Liebe Leserinnen und Leser der Pastoralblätter,
schon die Überschrift genügt und das Fenster zum Abenteuer geht in mir auf.
Rauer Wind pfeift wie früher als Halbwüchsiger durch meine Gedanken, während ich verwegene Seeleute uralter Zeiten auf ihren atemberaubenden Wegen über die Weltmeere begleite, ihren derben, kehligen Rufen aus wild wuchernden Bärten lausche, ihre schwieligen Hände vor mir sehe, die auf sonnengegerbten Ledertaschen mit den Entwürfen für Landkarten und Seerouten ruhen. Ich rieche den Schweiß und den Rum in den Laderäumen der bauchigen Galeonen und ziehe scharf die Luft ein beim Gedanken an die schmerzhaft wackelnden Zähne der Matrosen als Folge ihres Skorbuts.
Abgetaucht in solchen Entdeckergeschichten über Stunden und ganze Sommerferientage, den Rücken angelehnt an ein warmes Scheunenholztor, in der einen Hand ein dickes Buch voller abenteuerlicher Geschichten und in der anderen eine dreieckige Packung Sunkist als letzte Trinkreserve vor Amerika, so verflogen sie, unzählige Kindheitsvormittage im Odenwald bei Großmutter und Großtante, bis dann das Mittagsgeläut der nahen Kirche und die beiden Frauen mich zum Essen ins etwas entferntere Wohnhaus riefen.
Der Wind ferner Ozeane wackelt am Scheunentor hinter mir, ich blicke prüfend auf zum Himmel, wo sich dicke Wolken aufbauschen.
Was war das aber auch für eine großartige Zeit für Entdeckungen, diese paar Jahrzehnte vom 15. ins 16. Jahrhundert hinein, also vor gut 500 Jahren, als Christoph Kolumbus die Seeroute nach Indien erforschen wollte, dabei komplett vom Weg abkam und mit den Bahamas unversehens an die Tür von Amerika klopfte.
Diese Zeit, als Ferdinand Magellan 1519 im Auftrag der spanischen Krone die Westroute zu den „Gewürzinseln“ finden sollte, dabei an der Südspitze Südamerikas in einen schweren Sturm geriet und seine Schiffe ausgerechnet in jene ruhige Bucht zurückzog, die sich als schiffbare Durchfahrt vom Atlantik zum Pazifik erwies. Magellan erreichte noch die Philippinen und starb dann im Kampf mit den Kriegern der dort lebenden Visayas. Von den rund 240 mit ihm gestarteten Seeleuten trieb es 35 Überlebende in einem letzten Schiff einmal um die Welt, bis sie wieder ihre Heimat erreichten. Es gibt Geschichten, die du in Jugendsommern verschlingst und dann ein Leben lang wie einen Kinofilm in dir abrufen kannst. In den Kindsköpfen kleiner Jungs handeln sie oft von Entdeckungen und Abenteuern.
Und während die Welt sich durch solcherlei uralte Entdeckungsabenteuer in den Köpfen der meisten Menschen endgültig als Kugel etablierte und auch immer mehr Globen für zuhause entstanden, die die damals bekannten Weiten als betretbare Landkarte darstellten, reiste Martin Luther etwa zur selben Zeit wie Magellan über das ihm bis dahin eher unbekannte Meer seiner Seele und kartographierte seinerseits diese Reise neu. Beseelt wenn nicht besessen von dem Gedanken, Gott mit allen erdenklichen eigenen Mitteln zu genügen, war er aufgebrochen. Im Gepäck jede Menge Bußbereitschaft und die Bibel seiner Zeit, so saß er im Turmzimmer des Augustinerklosters von Wittenberg, las, nein, verschlang den paulinischen Römerbrief, kam schließlich in den Stürmen des Nachdenkens und im Aufruhr der Seele wie Kolumbus und Magellan von dem ursprünglich eingeschlagenen Weg ab und entdeckte zu seiner Verblüffung und Befreiung einen neuen, viel direkteren Weg zu Gott, den er später mit paulinischen Worten von Glaube und Glaubensgerechtigkeit umriss wie die Konturen einer neuen Landkarte für die christliche Religion.
Was für eine Zeit.
Keine fünfhundert Jahre später sitzt der halbwüchsige Junge immer noch vor der sommerwarmen Scheune der Großeltern, verschlingt Seite um Seite großartiger Entdeckergeschichten, zerbeißt vor Aufregung sein Trinkröhrchen und wundert sich, dass die Großmutter gar nicht zum Essen ruft, obwohl die Kirchenglocke längst den Mittag eingeläutet hat. Die Wolken verdunkeln mittlerweile den Himmel, ein Gewitter zieht auf. Der Wind als sein Vorbote wirft irgendwo einen Wäscheständer um. Es wird ungemütlich.
Der Junge nimmt sein Buch, drückt es schützend an sich und trottet auf der kleinen, dampfenden Straße zum Haus der Großeltern zurück. Dabei fallen ihm ein paar Menschen auf, die in Nachbars Garten zusammenstehen, nein, um etwas herumstehen. In dieser Menschengruppe entdeckt er die Großmutter. Er lässt sich von seinem Weg abbringen, geht durch das schiefe Gartentor und sieht durch die Beine der Versammelten den Umriss eines Körpers auf der Wiese liegen. Das fotografische Gedächtnis des Kindes speichert für sein ganzes folgendes Leben dieses Bild ab: einen Körper, der sich nicht bewegt, einen Kopf, der blutet, Augen, die geschlossen sind; und einen Menschen, der sein Ohr an die Nase der reglosen Frau legt.
Noch bevor die entsetzte Großmutter den Jungen von dort wegziehen kann, weg von der Nachbarin, die, beim Versuch, die Läden zu schließen vor dem drohenden Gewitter, aus dem Fenster im ersten Stock ihres Hauses gefallen war, spürt der Junge, dass etwas in ihm zerreißt.
Was da zerriss, konnte der Junge damals noch nicht in Worte fassen.
Doch er bekam es zu spüren. Der Junge spürte in diesem Moment das Ende vollkommener Geborgenheit im Leben, wie sie Kinder ab und zu erleben dürfen, wenn sie sie erleben dürfen. Zugleich entdeckte er durch den Riss im bis dahin warmen Mantel um seine Seele etwas grundlegend Neues wie einen unbekannten Kontinent: die hautnahe Zerbrechlichkeit und Gefährdung des Lebens und zugleich seine überaus schützenswerte Kostbarkeit.
Wann immer er danach am Haus der Nachbarin vorüberging, geriet seine Seele in Aufruhr durch diesen Riss im Mantel.
Hunderte von Seeleuten konnten zuvor und danach über Bord gegangen sein in den Sturmgeschichten seiner Lieblingsbücher, er blieb davon unberührt; es brauchte den Sturz im Nachbarinnengarten, um seinen Blick aufs Leben und seine Seele in ein bis dahin unbekanntes Neuland zu führen. Die Nachbarin hat es überlebt, der alte warme Mantel um die Seele des Jungen nicht.
Uralte und alte Geschichten sind das, die mich immer noch packen. Geschichten, wie sie das Leben erzählt und die doch etwas gemeinsam haben: eben nicht nur ein erträumtes fernes Ziel, eben nicht nur den Mut zum Aufbruch ins Abenteuer, sondern vor allem die unvorhergesehenen Abwege, Umwege und Stürme, die eine geplante Reise grundlegend verändern, die den vertrauten Mantel zerreißen und dadurch ab und zu den Blick öffnen zur Entdeckung von etwas vollkommen unerwartet Neuem.
Lege ich neben diese Erfahrungen meine Bibel, fallen mir nicht nur die Sturm- und Wellengeschichten darin ein, sondern auch jene Geschichten, in denen Menschen die Augen aufgingen.
Von einem kennen wir sogar den Namen: Bartimäus (Markus 10). Der saß in Jericho auf der Straße und bettelte. Sein Handicap: er war blind. Und damit war sein Leben erst einmal festgelegt auf lange Tagesstunden mit ausgestreckten Händen. Der Mantelumhang des Vertrauten lag um ihn und lastete auf ihm, alles war wie immer. Sein Lebensweg lag wie eine abgesteckte Route vor ihm.
Bartimäus bekommt nun durch die Unruhe auf der Straße mit, dass Jesus vorbeigeht. Der Wind dieser Straßenunruhen berührt auch ihn, versetzt ihn unversehens in Aufregung, schlägt hohe Wellen in seiner Seele. Der Wind wird vollends zum Sturm, innen und außen, als Umstehende Bartimäus zurechtweisen, er möge mit seinem Sturmgeschrei doch bitte aufhören.
Jesus bleibt stehen, wie so oft in den Stürmen, und lässt den Schreienden zu sich bringen. Das bringt Bartimäus nun vollends auf „Abwege“. Der Wind legt sich nicht in ihm. Noch nicht. Er treibt ihn zu Jesus, an dem die Stürme erst still werden.
Leider beschreibt uns Markus nicht näher diese Sekunden des aufrechten, stürmischen Ganges von Bartimäus zu Jesus, er notiert nur: Er warf seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus (Markus 10,50). Das Bild des Mantelumhangs schenkt und lässt er uns, immerhin. Ich sehe den Mantelumhang zerreißen im Sturm dieser Sekunden wie den Vorhang im Tempel am Karfreitag und wie den vertrauten Seelenmantel des Jungen in jenem fernen Feriensommer.
Was hier wie dort folgt, ist eine Entdeckung, zugesprochen aus berufenem Mund und mit allen Sinnen spürbar. Und die eintretende Stille, die für Bartimäus in diesem Moment so greifbar ist wie die göttliche Hand auf seinen Augen.
Was Bartimäus danach sieht, verrät Markus uns nicht mehr. Der zurückgebliebene Mantel weist uns allerdings auf eine Entdeckung hin. Bartimäus erforscht sein Leben nicht länger durch Mantelrisse. Er entdeckt die Weite eines neuen Vertrauens, in sich selbst und in Gott wie Neuland unter den Füßen und den unendlichen Himmel über sich, mit dem er sich fortan umkleidet. Er entdeckt sein Leben unverhüllt als beachtetes, geachtetes, schützenswertes und begleitetes Leben wie eine unvermutete Gastfreundschaft nach langer Reise. Ganz bestimmt gewinnt er auch neue Weite und Horizonte in seinen Ein- und Aussichten wie den überraschenden Ruf „Land in Sicht“ vom Ausguck.
So kartographiert auch Bartimäus seine Lebenswelt neu, gibt die handgezeichneten Landkarten schließlich weiter zu Markus, zu Martin Luther, zu dir und mir.
Wie reich das Leben doch ist an Entdeckungen. Mit Gottes Hilfe. Durch alle Zeiten und Stürme.
Wenn es sein darf, finden auch Sie weiterhin aufregende Lektüre und verblüffende Entdeckungen im Leben, im Urlaub und auch mit dieser Ausgabe der Pastoralblätter!
Einen aussichtsreichen und blickweiten Sommer
wünschen Ihnen von Herzen
Ihr Redaktionsteam der Pastoralblätter
und ihr Jochen Lenz (Schriftleitung)
P.S. Noch ein praktischer Hinweis: Bei manchen Predigten finden Sie künftig vorangestellt die Bemerkung, welche Bibelübersetzung die/der Autor/in für ihren und seinen Beitrag gewählt hat. Fehlt dieser Hinweis, wurde die Übersetzung nach Martin Luther aus dem Jahr 2017 gewählt.