"Kirchenkrise" aus soziologischer SichtZur Neuauflage von Franz-Xaver Kaufmanns Schrift "Wie überlebt das Christentum?" (2000/2011)

Neu ist das Vorwort, logischerweise, überarbeitet, teils erweitert sind einzelne Kapitel, und neu dazugekommen ist das sechste Kapitel, das Ereignisse und Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre aufnimmt: "Ich versuche, dies wiederum in der Form soziologisch fundierter Beobachtungen zu tun, doch wird der Nachhall persönlicher Erschütterungen nicht ganz zu vermeiden sein" (12).

Hervorgegangen aus den im Mai 1999 gehaltenen Guardini-Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin, erstmals veröffentlicht im Jahr 2000 (im selben Jahr erlebte das Bändchen eine zweite Auflage), kam im Februar 2011 die dritte Auflage des seinerzeit stark beachteten Taschenbuchs "Wie überlebt das Christentum" heraus, welches damals in dieser Zeitschrift von unserem Redaktionsmitglied Johannes Baar SJ rezensiert worden war1. Der einstige Titel fungiert jetzt als Untertitel. Der neue Titel: "Kirchenkrise". Aus 144 Seiten sind nun 200 geworden - eine Relecture lohnt, nicht nur wegen des neuen Kapitels "VI. Strukturschwächen der katholischen Kirche".

Franz-Xaver Kaufmann, emeritierter Professor für Sozialpolitik und Soziologie an der Universität Bielefeld, malt hier nicht den Teufel an die Wand. Aber er diagnostiziert im Vergleich zu 1999/2000 besorgniserregende Zuspitzungen in der Situation der römisch-katholischen Kirche. Zwar habe, so räumt er eingangs ein, das 27 Jahre währende Pontifikat Johannes Pauls II. "der katholischen Kirche ein seit der Reformation wohl einmaliges weltweites Ansehen verschafft" (9). Aber: "Die Kehrseite dieser Charismatisierung der Person des Papstes war eine Vernachlässigung oder Verdrängung vieler interner Probleme der Kirche, nicht zuletzt hinsichtlich der Leitungsstrukturen der Kirche" (9 f.).

Im gegenwärtigen Pontifikat Benedikts XVI. mache sich dies "in mindestens drei Problemkreisen manifest: (1) Der Vertuschung pädophiler Praktiken von Klerikern; (2) Dem Umgang mit den Dissidenten, die wesentliche Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils ablehnen; und (3) dem Verhältnis zu den übrigen Weltreligionen, das mit der zunehmenden Globalisierung immer drängender wird." Diese Problemfelder analysiert er im sechsten Kapitel, in dem es ihm aber nach eigenen Worten "nicht um die Kommentierung der Aktualität (geht), die ja schnell wieder veralten wird, sondern um eine Analyse der den aktuellen Problemen zugrunde liegenden Struktur- und Kognitionsprobleme innerhalb der katholischen Kirche" (10).

Ein gläubiger Soziologe

Kaufmann ist Katholik. Er bringt im Vorwort neben fachlichen auch biographische Hintergründe für sein leitendes Interesse ins Spiel: Sein Großvater war einer der ersten katholischen Ärzte in Zürich, sein Vater war politischer Sprecher der Zürcher Katholiken, die Mutter stammte aus dem katholischen Westfalen, wuchs aber in der Berliner Diaspora auf. Drei Onkel und ein Bruder - Ludwig Kaufmann SJ (1918-1991) war langjähriger Chefredakteur der 2009 eingestellten Zeitschrift "Orientierung" in Zürich - waren Priester, eine Tante Nonne ("und ihre persönliche Ausstrahlung war wie ein Abglanz des Himmels"): "Das Zusammenleben mit Andersdenkenden, ohne doch den eigenen Standpunkt aufzugeben, wurde mir als Katholik schon durch das Aufwachsen in der Diaspora-Situation der Zwingli-Stadt selbstverständlich" (11).

Auch wenn die soziologische Betrachtungsweise "Glaubenshorizonte zu vermeiden" suche, weil sie dem mit dem neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff verpflichteten Anspruch Rechnung tragen muß, "die Welt zu denken, 'etsi Deus non daretur', als ob es Gott nicht gäbe" (11), betreibt Kaufmann sein Geschäft als "gläubiger Soziologe", der freilich "einen Spagat aushalten (muß), wenn er sich mit religiösen Phänomenen befasst; doch dieser Spagat kann auch produktiv sein. Sein Glaube bewahrt ihn davor, in den historischen und gesellschaftlichen Kräften allein das Bewegende des Christentums zu sehen" (11 f.).

Diesen Spagat will Kaufmann auch den Verantwortungsträgern in der Kirche zumuten, die seiner Meinung nach tendenziell dazu neigen, historische und soziale Bedingtheiten zu relativieren und das Glaubensverständnis "gegen den Wandel der Kontexte der Glaubensverkündigung zu immunisieren" (12).

Zwischen Abbruch religiöser Traditionen und wachsender Konfessionslosigkeit

Die ersten fünf Kapitel sind überschrieben mit "Traditionsabbruch" (13-20), "Wie kam es zum historischen Erfolg des Christentums in der Antike?" (21-46), "Das Christentum und die europäische Freiheitsgeschichte" (47-72), "Modernisierung, Säkularisierung und die Verwirklichung des Christentums" (73-97) sowie "Überlebt das Christentum die Moderne?" (98-127).

Hier sollen diese Abschnitte nicht einfach referiert werden. Es muß genügen, darauf hinzuweisen, daß Kaufmann im Begriff "Säkularisierung" eine Verharmlosung sieht. Mindestens in Deutschland sei "ein eklatanter Abbruch religiöser Traditionen in beiden Konfessionen zu beobachten", wofür "die wachsende Konfessionslosigkeit" (13) stehe - und das längst nicht nur in den neuen Bundesländern. Die Vertrauenskrise in den Kirche(n) führten auch bei Kernschichten zu Austritten. Lebensweltliche Stützen sind der Tradierung des Glaubens abhanden gekommen: "Man wird nüchtern zur Kenntnis nehmen müssen, daß die gegenwärtigen Formen kirchlicher Seelsorge an den nachwachsenden Generationen weitgehend vorbeigehen" (125). Religiöse Erneuerung ist nur dort zu erwarten, "wo christliches Engagement sich in Probleme lösender Weise plausibel machen läßt" (126). Das gelingt im Moment in Ländern der sogenannten Dritten Welt offenbar leichter als in den alten Kernländern des Christentums in Europa.

Strukturschwächen der katholischen Kirche

Das neu dazugekommene, fast 60 Seiten starke sechste Kapitel hat es in sich. Das Jahr 2010 wertet Kaufmann als "Jahr der manifesten Krise" (128): die Aufdeckung von Mißbrauchsfällen durch den Berliner Jesuiten Klaus Mertes, auf die lawinenartig weitere Fälle in anderen Orden und Einrichtungen folgten; der Rücktritt des Augsburger Bischofs Walter Mixa; und der Umgang der Bischofskonferenz mit den Mißbrauchsfällen. "Systematischer" als in seinem zornigen FAZ-Artikel (26. 4. 2010), der eine Reaktion auf eine beim Ostergottesdienst auf dem Petersplatz vom ehemaligen Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano geäußerte Ergebenheitsadresse an den Papst war, geht Kaufmann hier den strukturellen Ursachen für die Krise nach.

Vertrauensschwund, Empörung über jahrzehntelanges Vertuschen, zunehmende Entfremdung zwischen Kirche und Öffentlichkeit sind erste Beobachtungen. Auflösungserscheinungen reichen freilich ins 19. Jahrhundert zurück, wobei der deutsche Katholizismus insofern "eine durchaus brauchbare Folie für das Bedenken der aktuellen Kirchenkrise" sei, "als hier die römischen Prinzipien mit Nachdruck vertreten werden. Eine boshafte Sentenz sagt über die Entstehung und Wirkung kirchlicher Normen: 'In Spanien erdacht, in Rom beschlossen, in Deutschland befolgt'" (135).

Die verunglückte Regensburger Vorlesung von Papst Benedikt XVI. (2006), die Zurücknahme der Exkommunikation von vier schismatischen Lefebvre-Bischöfen (2009) und der Umgang von Bischofskonferenzen und römischer Kurie mit den Mißbrauchsfällen sind für Kaufmann akute Krisenphänomene, die aus soziologischer Sicht "vor allem Symptome einer tiefer gehenden Krise des zentralistischen römischen Kirchensystems und seiner Immobilität in Strukturfragen" (136) sind.

Zu den wichtigen Faktoren zählt Kaufmann die wachsende Entfremdung des Episkopats und besonders der römischen Kurie "von den Lebenswirklichkeiten der katholischen Laien" (139), die sich an heißen Eisen wie Schwangerschaftskonfliktberatung und anderen Themen zeige. Die "Vergreisung der Klerikerkirche", die nach Gisbert Greshakes Beobachtung mit einem "Wiedererstarken des 'vorkonziliaren Klerikalismus'" einhergehe, ist ein ernstes Problem geworden.

Eine Kritik, die in den letzten Jahren auch anderswo laut wurde: "Die römische Kurie ist, was ihre Steuerungskompetenz betrifft, auf dem Niveau der höfischen Organisation des Absolutismus stehen geblieben" (145). Der Papst hängt vom Urteil und von der Auswahl eines Apparats ab, der häufig unkoordiniert agiert, wie peinliche Kommunikationspannen zeigten. "Wer von außen kommt, und sei er Bischof oder Kardinal, erfährt sich meist als Bittsteller und nicht als Mitglied des Bischofskollegiums im Sinne des II. Vatikanischen Konzils" (147). Weil die Zuständigkeiten nicht geklärt sind, kommt es ständig zu Pannen. "Auch fehlt es in der Kirche an einer Kultur des freien Wortes, so daß die hierarchischen Gehorsamsvorstellungen kein Gegengewicht finden" (150).

Ausführlich und fair ist die Mißbrauchskrise analysiert. Sie könne nicht durch "Aussitzen" (164) gelöst werden: "Was in der gegenwärtigen Situation mich als gläubigen Katholiken besonders bedrückt, ist das Fehlen einer spirituellen Dimension in der Auseinandersetzung der Kirche mit dem Mißbrauchsskandal" (165).

Wenn es den Kirchen nicht mehr gelingt …

Das "Fazit", das Kaufmann zieht (170-174): "Krank, aber überlebensfähig". Die Kirche werde ihre aktuelle Krise überleben, auch wenn sich in Europa "die Entstehung einer defensiven Klerikerkultur" (171) beobachten lasse - bei gleichzeitiger Erosion der Kirche auf Pfarreiebene aufgrund des Priestermangels: "Wenn es den christlichen Kirchen nicht mehr gelingt, das Gottesgedächtnis aufrecht zu erhalten und damit alle innerweltlichen Mythen in die Schranken zu weisen, sind sie auf Dauer zu nichts mehr nütze" (173).

Dabei "räche" es sich, daß die Orden durch das Zweite Vatikanum vernachlässigt worden seien. Neue religiöse Bewegungen, das Opus Dei oder die Legionäre Christi seien "bisher den Beweis schuldig geblieben, dass es ihnen um das Heil der Gläubigen und Ungläubigen, und nicht nur um die Macht in der Kirche geht" (174).

Die wahre Verlegenheit der Kirchen

Die "Schlußbemerkungen" (175-182) Kaufmanns sind eine Art Leseanleitung für das gesamte Buch: "Traditionsabbruch" ist nämlich kein rein kirchliches Phänomen, sondern erstreckt sich "auf großräumige Prozesse der lebensweltlichen Traditionsbildung überhaupt" (178): "Die christlichen Kirchen stehen somit vor dem Problem, dass viele ihrer elementaren moralischen Lehren heute ins öffentliche Bewusstsein eingegangen sind und Bestandteil einer allgemein anerkannten Minimoral geworden sind, welche vor allem als Fragen des Schutzes der Menschenrechte thematisch werden" (178 f.). Selbst in der Dritten Welt konkurrierten christliche Einrichtungen mit NGOs.

"Es fehlt auch an exemplarischen Leistungen der Christen oder der Einrichtungen christlicher Kirchen hierzulande, welche einen Glauben, der Berge versetzen kann, plausibel machen könnten. Das scheint mir die wahre Verlegenheit der Kirchen in einer saturierten Kultur zu sein" (179).

Kaufmann scheut nicht klare Worte. Aber er stimmt keinen Schwanengesang auf die Zukunft der Kirche an. Er glaubt an sie, das scheint auch durch nüchterne soziologische Betrachtungen durch - nicht zuletzt auch deswegen, weil "die jüdisch-christliche Glaubenstradition stets eine angefochtene war" (181). Es lohnt, seine brillante Analyse zu lesen. Sie reicht weit über aktuelle "Fälle" und "Aufreger" hinaus. Eine einzige (formale) Kritik: Leider hat der Verlag auf ein Namens- und Sachregister verzichtet; ein solches wäre beim Nachschlagen und -schauen hilfreich.

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