Migration als Gottes Weg mit uns„Wahrhaftig, jetzt begreife ich …“ (Apg 10,34)

In der Diözese Rottenburg-Stuttgart qualifizieren sich seit zehn Jahren ehrenamtliche Mitarbeiter/-innen aus Gemeinden für Katholiken portugiesischer, italienischer und kroatischer Muttersprache kontinuierlich, um in der Sakramenten- und Erwachsenenkatechese in ihren Gemeinden mitzuwirken und im Dialog mit den deutschsprachigen Gemeinden dem Christsein ein Gesicht zu geben. Der folgende Beitrag formuliert Perspektiven interkultureller Katechese.

Christen aus vierzehn Nationen treffen sich im April diesen Jahres zum ersten interkulturellen katechetischen Bibeltag in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Die siebzig Frauen und Männer leben unterschiedlich lange in Deutschland, einige von ihnen haben nach ihrer Flucht hier Schutz gefunden.
Das kleine Büchlein Ruth begleitet uns durch den Tag. Von Ruth und ihrer Schwiegermutter Noemi sind viele berührt, aber auch von Boas und den anderen Personen, die die Geschichte erwähnt. Jede und jeder findet in dieser Migrationsgeschichte eine Figur, die Erinnerungen und Erfahrungen wachruft. Der Tag wird zu einem Erzählen und Vertiefen der persönlichen Erfahrungen. M. ist eine sechszehnjährige chaldäische Christin, seit einem Jahr in Deutschland. Mit Ruths und Noemis Mut und ihrem Selbstvertrauen, ihrem Glauben an die Kraft Gottes, kann sie sich gut identifizieren. Gottes Kraft versetzt Berge. Das haben sie und ihre Familie auf ihrem Weg nach Deutschland erfahren. Der Portugiese A. kam vor vielen Jahren nach Deutschland, um Arbeit zu finden. Es war damals nicht einfach, für sich und seine Familie eine Zukunft aufzubauen. Ruths Geschichte erinnert ihn daran, wie er im Umbruch seines Lebens Segen erfahren hat.

International und multikulturell

Interkulturelle Katechese beginnt mit der Wahrnehmung, dass christliche Gemeinden international und multikulturell geworden sind und es immer mehr werden. Menschen nichtdeutscher Nationalität bzw. mit Migrationshintergrund gehören ebenso wie binationale Partnerschaften zum Gesicht jeder Gemeinde dazu. Das trifft nicht nur für Großstädte, sondern auch für kleinere Orte zu. Migrantinnen und Migranten erleben sich häufig als Wanderer zwischen den Kulturen. Dies betrifft insbesondere die Kinder der sogenannten zweiten und dritten Generation der Zugewanderten, die zwei- oder dreisprachig aufwachsen. Diese Kinder leisten den Balanceakt der Vermittlung zwischen verschiedenen Kulturen. Aktuell stellen zahlreiche Gemeinden für Katholiken anderer Muttersprache einen Zuwachs durch verstärkte neue Zuwanderung fest. Ebenso sind unter den Geflüchteten zahlreiche Christen, die Kontakt zu christlichen Gemeinden aufnehmen. Daraus entsteht in deutschsprachigen Gemeinden und in Gemeinden anderer Muttersprache der besondere Auftrag, katechetisches Handeln mit interkulturellem Blick zu initiieren. Auf das „Zooming“ kommt es dabei an. Aus der Nähe betrachtet nehme ich andere wesentliche Dinge wahr als aus der Ferne. Zooming beinhaltet wechselnde Blickwinkel und vermeidet so Generalisierungen und Stereotypisierungen in der kulturellen Wahrnehmung. Die Blickwinkel interkultureller Katechese und Pastoral verweisen darauf, dass Migration als Weg Gottes mit Menschen zu verstehen ist. Die biblischen Schriften wie auch die Erfahrungen des interkulturellen Bibeltages sind ein Zeugnis dafür.

Fremdheit wertschätzen – Grenzen überschreiten

Der priesterschriftliche Schöpfungsbericht spricht von der Gottebenbildlichkeit der Menschen (Gen 1,26). Das fordert heraus. In jedem Menschen, der mir begegnet, ob einheimisch oder zugewandert, das Göttliche zu erkennen, kann an die eigenen Grenzen führen. Wenn Vertraute einander begegnen, erscheint das einfach. Wenn einander bisher Fremde begegnen, gilt es, die innere Grenze durchlässig werden zu lassen. Paulus bringt es in seinem Kontext auf den Punkt: Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht mehr Sklaven und Freie, nicht mehr Mann und Frau, vielmehr sind alle eins in Christus (Gal 3,23–29). Darin steckt der Anspruch und die Ermutigung zur Grenzüberschreitung. Sich dem und den Fremden zu öffnen, an ihren Biographien, Erfahrungen und ihren kulturellen Prägungen interessiert zu sein, ist Voraussetzung für gelingendes Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Tradition. Interkulturelle Katechese ist deshalb geprägt von der Begegnung und vom Dialog zwischen Menschen, für die das Evangelium und der christliche Glaube identitätsstiftend sind bzw. werden können. Wo kommst du her? Was hat dich geprägt? Wie lebst du als Christ/Christin? Welche Traditionen pflegst du? Was ist dir wichtig? Was beschäftigt dich? Was brauchst du? – Mit solchen Fragen werden Anknüpfungen an die Lebensgeschichte und konkrete Situation von Menschen möglich. Gespräche über solche Fragen sind unglaublich bereichernd; sie ermutigen zur Reflexion und Neuausrichtung des bisherigen eigenen christlichen Weges. Wie von selbst werden einmal gewonnene Antworten dabei häufig wieder zu Fragen. Das scheinbar so Selbstverständliche und Bewährte wird auf den Prüfstand gestellt. Darin liegt eine spürbare Chance. Ich erinnere mich immer wieder gerne, wie berührt ich davon war, wie Portugiesen „ihre“ Madonna von Fatima verehren und Kroaten spontan aus tiefstem Herzen Marienlieder mehrstimmig singen. Diese Erfahrung hat meine persönliche Marienverehrung verändert und ihr eine neue Gestalt geschenkt. Für mein Christsein habe ich dabei Wesentliches gelernt. Migration als Gottes Weg bedeutet dann auch, sich aus den eigenen Gewohnheiten herausführen zu lassen.

Integration und Partizipation fördern

Interkulturelle Katechese trägt zu Integration und Partizipation bei. Integration findet statt, wenn Menschen erleben, hören und fühlen lernen, was dem anderen wichtig ist. Das gilt nicht nur für die Gemeinschaft mit Menschen anderer Muttersprache, sondern ist Auftrag jeder christlichen Gemeinde. Integration gelingt, wenn sie zur Partizipation wird und Ausgrenzung und Diskriminierung keine Chance mehr haben. „Integration ist ein Austauschprozess: ein Geben und Nehmen – mehr noch: Migrantinnen und Migranten und Einheimische geben und nehmen Teile der jeweils anderen Kultur als Bereicherung auf, gleichzeitig reichen sie etwas von ihrer Kultur weiter. Damit verbinden sie sich, entwickeln sich, erweitern sich, ohne an Identität zu verlieren“ (Paulo Nicoly-Menezes). Alle, die in der interkulturellen Katechese und Pastoral einander begegnen, werden so zu „Kulturschaffenden“. Integration fällt Migrantinnen und Migranten leichter, wenn sie das Interesse und die Neugierde an ihrer Kultur, an ihren christlichen Prägungen und ihren besonderen Themen spüren. Umgekehrt dürfen Einheimische in gleicher Weise das Interesse an ihren Lebens- und Glaubensstilen erwarten. Das vielbemühte Wort „In der Kirche gibt es keine Fremden“ braucht eine entsprechende gelebte Praxis. Interkulturelle Katechese stärkt ein „katholisches“, das heißt umfassendes Verständnis von Kirchesein, das von gegenseitigem Vertrauen und von der Teilgabe, Teilnahme und Teilhabe an den Schätzen jeder Kultur geprägt ist.

Charismen stärken – Kirche an vielen Orten realisieren

Beim Start der katechetischen Qualifizierungskurse erlebte ich diese Weise  von Kirchesein. Mit „Bom dia! Como está!“ – „Guten Morgen! Wie geht es Ihnen!“ begrüßte mich jede und jeder Einzelne der vierzig Portugiesinnen und Portugiesen. Ich erinnere mich an viele Umarmungen und Küsse auf beide Wangen. Soviel an selbstverständlicher Herzlichkeit von Menschen, die mir das erste Mal begegneten, war ich nicht gewohnt. Ich war überwältigt. Bald darauf begannen die Kurse für Italienerinnen und Italiener, für Kroatinnen und Kroaten. Die Qualifizierungsangebote haben sich längst als regelmäßiges Angebot des Instituts für Fort-und Weiterbildung der Diözese etabliert. Gemeindemitglieder, Pfarrer, Ordensleute und pastorale Mitarbeiter in den Gemeinden für Katholiken anderer Muttersprache und die ehrenamtlichen Katechetinnen und Katecheten selbst vollzogen dabei einen Perspektivenwechsel. Vor zehn Jahren fragten Eltern, ob „Laien“, „Menschen wie sie“, denn mehr als „Helfer und Helferinnen“ sein könnten. Auch unter den hauptberuflichen Diensten waren einige zögerlich. Die Einsicht, als „Laie“ durch Taufe und Firmung zur Verkündigung in der Sakramenten- und Erwachsenenkatechese berufen zu sein, war auch ein Prozess bei den Katechetinnen und Katecheten selbst. Darf ich das überhaupt? Wie viel an Expertenwissen benötige ich? Dieses Bild hat sich gewandelt. Die Katechetinnen und Katecheten werden geschätzt; die selbst haben das Selbstbewusstsein gewonnen, einen wichtigen Auftrag in der Verkündigung in Gemeinschaft mit den Seelsorgern und Seelsorgerinnen zu vollziehen. Sie haben entdeckt, dass es ihr besonderes Charisma ist, Kinder, Jugendliche und Erwachsene auf dem Weg des Christwerdens und Christbleibens zu begleiten und Zeuginnen und Zeugen für das Evangelium zu sein. Sie qualifizieren sich regelmäßig weiter und werben inzwischen die nächste Generation an. Sie werden sich immer mehr bewusst, dass es gilt „eine Sicht von Kirche zu entwickeln und eine Praxis von Kirche anzustoßen, in der sich die Christenmenschen bewusst sind, dass sie nicht aus Eigenem leben, sondern aus dem, was ihnen geschenkt wird; dass daran alle Anteil haben und dass sie das Geschenk ihrer Berufung jeweils auf ihre eigene Art und Weise ‚missionarisch/ evangelisierend‘ realisieren“ (Bernd Jochen Hilberath).

Entschleunigung und Elementarisierung

Wer einmal längere Zeit im Ausland verbracht und dort Gottesdienste mitgefeiert hat, hat ein Gespür, wie wichtig es ist, in der Muttersprache zu beten und mit eigenen traditionellen Formen zu feiern. Christsein und Christbleiben wächst auch in der tiefen Verbindung zu den eigenen Wurzeln. So findet Katechese in Gemeinden anderer Muttersprache zwei bzw. mehrsprachig statt. Eltern und Verantwortliche haben erkannt, dass für die nachwachsende Generation sowohl die Kenntnis und Erfahrung der religiösen Traditionen des Heimatlandes und das Beten in der Muttersprache als auch das Wachstum im Glauben in der Sprache und Tradition des Landes, in dem sie leben, wesentlich sind, um Christen zu werden und zu bleiben. Nach und nach wuchs die Einsicht, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland beheimatet sind und ein interkulturelles Lebensgefühl in sich tragen. Insofern entschleunigt, konzentriert und elementarisiert interkulturelle Katechese zentrale Aspekte und Erfahrungen christlichen Lebens. Zum Beispiel können in der Firmkatechese Erwachsene wie Jugendliche die sieben Gaben des Heiligen Geistes neu wahrnehmen als das gemeinsame Leben förderliche Gaben; Erwachsene können die Zehn Weisungen (Dekalog) als grundlegende Orientierung des Zusammenlebens der Nationen entdecken; Taufbewerberinnen und Taufbewerber erfahren, dass sie in eine weltweite Kirche hineinwachsen. Um dem Anspruch der interkulturellen Katechese gerecht zu werden, wird Mehrsprachigkeit in muttersprachlichen wie in einheimischen Gemeinden förderlich sein. Konkret – und leicht umsetzbar – kann dies bedeuten, dass die Katechese bzw. katechetische Gruppen von Katechetinnen und Katecheten verschiedener Muttersprachen geleitet werden.

Wahrhaftig begreifen

Interkulturelle Katechese ist Haltung und Weg zugleich – in muttersprachlichen wie einheimischen Gemeinden. Sie ist kein Sonderweg, sondern eine andere Art, katechetisch zu handeln. Kirchliches Handeln wird sich in Zukunft mehr als bisher an der interkulturellen Perspektive ausrichten müssen. Interkulturelle katechetische Prozesse können hier Vorbild sein, denn sie knüpfen an die Lebensgeschichte und konkrete Situation von Menschen, die in interkulturellen Kontexten leben, an und öffnen sie so für das Evangelium. Interkulturelle katechetische Begegnungen machen auf besondere Weise das Reich Gott erfahrbar. Die je eigene christliche Kultur wird darin identitätsstärkend erfahren und gleichzeitig motivierend, sich anderen Kulturen zu öffnen und diese als Reichtum und Gewinn zu entdecken. Was für das Verständnis von Theologie gilt, kann auch für Katechese und Pastoral in interkultureller Perspektive beschrieben werden: „Fremde Traditionen können ihr zur Autorität werden und in ihrer differenten Identifizierung des Christlichen Leerstellen in ihrer Reflexion aufzeigen“ (Judith Gruber), um diese dann fruchtbar werden zu lassen für ein zukunftsfähiges erneuertes christliches Handeln. DAS Konzept und Modell interkultureller Katechese und Pastoral wird es nicht geben, sondern sie wird menschengerecht und evangeliumsgemäß vielfältig sein. Deutschsprachige wie muttersprachliche Gemeinden werden glaubhafte Zeuginnen und Zeugen für die Radikalität des christlichen Glaubens sein, wenn sie lernen, miteinander Christ zu sein und sich verlocken lassen, alles zu geben, dass sie selbst und die nachwachsende Generation wieder und noch glauben kann. Dazu gehört, gemeinsames katechetisches Handeln vermehrt anzustreben und zu entwickeln, um wahrhaftig die Fülle des Reiches Gottes zu begreifen.

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