Rezensionen: Theologie & Kirche

Frerichs OSF, Jan: Wilde Kirche. Wie wir uns unsere spirituelle Heimat zurückholen.
Ostfildern: Patmos, 2024. 176 S. Gb. 20,–.

Dieses Buch habe ich an einem Stück gelesen. Es hat mich bewegt und das vor allem, weil der Autor, Mitglied des Franziskanischen Säkularordens und Gründer der „Franziskanischen Lebensschule barfuß+wild“, mich mitnahm auf seinem eigenem spirituellem Weg. Ich durfte teilhaben an seiner Abenteuerreise durch die eigene Seele, auch durch die Klippen der Zweifel und Fragen hindurch, die ihm als jungem Franziskaner und Theologiestudenten kamen. Ich durfte im Geist mitwandern auf seinem Weg, den er als Pilgerweg ins Heilige Land geplant hatte und der ihn dann doch nur bis Assisi führte. Während einer langdauernden Regenphase macht er Halt in einem Franziskanerkloster bei Bologna und begegnet dort Frei Cristoforo. Dieser lehrt ihn beten, aber ganz anders als er es gewohnt ist. Auf die Klage, sich in einer geistliche Leere zu befinden, stellt ihm der Bruder die ernüchternde Frage „Bist du bereit, etwas zu riskieren und die Leere zu erkunden oder suchst du Sicherheit und versinkst lieber in Selbstmitleid?“ Cristoforo ist überzeugt, dass auch die Leere Gebet ist, denn „Man kann in Wahrheit nicht nicht beten“ (35). Beten setzt den Mut voraus, sich der Leere des Nichttuns und Nichtwissens auszusetzen, um darin Verwandlung zu erfahren.

Frerichs erzählt, wie er die „wilde Kirche“ entdeckt hat. Sie ist außerhalb aller Kirchenräume, im Freien. Ihre Heiligtümer sind die Bäume, das Feuer, das Wasser, der Wind. Die „erste Bibel“ der wilden Kirche ist für den Autor die Schöpfung. Die Geheimnisse der Natur, ihr Wachsen und Werden im Kreislauf des Jahres offenbaren uns die Botschaft vom Segen Gottes. Frerich nennt sein Gottesbild panentheistisch. „Das bedeutet, dass überall das Verbindende durchscheint, und das nennen wir ‚das Göttliche‘. Es geht nicht darum, das zu glauben im Sinne eines Für-wahr-Haltens. Es geht darum, dieses Sakrament zu erfahren, zu verkosten, zu erleben, die Verbindung wahrzunehmen, sich zu öffnen für die Verbindung, die in allem und durch alles sichtbar wird“ (101). Das Studium der „ersten Bibel“, in der wir durch die Wunder der Schöpfung von den Wundern Gottes erfahren, schafft auch einen neuen Zugang zur „zweiten Bibel“. Die Heiligen Schriften wollen nicht von außen her, sondern von innen her verstanden werden. Sie wollen weniger Lehrbücher religiöser Wahrheiten sein, sondern Geschichten erzählen, die uns die Geheimnisse Gottes und unserer Seele mystisch erahnen lassen.

Nicht zuletzt freut mich an diesem Buch, dass es sehr viele Impulse für die geistliche Praxis bereithält. Jedes Kapitel schließt mit weiterführenden Anregungen für die persönliche Reflexion und die Gebetspraxis ab. Darüber hinaus bietet der Autor unter der Überschrift „Das Feuer hüten – Handwerkszeug für die Wilde Kirche“ eine Reihe von Texten, Formaten und Ritualen für den persönlichen Gebrauch und für Gruppen. Dabei wird deutlich, wie sehr seine Spiritualität franziskanisch durchtränkt ist. Im Entwurf einer herrschaftsfreien, an der Wirklichkeit orientierten, schöpfungsnahen „wilden“ Kirche scheint das Kirchenbild des Heiligen von Assisi durch. Nicht ohne Grund endet das Buch mit dem Sonnengesang.

Auf die Frage, an wen sich Buch richtet, gibt der Autor im Vorwort Antwort: „Das Buch ist für Menschen gedacht, die ihre spirituelle Heimat verloren haben. (…) Es ist für Menschen geschrieben, die sich weder bei Konservativen noch bei Progressiven einordnen wollen oder können, weil es ihnen um mehr als ‚die Kirche‘ geht. Weil sie ahnen, dass die spirituelle Obdachlosigkeit, die sie erleben, gar nicht bloß das Problem, sondern ein Teil der Lösung sein könnte“ (10). Bleibt zu wünschen, dass viele diese Chance entdecken.

                Helmut Schlegel OFM

Kiechle SJ, Stefan: Sieben Todsünden (Ignatianische Impulse 96).
Würzburg: echter 2023. 94 S. Gb. 9,90.

Das Thema Sünde mag heutigen Menschen „unendlich fern“ sein, wie der Autor eingangs feststellt, und der Begriff der „Todsünde“ noch mehr. Aber es wäre töricht, das, worum es geht, einfach beiseite zu schieben, nur weil einem der Begriff durch verkorkste religiöse Erziehung (im Unterschied zu „Schuld“ schwingt ja bei „Sünde“ immer auch eine religiöse Dimension mit), durch Missbrauch oder durch Banalisierung leid geworden ist. Immerhin sammelt sich in den klassischen Lasterlisten (ebenso wie in den Tugendlisten) kostbare Menschheitserfahrung (sehr anregend auch im letzten Kapitel Gandhis Versuch, sieben „gesellschaftliche Todsünden“ zusammenzustellen – 87). Todsünden-Listen sind der Versuch, Systematik in das Panorama geistiger und affektiver Verfassungen zu bringen, von denen Menschen sich ganz ergreifen, geradezu besetzen lassen, weit über bloß einzelne Regelbrüche hinaus, die man erkennen, bereuen und für die man um Verzeihung bitten kann, „Todsünden“ eben, die Tod bringen und in denen Menschen sich selbst als moralische Subjekte abzuschaffen drohen.

Es verwundert nicht, dass der Jesuit Stefan Kiechle im vorliegenden „ignatianischen Impuls“ das Thema mit dem Anliegen der „Unterscheidung der Geister“ verbindet. Der Blick auf die sieben Todsünden soll den Leserinnen und Lesern helfen, ihr eigenes Leben anzuschauen und „mit einer gewissen Leichtigkeit und auch mit einem Schuss Selbstironie und Humor“ (16) die Fallen und Schlichen aufzuspüren, die im Leben eines jeden Menschen am Wegesrand lauern. Am Anfang erscheinen die Einladungen auf die abschüssige Bahn der Laster attraktiv, zumal sie immer bei einem Gut ansetzen, das zur guten Schöpfung dazugehört. Die vergiftende Wirkung der lügnerischen Verheißung entfaltet sich jedoch schnell, wenn und weil die Ordnung im Umgang mit den Gaben der Schöpfung verkehrt wird. Medizin gegen dieses Gift ist aber gerade nicht ein defensiv motivierter, ängstlicher Blick auf die Todsünden, sondern – ganz im Sinne von Ignatius – der Blick auf die Wurzeltugend des Dankes, welcher die Gegenseite zur Wurzel aller Übel, der Sünde des Undankes ist (vgl. 15). Von dieser ignatianischen Basis her gelingt Kiechle denn auch eine eindrucksvolle Darstellung der klassischen sieben Todsünden (Völlerei, Wollust, Geiz, Zorn, Neid, Überdruss, Ehrsucht, Hochmut), die ihnen zugleich alle Attraktivität nimmt.

Kiechle folgt je Todsünde einem Schema der Darstellung: 1. Hinweis auf biblische Anknüpfungspunkte, Texte aus 2. der kirchlich-spirituellen und 3. der ignatianischen Tradition, 4. Anregungen für die Gegenwart und 5. Blick auf korrespondierende Tugenden, wie sie in Texten, Handlungen und Haltungen von Ignatius sichtbar werden. Er erspart den säkular gestimmten Lasterdiskursen, die eher immanent-utilitaristisch argumentieren, nicht die Frage, warum zum Beispiel Völlerei (vgl. 30) auch heute noch als „Sünde“ gesehen werden kann. So kann dieser ignatianische Impuls auch für zeitgenössische Leserinnen und Leser Zugang zu einer spirituellen Sicht auf das Leben öffnen, einen Zugang, der die moralisierende Fixierung auf Schuld und Laster überwindet und ihr gerade dadurch auch die Macht nimmt.

                Klaus Mertes SJ

Schüller, Thomas: Unheilige Allianz. Warum sich Staat und Kirche trennen müssen.
München: Hanser 2023. 208 S. Gb. 22,–.

Mit „Heilige Allianz“ wird das reaktionäre Bündnis europäischer Fürsten bezeichnet, die sich 1815 nach dem Wiener Kongress zusammengeschlossen hatten – unter anderem mit dem Ziel, die enge Verbindung von Thron und Altar zu stärken, die von der Französischen Revolution infrage gestellt worden war. Wenn sich Thomas Schüller mit dem Titel seines Essays auf diese historische Interessengemeinschaft bezieht, fährt er schweres Geschütz auf, um die in­stitutionelle Nähe von Staat und Kirche, wie sie das aktuelle Religionsverfassungsrecht und die politische Praxis in Deutschland gestalten, scharf zu kritisieren.

Nach grundsätzlichen Erwägungen zu den im Grundgesetz fortgeltenden staatskirchenrechtlichen Regelungen der Weimarer Verfassung beschreibt der Münsteraner Kirchenrechtler Bereiche, in denen sich die Kooperation von Staat und Kirche aus seiner Sicht in besonderer Weise als problematisch erweist. Besonders ausführlich behandelt er dabei die Spannungen, die sich aus dem kirchlichen Arbeitsrecht ergeben, sowie das skandalöse Umgehen kirchlicher und staatlicher Stellen mit den unzähligen Fällen sexuellen Missbrauchs durch Kleriker.

In journalistischem Stil stellt er kenntnisreich die Herausforderungen und Dilemmata dar, die sich aus der rapide abnehmenden gesellschaftlichen Bedeutung der christlichen Kirchen, den Eigenarten des kirchlichen Rechts und dem mitunter unfassbaren Fehlverhalten hoher und höchster Verantwortungsträger ergeben. Dabei scheut er sich nicht, zum Teil sehr deutliche Urteile zu fällen, wenn er etwa bei einem ehemaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz ein „abgrundtief schlechtes kaltes Herz“ (27) konstatiert, den Staat in „einer Art Geiselhaft der Kirchen“ (54) sieht oder von einer „Beißhemmung der staatlichen Strafverfolgung“ (143) spricht.

Inhaltlich wird man den allermeisten Einschätzungen des Verfassers zustimmen müssen. Allerdings sind seine Beispiele vom Limburger Finanzskandal um Bischof Tebartz-van Elst bis zur Debatte um die Verstrickung der Münchner Kardinäle Ratzinger, Wetter und Marx in die Vertuschung von Missbrauchstaten altbekannt. Und seine Forderungen wie die nach einer Liberalisierung des kirchlichen Arbeitsrechts oder einer strikteren Anwendung der Normen des kirchlichen und staatlichen Strafrechts gegen klerikale Täter wurden in jüngster Zeit bereits umgesetzt.

Dennoch formuliert Schüller inspirierende Gedanken, wenn er zum Beispiel die künftige Gestalt einer Kirche unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Spannungsfeld der biblischen Bilder vom Heiligen Rest und vom Sauerteig verortet sieht. Zur Forderung nach „radikale(r) Selbstrelativierung“ (174) wie sie sein ausdrücklich zitierter Salzburger Professorenkollege Hans-Joachim Sander vertritt, kann er sich gleichwohl nicht durchringen. Der Verfasser belässt es bei dem Appell, das Religionsverfassungsrecht weiterzudenken und in der Trägerlandschaft der Sozialkonzerne neben Caritas und Diakonie eine größere Diversität anzustreben.

So steht am Ende der zuweilen polemisch vorgetragenen Fundamentalkritik kein profiliertes Modell für die Zukunft einer Kirche, die sich von der unheiligen Allianz mit dem Staat losgesagt hat.

                Stephan Lüttich

Krebs, Andreas: Gott queer gedacht.
Würzburg: echter 2023, 148 S. Kt. 14,90.

Vordergründig geht es um eine Übersetzungsvariante: Gott erschuf den Menschen nach seinem Bild, „als Mann und Frau erschuf er sie“ – oder „männlich und weiblich erschuf er sie“, wie es die neue EÜ dem hebräischen Text entsprechend übersetzt.

Die alte Theologie hat auf der ersten Version emphatisch bestanden. Gott erschuf keine Mannweiber (Augustinus). Die exklusiv-binäre Unterscheidung der Geschlechter sei in Gott, sei in seiner Schöpfungsordnung begründet. Die, die zwischen den beiden Polen stehen, seien nicht nach Gottes Bild. Sie hätten keinen Platz in der Welt, die nach Gottes Ordnung gestaltet ist. Diese Menschen erfuhren und erfahren Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt, in vielen Kirchen bis heute. Nimmt man aber die andere Übersetzung, wird ein Raum zwischen den beiden Polen aufgetan. So wie es zwischen Licht und Finsternis, zwischen Land und Meer Übergänge gibt. Das Kürzel LGBTIQ* lotet diesen Zwischenraum aus. Von queeren Menschen, die in das heteronormative Muster nicht passen, geht dieses Buch aus. Ihre Erfahrungen geben theologisch zu denken. Der Titel könnte nicht besser gewählt sein: Gott queer gedacht! Es geht um ein neues Denken von Gott.

Andreas Krebs, Professor für altkatholische und ökumenische Theologie in Bonn, breitet die Zeugnisse queerer Theologien aus, die sich weltweit längst entwickelt haben. Schnell wird klar: Das Thema reicht in die Kerngebiete des Glaubens hinein. Mit Korrekturen in der Sexualmoral und der Anthropologie ist es nicht getan. Die Schatten, die das patriarchalisch verunstaltete Gottesbild geworfen hat, sind tief. Auch die Bibel ist einem patriarchalisch-heteronormativen Weltbild verhaftet. Befragt man aber Bibel und Tradition von heute aus, dann gibt sich Gott neu zu erkennen. Die Panzer, die eine in binären Codierungen denkende Theologie Gott angelegt hat, fallen stückweise ab. Die Geschichten, die von den Erfahrungen queerer Menschen aus erzählt werden können, enthalten Entdeckungen davon, dass Gott anders ist, ja anders als anders, ja „anders als anders als anders“ (Magdalene L. Frettlöh).

Es tun sich Räume von Lebendigkeit auf, die mit Michel Foucault als „Heterotopien“ bezeichnet werden können: Gemeinschaft in bleibender Verschiedenheit; Wider­ständigkeit gegen den Anspruch, alles unter einen Begriff, ein Prinzip, eine alles vereinnahmende Utopie zu bringen. Besonders überzeugend ist diese Theologie, wenn sie von Gottes Geistkraft spricht. Die Erfahrungen von „Intersektionalität“, das heißt von der Überschneidung verschiedener Diskriminierungen, unter denen queere Menschen zu leiden haben, kommen mit den biblischen Bezeugungen vom Wirken der ruach Gottes überein. Sie wirkt an Grenzen und in Übergängen, stellt sich ein in Ausweglosigkeiten, erweckt schöpferisches Handeln jenseits festgefahrener Gegensätze. Und damit ist man schon bei der Trinität. Gott ist in sich selbst unvereinbare Vielfalt. Nach seinem Bild und Gleichnis können queere Menschen sich verstehen. Mir scheint, Trinität wird nirgendwo so radikal gedacht wie in queerer Theologie.

Nicht aus einem modischen Pluralismus, sondern aus dem Zentrum christlicher Gott-Rede heraus wird in diesem Buch Gott neu gedacht. Plötzlich ist Gott da mitten in den Konflikten um Diversität, um die Überwindung gewaltsamer Gesellschaftsmodelle und die Rolle der Religion dabei. Krebs schreibt einfache, klare Sätze. Er hat viel zu erzählen. Es ist ein Buch für gläubige Menschen, die an der Zukunft des Glaubens verzweifeln. Jungen Menschen kann man es geben, denn es ist nichts Apologetisches und Altbackenes darin. Es öffnet Räume – für Gott, für Gotteserfahrungen, für eine Welt, in der es jedenfalls nicht Gott ist, der irgendetwas festschreibt.

                Thomas Ruster

Breul, Martin / Tappen, Julian: Von Teekannen, Gott und Gänseblümchen. Theologische Gedankenexperimente.
Freiburg: Herder 2023. 336 S. Kt. 25,–.

„‚Ich glaube übrigens, dass sich zwischen der Erde und dem Mars eine fliegende Teekanne befindet. […] Ihr Schöpfungsziel ist es, dass möglichst viele Leute Tee trinken. Ich bin eine Teeistin.‘ […] Ihre Nachbarin […] besteht darauf, dass die Existenz einer solchen Teekanne nicht widerlegbar ist und sie deshalb mit guten Gründen an ihrem Glauben festhalten kann.“ (19). „Und siehe, ein Tumult erhob sich im Garten, unter dem Jesus sich den Griffen der Soldaten entwinden konnte. Im Schutz der Dunkelheit konnte er sich in einem naheliegenden Felsengrab verstecken […] bis es sicher genug war, um das Land zu verlassen“ (184). „Imagine there’s no countries […]. And no religion, too“ (Beatles, 308).

Mit zahlreichen solcher Gedankenexperimente führen Martin Breul und Julian Tappen humorvoll, gut zugänglich und zugleich im positiven Sinne anspruchsvoll in Grundfragen der Systematischen Theologie ein. Die Gedankenexperimente dienen mal als Verstehenshilfe, mal zur Irritation, mal als lebensweltlicher Anknüpfungspunkt. In jedem Fall regen sie zur eigenen Auseinandersetzung mit den behandelten Fragen an und machen Lust aufs Theologisieren. Anhand dieser „narrativen Zug[änge]“ (15) leiten Breul und Tappen durch die klassische Dreiteilung in Quaestio religiosa, Quaestio christiana und Quaestio catholica, mit gewissen Schwerpunkten in den Bereichen Anthropologie und der Bedeutung von Religion in Gesellschaft und Politik. Der Fokus der einzelnen Kapitel liegt weniger auf biblischen Zugängen oder historischen Darstellungen, sondern vor allem auf den dogmatischen bzw. fundamentaltheologischen Fragen in ihrem Gegenwartsbezug selbst, die auf hohem Niveau diskutiert und immer wieder rückgebunden werden an das einführende Gedankenexperiment. Gegenüber anderen Einführungen stechen dabei Themen wie Transhumanismus, politischer Liberalismus oder Anthropodezentrierung im Vergleich zur anthropologisch gewendeten Theologie heraus. Die kurz kommentierte „Literatur zum Weiterlesen“ am Ende der Kapitel ist eine hilfreiche Ergänzung.

Aufschlussreich ist das Buch auch vor dem Hintergrund von Problemanzeigen gerade aus der Dogmatik, dass die eigenen Theoriegebäude vielfach unverständlich und ohne Lebensweltbezug erscheinen. Breul und Tappen liefern so spannende Impulse für eine Didaktisierung der Glaubenslehre. Sowohl in der universitären Lehre als auch im Religionsunterricht der Oberstufe können die jeweiligen Kapitel mit den Gedankenexperimenten als (hochschul-)didaktische Mittel Anwendung finden. Breul und Tappen machen dabei auch einen Vorschlag, wie die Kapitel aufgeteilt in die jeweiligen Traktate zur Einführung in die Systematische Theologie genutzt werden können (316).

Das Buch ist in vielfacher Weise lesenswert: als Einführung in die Systematische Theologie für Studierende und Religionslehrkräfte, die Freude an der theologischen Diskussion verbreitet; als Anregung für die Hochschullehre; als Beitrag zur Diskussion um eine Didaktisierung von Dogmatik und Fundamentaltheologie und als kurzweilig-anspruchsvolle, gegenwartsbezogene Lektüre für theologisch Interessierte.

                Yannick Selke

Garhammer, Erich: Genie und Gendarm. Wenn eine Theologie amtlich wird am Beispiel von Benedikt XVI.
Würzburg: echter 2023. 136 S. Gb. 14,90.

Der Autor, bis 2017 Lehrstuhlinhaber für Pastoraltheologie an der Universität Würzburg und bis 2021 Schriftleiter der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“, hat bei Joseph Ratzinger in Regensburg studiert. Er gehörte dem letzten Diplomkurs an, den Ratzinger betreute und prüfte, verdankt ihm seinen akademischen Weg und begegnete ihm auch „als Glaubenswächter, der mir diesen Weg fast verbaut hätte“ (15). Mit dieser persönlichen Perspektive im Hinterkopf blickt er auf zurück auf das Wirken von Ratzinger/Benedikt XVI. Dabei geht er nicht chronologisch vor, sondern beschreibt Ratzingers theologisches und kirchliches Wirken anhand von einigen Schlüsselthemen: Zweites Vatikanisches Konzil, Liturgiereform, Verhältnis von Konzil und Medien, Wiederverheiratete Geschiedene, Lehramt und „Entweltlichung“. Im Brief von Papst Franziskus an den neuen Präfekten des Dikasteriums für die Glaubenslehre vom 1.7.2023 sieht Garhammer einen Richtungswechsel: „Mit diesem Schreiben von Papst Franziskus ist die Theologie von Joseph Ratzinger ‚aufgehoben‘“ (128).

Dass für das Verständnis der Theologie Ratzingers/Benedikts XVI. die Unterscheidung zwischen einer „Hermeneutik der Kontinuität“ und einer „Hermeneutik der Diskontinuität“ schon bald nach seinem reformerischen Wirken im Vorfeld und auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil grundlegend wurde, ist oft bemerkt worden. Garhammer verbindet den Richtungswechsel aber weniger mit Ratzingers Erfahrungen 1968 in Tübingen als vielmehr mit dem Tod der Eltern Anfang der 1960er-Jahre. „Dieses entscheidende Ereignis des Todes seiner Eltern und die Erfahrung ihres Geborgenseins im vorkonziliaren Glauben ließen Ratzinger nachdenklich werden“ (35, siehe auch 101). Das leuchtet umso mehr ein, als Garhammer sich aller psychologisierender Diskurse enthält und stattdessen eine nachvollziehbare Erfahrung anspricht, die viele Katholiken in den 60er-Jahren machten, umso schmerzhafter, je mehr sich die Erneuerung mit einer im Ton unangemessenen Abwertung des Alten verband. Vermutlich waren und sind ja Spannungen und auch emotionale Zerreißproben nicht zu vermeiden, wenn Erneuerungsprozesse nicht nur äußerlich bleiben, sondern in die Tiefe kultureller Gewohnheiten reichen – zumal sich „das Alte“ ja auch im Ton unangemessen gegenüber dem „Neuen“ äußern kann und es ebenfalls tut. Ratzingers „Hermeneutik der Kontinuität“ wäre, so gesehen, der Versuch, gerade jene Gläubigen vor Schmerzen zu schützen, die „einfachen Herzens“ sind, mehr noch: als Theologe und später als Präfekt der Glaubenskongregation mit denen ein Bündnis zu schließen, die einfachen Herzens sind. „Der Glaube derer, die einfachen Herzens sind, ist der kostbarste Schatz der Kirche; ihm zu dienen und ihn selbst zu leben, ist die Höchste Aufgabe kirchlicher Erneuerung“ (Ratzinger, zit. nach 35).

Besonders erhellend ist auch das Kapitel zu Ratzingers Unterscheidung zwischen dem „wirklichen“ und dem „medialen“ Konzil (71-83), die am Schluss seiner Abschiedsrede vom 13.2.2013 zu lesen ist. Sie bezieht sich auf eine Kontroverse, die bereits das Konzil prägte und die letztlich für das Kirche-Welt-Verhältnis und für das Verständnis von Zeitgenossenschaft spielentscheidend war. Und das gilt ja auch heute: Spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist „der Weg zurück von Kirche als Dialogpartnerin mit der Welt zur Ordnungsinstanz der Welt“ (83) versperrt.

                Klaus Mertes SJ

Janz-Spaeth, Barbara / König, Hildegard / Sticher, Claudia: Zeigt euch! 21 Porträts namenloser Frauen der Bibel.
Ostfildern: Patmos 2023. 200 S. Gb. 24,–.

Biblische Frauengestalten haben Konjunktur. Der Reihe der vielen interessanten Veröffentlichungen der letzten Jahre zu diesem Thema fügt das Autorinnen-Trio einen weiteren Titel hinzu und nimmt die Leserschaft hinein in ein buntes Panorama biblischer Erzählungen. Bereits im Vorwort deuten die Autorinnen an, dass das Buch ein mehrfaches Interesse verfolgt: Zum einen soll das Phänomen der vielen namenlosen Frauengestalten in biblischen Texten unter die Lupe genommen werden – freilich nicht vorrangig aus wissenschaftlich-analytischer Perspektive, sondern in kreativ-literarischer Weise. Zum anderen wünschen sich die Autorinnen, dass aus diesen Erkundungen ein Wechselspiel mit den Lebensgeschichten der Leserinnen und Leser entsteht. Und schließlich will die Lektüre – das verrät der Klappentext – auch als Ermutigung dienen, „Position zu beziehen und sich zu solidarisieren gegen Ungerechtigkeit und Marginalisierung von Frauen heute“.

Diese Ziele verfolg der Band in 21 Episoden, die in jeweils unterschiedlicher Weise solchen biblischen Frauengestalten Aufmerksamkeit schenken, die sonst eher weniger Berücksichtigung in Wissenschaft und Praxis der Kirchen finden. Nicht alle Figuren sind dabei im strengen Sinn namenlos, aber allen schenken die Autorinnen nicht nur Aufmerksamkeit, sondern mit ihren kreativen Weitererzählungen biblischer Texte auch ein Innenleben und eine kräftige Stimme. Die literarischen Mittel, die die Autorinnen dazu einsetzen, sind ebenso vielfältig wie die Auswahl der weiblichen Figuren (neben der Frau des Kain aus Gen 4, der Tochter des Jiftach aus Ri 11 und der Witwe von Nain aus Lk 7 finden sich unter den gewürdigten Frauen etwa auch Statistinnen wie die Mägde auf Boas’ Acker aus Rut 2 oder die Dienerin der Judit aus Jdt 13). Die namenlosen Frauen der Bibel sprechen lyrisch und auch in Prosa, halten Zwiegespräche mit anderen biblischen Figuren, schreiben Briefe, halten Reden, singen und geben Interviews.

In den Überschriften aller 21 Episoden sind biblische Verweisstellen enthalten, so dass ein Weiterlesen im Bibeltext problemlos möglich ist. Zudem werden den einzelnen Episoden meist Ausschnitte aus biblischen Texten vorangestellt oder beigegeben. Ein schönes Detail, das gut zur Vielfältigkeit des Bandes insgesamt passt, ist es, dass dabei nicht nur Einheitsübersetzung und Lutherbibel verwendet werden, sondern die biblischen Texte selbst in zahlreichen unterschiedlichen Übersetzungen zur Sprache kommen. Einige der Episoden enthalten zusätzlich bibelwissenschaftliche Impulse, etwa zu sprachlichen Details der zugrundeliegenden Bibeltexte oder zu deren Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. Dabei zeigt sich deutlich die bibelwissenschaftliche Expertise der Autorinnen. Gleichzeitig aber werden Fachbegriffe so konsequent vermieden, dass die Lesbarkeit für einen breiten Kreis von Leserinnen und Lesern gewährleistet bleibt.

Eine der größten Stärken stellt paradoxerweise eine der wenigen Schwachstellen des Buches dar: Durchwegs vermittelt der Band nicht nur faszinierende Perspektiven auf wenig bekannte und/oder beachtete Frauengestalten der Bibel, sondern vermittelt auch beinahe nebenbei einiges an Wissen zum Buch der Bücher, z.B. zur Autorschaft der Pastoralbriefe (vgl. 183). Wenn dieses Wissen in den Mund der sprechenden Frauen gelegt wird, macht dies allerdings gelegentlich einen etwas gezwungenen Eindruck.

Der Lesefreude tut dies aber keinen Abbruch, so dass die Lektüre all denen wärmstens empfohlen werden kann, die sich mit den Autorinnen auf die Spuren der namenlosen Frauen der Bibel begeben wollen.

                Judith König

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