeit zu Zeit deinen Beschäftigungen, als dass sie dich ziehen und dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem du nicht landen willst. Du fragst, an welchen Punkt? An den Punkt, wo das Herz hart wird. Gönne dich dir selbst. Ich sage nicht: tu das immer, ich sage nicht: tu das oft, aber ich sage: tu es immer wieder einmal.“ Aktueller könnten seine Worte nicht sein. Wer das Leben von Bernhard von Clairvaux kennt, der entdeckt sofort, dass er diese Worte auch für sich selbst geschrieben hat. Er sehnte sich nach Ruhe, und wenn sie eintraf, war es ihm bald zu ruhig. Diese Widersprüchlichkeit, die sein darf, schätze ich auch sehr in den mystischen Quellen. Sie ermutigen mich zu einer Spiritualität der Unvollkommenheit, in der ich kraftvoll und verwundbar, stark und zerbrechlich sein darf.  

Politische Kraft der Stille  

Als Jugendlicher hat mich der Aufruf aus Taizé zum Konzil der Jugend wesentlich geprägt. „Kampf und Kontemplation“ nennt es Frère Roger Schutz. Diese Balance brauchen wir mehr denn je. Unsere Welt braucht beherzte, kämpferische Frauen und Männer, die ihre Stimme erheben für die Würde aller Menschen, für die Bewahrung der Schöpfung, für faire Arbeitsbedingungen, für die Werte der Bergpredigt Jesu. Die entscheidende Frage bleibt, wo wir die Kraft hernehmen, um mit einem langen Atem der Hoffnung unterwegs sein zu können. Frustration und Ohnmacht lauern uns täglich auf. Damit die Angst nicht die Regie in unserem Leben übernimmt, gilt es die bewährte, uralte Lebensweisheit der Sabbatkultur einzufordern, zum eigenen Wohle und zum Wohl der ganzen Gemeinschaft. Wir können nicht nur vieles bewirken, indem wir uns engagieren für eine Welt, die anders werden kann, zärtlicher und gerechter, sondern wir verstärken die Friedenskraft auf der ganzen Welt, wenn wir uns regelmäßig für kleinere und größere Auszeiten zurückziehen. Die lebenfrohe, engagierte Jüdin Etty Hillesum (1914–1943) hat mir die politische Dimension der Stille aufgezeigt. Ihren Tagebucheintrag verinnerliche ich mir immer wieder:
„Das ist eigentlich unsere einzige moralische Aufgabe: In sich selbst große Flächen urbar machen für die Ruhe, für immer mehr Ruhe, so dass man diese Ruhe wieder auf andere ausstrahlen kann. Und je mehr Ruhe in den Menschen ist, desto ruhiger wird es auch in dieser aufgeregten Welt.“

Anzeige:  Herzschlag. Etty Hillesum – Eine Begegnung. Von Heiner Wilmer

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