Heilige Schrift

In vielen Religionen existieren „heilige Schriften“, die für die Glaubensgemeinschaft konstitutive Bedeutung haben, auf göttlichen Ursprung zurückgeführt werden, im Textbestand unantastbar sind und für die Lebensgestaltung der Glaubenden grundlegend sind.

Die Bezeichnung Heilige Schrift im Christentum geht auf Röm 1,2 (dort auf das AT bezogen) zurück.

Die Offenbarung Gottes ist geschichtlich und bedarf daher der weiteren Überlieferung; sie ist ein Wortgeschehen; sie ist ein sozial-kommunikativer Vorgang; sie wird von der Glaubensgemeinschaft Kirche als „eschatologisch“ verstanden, das heißt als nicht mehr durch eine neue Offenbarung überholbar und ersetzbar. Historisch gesehen ist es von Bedeutung, dass diese Offenbarung in eine Menschheit mit Schriftkultur hinein erging. In theologischer Sicht ist die Heilige Schrift des Christentums die schriftliche Objektivation der ursprünglichen Offenbarungsbotschaft, des apostolischen Kerygmas, die unter dem besonderen urheberischen Einfluss des Heiligen Geistes erfolgte, die so Quelle und Norm für die weitere Bezeugung dieser Offenbarung wird.

„Irrtumslosigkeit“ der Heiligen Schrift

Das II. Vaticanum berücksichtigte die bibelwissenschaftliche Erkenntnis, dass in der Heiligen Schrift Unrichtigkeiten enthalten sind. Es unterschied zwischen Gott als dem „Urheber“ der Heiligen Schrift und den Menschen als deren „echten Verfassern“. Es vermied den Begriff „Irrtumslosigkeit“ und lehrte stattdessen, dass die Bücher der Heiligen Schrift „sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte“ (DV 11). Bei Verdacht auf Irrtümer ist zu untersuchen, was die Absicht einer Aussage und deren Grenzen sind, unter genauer Berücksichtigung der literarischen Gattung (DV 12). Der „Sitz im Leben“ einer Aussage ist zu berücksichtigen. Die unvermeidlichen „Randunschärfen“ jeder menschlichen Aussage sind mit zu bedenken. Aussageinhalt und -absicht sind zu unterscheiden von bloßer Berichterstattung über gängige Meinungen (auch im Hinblick auf Schriftzitate innerhalb der Heiligen Schrift). Perspektivitäten und Mentalitäten (z. B. des Apostels Paulus als eines Konvertiten) sind zu beachten. Zu bedenken bleibt, dass vieles an Text und Inhalt der Heiligen Schrift noch dunkel ist und möglicherweise für immer dunkel bleiben wird. Die Bibelwissenschaft hat das Recht, Textaussagen, die nicht unmittelbar eine Heilswirklichkeit betreffen, nach den Maßstäben der heutigen Kriterien für Wahrheit und Richtigkeit zu beurteilen.

Heilige Schrift und kirchliches Lehramt

Wenn die Heilige Schrift als Objektivation des Wortes Gottes gilt und als solche immer nur im lebendigen Zeugnis der verkündigenden (und damit auch lehrenden) Kirche erkannt werden kann, und wenn Verkündigung (und damit auch Lehre) der Urkirche legitim weitergeführt werden, dann ergeben sich daraus ein innerer Zusammenhang von Heiliger Schrift und kirchlichem Lehramt und die Legitimität der lehramtlichen Schriftinterpretation. Damit stehen Kirche und Lehramt nicht über der Heiligen Schrift, wohl aber über deren individueller Auslegung. Zur Kirche in ihrem nicht-menschlichen Ursprung gehört als ein inneres Moment die Heilige Schrift. Die Treue zu diesem Ursprung ist durch den Heiligen Geist garantiert und ist damit immer auch Treue zur Heiligen Schrift. Weil das Lehramt nur bezeugen und weitergeben kann, was im apostolischen Kerygma der Urkirche als geoffenbart bezeugt ist, und weil dieses Kerygma in der Heiligen Schrift rein und unverfälscht objektiviert ist, bleibt die Heilige Schrift verpflichtende Quelle und Norm für das Lehramt (DV 10).

Heilige Schrift und Tradition

Die Weitergabe des apostolischen Kerygmas als autoritative, aktuelle Lehrverkündigung eines Inhalts als eines apostolisch geoffenbarten Inhalts heißt Tradition im theologischen Sinn. Insofern die Erkenntnis der Inspiration und des Kanons der Heiligen Schrift auf die Tradition zurückgeht, ist die Tradition bleibend der Heiligen Schrift „vorgeordnet“. Wenigstens in diesem Sinn gelten Heilige Schrift und mündliche Tradition in gleicher Weise als Quelle und Norm für die Lehrverkündigung der Kirche (DV 8–10; LG 25). Dabei bleibt unbestritten, dass die mündliche Tradition der Kirche auf die Heilige Schrift als Quelle und Norm zurückgreifen muss (DV 10). In der katholischen Kirche und Theologie besteht eine Kontroverse darüber, ob die Tradition nach der Konstitution der Heiligen Schrift außer bei der Erkenntnis der Inspiration und des Kanons auch noch materiale Glaubensinhalte weitergebe, die in keiner Weise aus der Heiligen Schrift erhoben werden können. Das II. Vaticanum hat diese Frage bewusst offen gelassen. Nach ihm sind Heilige Schrift und Tradition zusammengefasst in der „apostolischen Predigt“, die in der Heiligen Schrift „besonders deutlichen Ausdruck“ gefunden hat. Der Tradition kommen die Funktionen der Erkenntnis des vollständigen Kanons (DV 8) und der Vergewisserung über alles Geoffenbarte zu (DV 9). In den kirchlichen Lehraussagen existieren keine konkreten Angaben über material-inhaltliche Sätze, die nur durch mündliche Tradition vermittelt seien. Auch bei definierenden Lehren, die weitab von der Heiligen Schrift zu liegen scheinen, sucht das Lehramt ein „letztes Fundament“ in der Heiligen Schrift nachzuweisen. Der Nachweis, dass heute existierende Dogmen nur auf ein mündliches apostolisches Kerygma zurückzuführen seien, ist nicht leichter als der Versuch des Nachweises, dass ein heutiges Dogma die „Explikation“ dessen ist, was „implizit“ in der Heiligen Schrift gesagt ist (so die Prinzipien der Dogmenentwicklung). In Zweifelsfällen kann nur durch die Heilige Schrift entschieden werden, was unter den überlieferten Inhalten der Tradition nur menschliche und was göttlich-apostolische Tradition ist.

Die Heilige Schrift als Quelle und Norm des Glaubenslebens

Die Heilige Schrift beider Testamente rühmt die Lebensbedeutung der Schriftlesung. Nach dem Beispiel der Synagogen gestalteten die frühchristlichen Gemeinden ihre Wortgottesdienste mit Schriftlesung. Das II. Vaticanum hob die Praxis des Glaubens aus dem Wort Gottes (DV 21–25), die Bedeutung der Heilige Schrift in der Liturgie (SC 7, 24, 35, 51, 92) und als Glaubens- und Lebensnorm bei nichtkatholischen Christen (LG 15) hervor.

Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder

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