Für eine Kultur der Genügsamkeit

Dass Papst Franziskus bereits bei seinem ersten Auftritt für eine Kirche der Armen plädierte, mit seinem Namen ein Programm signalisierte und durch seine Einfachheit viele Sympathien gewann, ist überraschend. Es scheint nicht nur um ein Signal für die Kirche selbst und ihre Reform zu gehen, sondern wohl auch um die Ahnung, die viele bestimmt: Es braucht einen tiefer gehenden gesellschaftlichen Wandel der Lebensweise.

Die Erfahrung von immer mehr, immer schneller, immer raffinierter verfängt nicht mehr. Eine Trendwende ist angesagt. Längst machen Bemühungen um eine Neugestaltung der Finanzmärkte deutlich, dass die Fortsetzung der herrschenden Dynamik in Wirtschaft und Gesellschaft als ruinös erkannt wird, auch wenn nach der bisherigen Krisenphase bei vielen keine Veränderung der Denkweise oder des Verhaltens erkennbar ist. Auch die dramatisch hohe Zahl von Burnout-Fällen zeigt, dass immer mehr Belastung bei immer höherer Geschwindigkeit vielen auf die Dauer zu viel wird.

Dass Einzelmaßnahmen keinen Ausweg aus der herrschenden Wirtschafts- und Lebensweise schaffen werden, versteht sich. Es geht um nichts weniger als um eine grundlegende Umorientierung - wenngleich diese in ihren konkreten Schritten keineswegs spektakulär sein muss. Das Programmwort einer solchen Umorientierung lautet: Kultur der Genügsamkeit. Denn entgegen einem immer mehr, immer schneller und immer raffinierter, bedarf es eines klaren: Genug! Es gilt, ein Gespür zu entwickeln, was wann und für wen genug ist. Soll dies aber nicht wieder - wie beim Konsumzwang - überfremdend von anderen verhängt werden, so geht es um das eigene innere Gespür für das, was den Einzelnen und was einer Gemeinschaft wichtig ist für ein gutes Leben, um das Wahrnehmen dessen, was dem Leben Inhalt und Qualität gibt. Damit ist weniger oft ein Mehr: bei der Menge konsumierter Güter, genutzter Medien, wahrgenommener Termine. Es geht um die Fähigkeit, Grenzen wahrzunehmen oder zu setzen, damit das Leben wieder zu sich finden kann.

Da es um die Frage einer Kultur geht, um die Entwicklung von sinnvollen und gemeinschaftlich geteilten Lebensweisen, braucht es dafür die eigene Reflexion von Erfahrungen und ihren Austausch mit anderen: Was macht Freude, was ist köstlich, fein, herausfordernd, erfüllend? Entgegen einem Fremdgesteuertwerden der Einzelnen geht es um die eigene Souveränität beim Konsum und der Nutzung von Zeit. So können neue Lebensweisen entstehen: Ausdrucksformen für ein gutes Leben.

Eine Kultur der Genügsamkeit ist keineswegs nur ein Programm für "wohlstandsgeschädigte" Menschen in Überflussgesellschaften. Angesichts der Mehrheit der Menschen weltweit, die unter oder an der Armutsgrenze leben, schafft Genügsamkeit eine neue Solidarität und das Interesse, voneinander zu lernen.

Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Ignacio Ellacuría SJ, der vor seiner Ermordung 1989 für eine "Zivilisation der Armut" plädierte, die "die universale Befriedigung der Grundbedürfnisse zum Prinzip der Entwicklung und das Wachstum der gemeinsamen Solidarität zur Grundlage der Humanisierung" macht. Jon Sobrino SJ hat diese Vision als "Zivilisation geteilter Genügsamkeit" weiterentwickelt.

Angesichts der Übernutzung des Planeten durch eine Minderheit der Weltbevölkerung und der bedrohlichen Folgen des Klimawandels wird bereits jetzt die Frage der Genügsamkeit zur Schicksalsfrage für Menschheit und Schöpfung. Die Entwicklung einer solchen Kultur braucht Prozesse der Verständigung und Akzeptanz von entsprechenden Lösungsansätzen. In diesem Sinn ist der Report "Global - aber gerecht" (2011) des Instituts für Gesellschaftspolitik an der Hochschule für Philosophie in München und der damit verbundene internationale Dialogprozess zu sehen. Ähnlich plädiert das ökumenische Projekt "Menschen, Klima, Zukunft?" (2012) für den Prozess einer "Großen Transformation" im Sinn einer "Umkehr zum Leben" und der aktiven Gestaltung des notwendigen Wandels.

Für diese Transformation ist eine Änderung der vorherrschenden Rationalität des "Nie genug" entscheidend, wie sie für den gewinnorientierten Sektor der Ökonomie maßgeblich ist. Dabei werden ökologische und soziale Grenzen permanent missachtet. Demgegenüber könnte für eine Neuorientierung der Ökonomie eine Anleihe beim "Haushaltssektor" genommen werden, dem eine Rationalität des "Genug" zugrunde liegt: Genug gekocht! Genug gepflegt! Genug gereinigt! Was jemand erhält, hängt nicht von Einkommen und Kaufkraft ab. Im Blick steht, was für ein gutes Leben benötigt wird.

Kultur wird ermöglicht oder verhindert durch entsprechende Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft. Es gilt, eine Rationalität zu stärken, die dem "Genug" dient. In der Bewegung der Solidarischen Ökonomie werden Wirtschaftsweisen gelebt und immer wieder neu erprobt, die die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt stellen: "Genug für alle!" Beispielhaft sind Ansätze im Bereich Lebensmittel und Ernährung wie Community Supported Agriculture, fair trade oder foodcoops.

Eine Kultur der Genügsamkeit, eine Ökonomie des "Genug für alle" lässt sich für ChristInnen vom Sonntag her denken. Woche für Woche erfolgt eine gesellschaftliche Unterbrechung, die anzeigt: Genug gearbeitet! Genug gewirtschaftet! Der freie Sonntag trägt dazu bei, dass Zeitwohlstand in Form gemeinsamer freier Zeit gesichert wird. Kultur erfordert immer wieder die Entscheidung: "So!" oder "So nicht!" Sie fordert den Mut zum Anders-Sein. Eine solche Genügsamkeit schafft aber eine neue Freiheit. Als innere Freiheit macht sie frei von Angst, unnötigem Besitz und "Habenwollen"; als äußere Freiheit eröffnet sie einen Gestaltungsraum in sozialer Gerechtigkeit.

Eine Kultur der Genügsamkeit - von Einzelnen, von Gruppen, von Kirchen und Religionsgemeinschaften - kann dazu beitragen, neue und gerechte Strukturen in Gesellschaft und Wirtschaft hervorzubringen. Das Zeugnis der Einfachheit von Papst Franziskus ist dafür Inspiration und Ermutigung.

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