"Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht!" - Adventliche Gedankenzu "Warten und Geduld"

Kirchenjahr für Kirchenjahr stehen wir mit dem ersten Advent wieder ganz am Anfang. Die Gefühle des Anfangs sind vielfältig. Da ist die Erregtheit des „zum ersten Mal“. Mein erster Film ab 16, meine erste Freundin oder Freund, die ersten Schritte des Kindes usw. Da ist das: „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne“ von Hermann Hesse. Zum Anfang gehört aber auch Unsicherheit und Angst. Wie wird es werden? Das leere Blatt der Schulaufgabe, das gefüllt werden soll. Das leere Blatt bzw. der weiße Bildschirm vor mir, auf dem ein Beitrag über „Warten und Geduld“ für die PASTORALBLÄTTER entstehen soll. Wobei: Ganz am Anfang freue ich mich, wenn Gerhard Engelsberger mich um einen Beitrag anfragt. Ich finde die vorgeschlagenen Themen stets hochinteressant – weil es auch meine Themen sind – und freue mich darauf, einen Beitrag dazu zu lesen. Die Freude verwandelt sich in Anspannung, wenn mir klar wird, dass ich den Beitrag ja selber schreiben muss. Er muss erst einmal auf die Welt kommen. Anfang hat mit Leere zu tun. Leer heißt: Da ist nichts. Und: Ich weiß auch nicht, wie „Es“ werden wird, wohin „Es“ führen wird. Wir beide, du, der du diese Zeilen liest, und ich, der ich sie schreibe – wir stecken alle beide gerade mittendrin in so einem Anfang. Wird es gelingen, dass wir miteinander in Kontakt kommen? Und mit Kontakt meine ich einen guten Kontakt, einen solchen, der uns beide am Ende bereichert. Um es theologisch auszudrücken: Wird es gelingen, dass hier und jetzt etwas spürbar und erlebbar wird – von der Gegenwart des Heiligen Geistes? Der bekanntlich „bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist.“ (Johannes 3,8)

Es geht also um nicht weniger als um eine neue Geburt, und zwar eine solche, die „aus dem Geist“ hervorgeht. (Das Gesagte gilt im Übrigen gerade so für das Entstehen einer Predigt.)
Wir wissen nicht „woher er kommt und wohin er fährt.“ Schlimmer noch: Wir wissen nicht einmal, ob er überhaupt kommt. Aber eines wissen wir sehr wohl: Die Gegenwart Gottes im Heiligen Geist lässt sich nicht „machen“, nicht „herstellen“ und schon gar nicht „garantieren“. Ja, es ist so: Je mehr ich versuche, die Geburt dieses Textes aus dem „Geist“ zu erzwingen, desto sicherer kann ich sein, dass ich das „Blasen des Geistes“ blockiere. Es geht darum, mich bereit zu halten, mich hinzugeben, mich anzuvertrauen. Diese Art des „Nicht-Tätigseins“ verbinde ich im Übrigen mit dem dritten Teil unseres Glaubensbekenntnisses: „Ich glaube an den Heiligen Geist.“ Der Nährboden dieses Glaubens findet sich in geduldigem Warten, jenem Warten, in dem ich nichts tun kann und in dem ich alles andere als „untätig“ bin.

Am zweiten Adventssonntag ist unter anderem über einen Text zu predigen, der aus einer „recht strohernen Epistel“ (M. Luther) stammt: „Seid nun geduldig … bis zum Kommen des Herrn. Siehe der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und den Spätregen. Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe.“ (Jakobus 5,7–8) Dazu passt ein afrikanisches Sprichwort: „Gras (auch Getreide) wächst nicht schneller, wenn man daran zieht!“
Es geht um die Kunst des „Sich-Überlassens“. Um mich überlassen zu können, benötige ich ein tiefes mir Sicherheit gebendes Vertrauen. Dies führt zu einer Offenheit, die ängstliche Unsicherheit aushält. Verschließe ich mich gegenüber Neuem, Unbekanntem, bleibe ich auf den mir bekannten Denk- und Gedankengeleisen und muss Gefühle ängstlicher Unsicherheit nicht ertragen. Zwar werde ich dann kaum etwas Neues entdecken, ich werde aber auch nicht die Angst vor Neuem spüren müssen. Die sogenannten Genies oder auch Mystiker waren auch deshalb zu Lebzeiten nicht sonderlich beliebt, da sie mit ihren Gedanken ihre Mitmenschen sehr verunsichert haben.
Wir kommen aus dem Nichts und gehen in das Nichts. Poetischer ausgedrückt: Wir kommen aus der Finsternis und gehen in die Finsternis. Ist so gesehen die Finsternis die letztlich allmächtige „Kraft“? Und wenn es im Johannesevangelium heißt, „das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht ergriffen“ (1,5) , dann ist dieser Satz nicht als Vorwurf zu verstehen, so als wäre die Finsternis böse, eine Feindin des Lichtes. Das Licht scheint in die Finsternis. Es erhellt die Finsternis. Es gilt, ein Licht zu finden, das die Finsternis nicht vertreibt, sondern erhellt. Dazu bedarf es der Geduld!

„Habt nun Geduld, Brüder, bis zur Ankunft des Herrn!“ In Anspielung an viele Gleichnisse Jesu wählt Jakobus ein Bild aus dem bäuerlichen Leben, um deutlich zu machen, worum es geht: Der Prozess der „Reifung“ hat seinen eigenen Rhythmus, an den sich der erfahrene Bauer hält, wissend, dass es nur so eine gute Ernte geben wird. Dies ist ein fundamental anderes Denken als das im Kapitalismus vorherrschende: Es geht um Qualität – es geht um die köstliche, weil ausgereifte Frucht; es geht nicht darum, in möglichst kurzer Zeit einen möglichst hohen Ertrag zu erzielen.

Jetzt können wir uns neu den vielfältigen Gefühlen zuwenden, die mit „anfangen“ verknüpft sind. Die große Frage ist: In welcher Haltung fange ich an, wie ver-halte ich mich zu meiner Erregtheit einerseits, zu meiner ängstlichen Unsicherheit andererseits? Und damit untrennbar verknüpft ist die Frage: Was soll werden? Der Bauer, dem es um das Pflanzen, um das Wachsen-lassen und schließlich Ernten der „kostbaren Früchte“ geht – er stellt sich selbst von Anfang an zurück. Die „kostbaren Früchte“ stehen im Zentrum und nicht sein Ich. Er ist bezogen auf ein Drittes, von dem er weiß, dass er es nicht in der Hand hat, es nicht machen kann. Er ist bezogen auf das „Wachstum und Gedeihen, das nicht in seiner Hand steht“, wie Matthias Claudius so schön dichtet. Übertragen auf unsere Situation: Ich versuche hier, einen brauchbaren Beitrag zu schreiben. Was du, Leser, daraus machst, ob du überhaupt bis zu diesem Satz mitgelesen hast, oder dich schon längst ausgeklinkt hast, weil dich das alles hier nicht interessiert: es steht nicht in meiner Hand. So ist es auch beim Predigen: Ob und wen ich wie mit meinen Predigtgedanken erreiche – es steht nicht in meiner Hand! Wer sich auf diese Gedanken wirklich einlässt, der wird Ernüchterung erleben. Aber leider kommt es noch schlimmer!

Aus der Perspektive des Samenkorns beginnt der Weg zu den „kostbaren Früchten“ mit seiner eigenen Vernichtung. „Korn das in die Erde, in den Tod versinkt …“ (EG 98) Das in sich selbst verliebte Samenkorn kann sich diesem Geschehen von „Werden und Vergehen“ nicht überlassen. (Wobei „In-sich-selbst-verliebt-Sein“ nichts mit Selbstliebe zu tun hat.) Dieser Prozess, dieses Geschehen ist (für mich) Gott. Es ist nicht vorhersehbar, nicht erwartbar. Gott hat mit dem Aushalten von Unsicherheit zu tun, die Gefühle auf dem dunklen Weg zu Gott ekelhaft, oft schmerzhaft. Auf dem Weg zu Gott verdunkelt sich die scheinbare Klarheit, die wir durch unsere Spaltungen der Welt in richtig und falsch, gut und böse selbst hergestellt haben. Auf dem Weg zu Gott werden unsere Beurteilungen oder gar Verurteilungen zunichte. Auf dem Weg zu Gott wird unser spaltendes Ich zerstört – wie das Samenkorn, das in die Erde fällt, und nur dann Frucht bringt, wenn es sich dem Prozess der zerstörenden Auflösung überlässt. Wenn es sich hingibt. Um dies alles aushalten zu können, um sich Gott in der Tiefe hingeben zu können, bedarf es der Fähigkeit der Geduld.
Der Gott, den ich zu predigen habe, ist leise. Es ist ein Gott der Stille und der Ruhe. „Eine Stimme verschwebenden Schweigens“ hört Elia am Berg Horeb – nicht mehr. Und die „Geduld“, von der Jakobus spricht, ist auch so eine kleine, leise und gerade darin wirkmächtige Tugend. Dreimal kommt in dem kurzen Abschnitt die „Geduld“ vor, zweimal als Aufruf „Habt Geduld!“ einmal als Bild: die Geduld des Bauern, der abwarten kann, den Frühregen und den Spätregen um erst dann die köstlichen Früchte zu ernten. Geduld haben“ heißt im Griechischen „makro-thymein“: wörtlich: „ein großes Gemüt, eine große Seele haben“. Und in dem deutschen Wort Ge-Duld steckt der Stamm „tol“ – lateinisch „tolerare“. Toleranz und Geduld sind nicht nur sprachlich Geschwister, sondern auch emotional. Wer eine kleine, unentwickelte Seele hat, dem kocht schnell was hoch, dem platzt leicht der Kragen, der „rastet“ schnell aus – allesamt Bilder, dass etwas nicht mehr „gehalten“ werden kann. Der Tolerante hingegen hat Geduld mit dem anderen, weil er Geduld mit sich selbst hat. Der Tolerante weiß um seine Fehler und Schwächen und erwartet auch von seinem Nächsten keine Perfektion. Dabei ist Toleranz nicht mit Ignoranz zu verwechseln. Der Satz: „Das ist mir doch egal, was du machst …“ quillt nicht aus der Geduld mit dem Anderen, sondern aus dem Zorn über den Anderen. Er führt nicht zur Hinwendung, zum Aushalten des Anderen, sondern zur Abwendung von ihm. Geduld hat viel mit Aushalten zu tun und damit, die schweren oftmals unverdauten Gefühle des anderen bei sich aushalten und ertragen zu können. Gerade für Kinder und Jugendliche ist es so wichtig, Eltern, Lehrer, Erzieher zu finden, die ihre unverdauten Gefühle der ihnen Anvertrauten aushalten und „da“ bleiben. Dazu aber bedarf es einer starken Seele, eines starken Gefäßes, das nicht so schnell überläuft oder gar zu Bruch geht. Sätze wie: „Wenn du so und so bist, will ich mit dir nichts mehr zu tun haben …“ haben keinen pädagogischen Wert. Stattdessen führen sie zum Abbruch der Beziehung.

Geduld bedeutet also nicht: die Hände in den Schoß legen. Gleichgültiges „laissez faire“ hat gar nichts mit Geduld zu tun. Nicht zufällig heißt es ja auch: sich in Geduld üben. Geduld ist zu üben, sie fällt nicht vom Himmel. Auch hier hilft ein kurzer Blick auf die Etymologie: Hinter „dulden“ und „tolerare“ steckt der gemeinsame indogermanische Stamm: „tel-“, und das bedeutet so viel wie: aufheben, wägen, tragen, dulden. Geduld muss geübt und gestärkt werden, sonst kann sie wenig tragen. Was für unseren Körper gilt, das gilt auch für unsere Seele: Beide bedürfen eines regelmäßigen Trainings und einer liebevollen Pflege. Eine gute Seelenpflege geschieht, indem ich immer wieder versuche, mit mir selber in einen freundlich-aufmerksamen Kontakt zu kommen. Ein Gegenspieler ist mein innerer Kritiker, der jetzt, am Ende dieses Beitrags, versucht, sich bewertend einzuschalten.
„Kannst du das so veröffentlichen?“ „Reicht das?“ „Was wird Herr Engelsberger dazu sagen?“ „Meinst du wirklich, das interessiert die Leser der PASTORALBLÄTTER?“ Diese und ähnliche Bedenken und Gedanken versuchen von dem wirklichen Erleben des Endes, des Abschiednehmens abzulenken. Echter Abschied ist wesentlich schmerzhaft. „Scheiden tut weh!“ Wenn „es“ aber einigermaßen gut gegangen ist, wenn die Seele frei fließen darf, dann verwandelt sich der Schmerz und die Trauer in Dankbarkeit. Sie ist die Eingangstür Gottes in unsere Seele. „Gott wohnt, wo man ihn einlässt“, heißt es in einer chassidischen Geschichte. Und Meister Eckhart predigt über Philipper 4,4: „Hätte der Mensch nicht mehr mit Gott zu schaffen, als dass er dankbar ist, es wäre genug.“ (Werke Band I, Frankfurt 1993, S. 374,7–9)

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