Ruhe finden, Kraft schöpfen, Worte bewahren

Gott heiligt den siebten Tag. Gott ruht am siebten Tag. Und aus dieser Ruhe entsteht Segen für Tier und Pflanze, für Mensch und Erde.
Je älter wir werden, umso wichtiger wird uns das.
Die Großeltern und Eltern haben ja zum Teil Tage, Wochen oder gar Jahre erlebt, in denen nicht die Spur von Ruhe möglich war. Kriegsnächte und Tage der Verfolgung, Aufbauzeit und Familiendurcheinander, Krankheit und Trennung.
Es ist ein eigenartiger, aber ganz verständlicher Gedanke, dass alles zur Ruhe kommen muss, damit Kraft und Energie entstehen für neues Leben. Selbst Gott kommt zur Ruhe. Selbst Gott legt die Schöpferhände in den Schoß und lässt es für heute gut sein. Auch nach der Ernte ein Augenblick der Ruhe. Geborgen in diesem Segen, kann ich mich wirklich ausstrecken, kann Atem schöpfen. Nichts, was mich bedroht. Nichts, was etwas fordert. Nichts, was mir einen Gedanken, eine Sorge abverlangt.
Das ist unvorstellbar, nicht wahr? Ist es nicht so, dass wir das Sorgen überhaupt nicht lassen können? Selbst das Denken können wir nicht lassen. Dies und das beschäftigt uns. Wir tragen es durch die Tage, es begleitet uns durch schlaflose Nächte oder begegnet uns wieder in unseren Träumen. Als ob wir nie zur Ruhe kämen.

Kann einer, der nie zur Ruhe kommt, wirklich „Danke“ sagen? Muss er nicht das „Danke“ einschränken und sagen: Ja, für dies danke ich, aber das andere ist noch offen. - Für meine Gesundheit danke ich, aber meine Familie ist nicht so, wie sie sein sollte. - Ja, für die Familie danke ich, aber da ist so ein Stechen in der Magengegend, ein Druck auf dem Herzen. - Ja, für die Ernte danke ich, aber kann ich weiter mit meinen vielen Schulden leben? - Ja, für meine Liebe danke ich, aber geht sie nicht auch einmal zu Ende? - Ja, für diesen Tag danke ich, aber was ist morgen, Gott?
Sind nicht alle unsere Sätze, in denen wir „Danke“ sagen, nicht gleichzeitig doch: „Ja, aber?“-?Sätze?

Die Bibel sagt: Es ist eine Zeit, in der kein „aber“ folgt nach dem „Ja“.
Es gibt drei Tage, von denen die Bibel erzählt, an denen es ein solches Aber nicht mehr gegeben hat oder gibt. Das ist der siebte Schöpfungstag, an dem selbst Gott ruht und alles gut ist. Das ist der Ostermorgen, an dem der Tod ausgelacht und besiegt ist, und es ist der Tag, an dem ein neuer Himmel und eine neue Erde ein vollkommen neues Buch unseres Lebens öffnen, in dem von Not und Tränen und Trennung und Angst nicht mehr - nie mehr - die Rede sein wird.
Aus solcher Ruhe kommt unsere Lebenskraft.
Aus solcher Ruhe wird es uns schon heute leicht, wenn wir wenigstens ein wenig das Sorgen und Denken und Tun lassen können. Ich wollte, ich könnte es manchmal so, dass wenigstens meine Frau etwas davon spürt. Manchmal gelingt es.

Ich las in diesen Tagen ein großartiges Buch: Yannick Haenel, Das Schweigen des Jan Karski, Hamburg 2011. Jan Karski war Kurier des polnischen Widerstandes gegen die Judenvernichtung im eigenen Land.
Ich war entsetzt, berührt, infiziert. So hat noch keiner über Boten und Botschaft, über Zeugnis und Zeugen geschrieben. Auf all den gebrochenen Seiten des Buches, bei allem Elend, bei allen Fragen drängt sich mir aus diesem Roman die Wucht des Wortes hervor; ähnlich wie es mir beim Lesen von Ulla Hahn, Das verborgene Wort, Stuttgart/München 2002, ging.
Wir Pfarrerinnen und Pfarrer, wir Christen leben vom Wort, schöpfen aus der Botschaft und trauen den Zeugen. Deshalb erzähle ich Ihnen davon. Ich gebe nur ein kleines Stück das großartigen Romans von Yannick Haenel wieder:

„Obwohl es mir nicht gelungen war, meine Botschaft zu überbringen, trug ich sie noch in mir, mit der Treue des Zeugen, dessen Wort auf seine Zeit wartet. Die Menschen sterben, aber das Wort stirbt nie, sagte er; und meine Trauer war vor allem eine Art, für dieses Wort zu sorgen, es im Schweigen hallen zu lassen. Ich lauschte diesem Wort, das niemand hatte hören wollen; und mit der Zeit lauschte es in mir - es segnete mich. Ich sei von einem Wort gesegnet, weil ich dieses Wort trotz allem getragen hätte, das erklärte mir der Rabbiner in Jerusalem, ein paar Stunden bevor ich an der Gedenkstätte Yad Vashem zu einem ,Gerechten unter den Völkern‘ wurde. Aber damals, in den Jahren, die auf den Krieg folgten, ging ich durch tiefe Dunkelheit. Die Schatten verschlangen mich langsam; und da ich meine Schreckgespenster nicht vergessen wollte, stellte ich mich diesen Schatten. Die Schlaflosigkeit schützt die Erinnerung. Lange Zeit fürchtete ich beim Einschlafen, die Botschaft zu vergessen. Während des Krieges hatte ich mir beim Überwinden der Feindeslinien angewöhnt, kein Auge zuzumachen. Wegen der Gefahr, aber vor allem, weil ich fürchtete, beim Aufwachen vergessen zu haben. Also fuhr ich nach dem Krieg fort, wach zu bleiben, die Schlaflosigkeit wurde meine Gefährtin. Natürlich gibt es Hunderte Erinnerungen, an Höhepunkten fehlt es nicht, aber das, was in meinem Leben am intensivsten war, was mich immer weiter sprechen lässt, sind die schlaflosen Nächte. Ein Tunnel, mit diesem fahlen Licht in den Augen, und das Morgengrauen, das wie Unkraut hervorschießt. Schlaflose Nächte gleichen verregneten Ländern. Wenn es regnet, hört man die Glocken. Das ist mir in meiner Kindheit in Lodz aufgefallen. Wenn man sich gut konzentriert und die Ohren spitzt, ist in jedem Moment Nacht, und die Nacht ist ohne Schlaf; und es regnet. Ob man in Polen ist oder in New York, in einem Kerker der Gestapo oder in einem Hotelzimmer in Brooklyn, ob man glücklich oder unglücklich ist, von allen verlassen oder von Liebe umgeben, man hört die Glocken. Ist Gott in Auschwitz gestorben? (a. a. O., S. 156f)

In dieser Woche sagte mir jemand, er freue sich, dass bei allem, was die Woche über war, der Gottesdienst am Sonntag dann doch immer wieder etwas Besonderes sei. So dahingehetzt die Vorbereitung eines Gottesdienstes sein mag, der liebe Gott schenkt uns eine ungeheure Kraft, eine so sensible Zärtlichkeit, eine so geduldige Ruhe, dass wir uns selbst immer wieder nur wundern können - und danken.
Es ist ein Segen, wenn das schon im Leben gelingt. Gott hat uns dafür den Sonntag geschenkt, den Tag, an dem wir uns an die Auferstehung Jesu und an die Güte der Schöpfung erinnern und unser Sorgen lassen können. Es ist der größte Dank, zu dem ein Mensch fähig ist im Angesicht seines Schöpfers, wenn er das Sorgen lässt und es gut sein lässt.

Für mich sind das in meiner Ehe, in unserer Familie, in meinem Beruf ganz entscheidende Worte. „Es ist gut so.“
Wir sagen so oft „Ja, aber“.
Ich bete: Es ist gut so.
Mehr kann ich nicht.
Am Anfang hatte ich andere Vorstellungen.
Ich widerspreche, schreibe Briefe, suche nach neuen Lösungen. Kläre. Werde aufgeklärt. Andere geben nach. Ich gebe nach.
Irgendwann - am Ende - sage ich: „Es ist gut so. Ja.“

Die Bibel geht über unser oft vorläufiges „Ja“ hinaus. Sie sagt: Es ist eine Zeit, in der nach dem „Ja“ kein „Aber“ mehr folgt. Nicht heute, nicht am Mittwoch, nicht zu Martini - aber doch an „Ultimo“. Eines göttlichen Tages gibt es kein „Aber“ mehr. Das feiern wir - im Osterglauben - schon jeden Sonntag.

Aus solcher Ruhe wird es uns schon heute leichter, wenn wir wenigstens ein wenig das Sorgen und Denken und Tun lassen können. Ich wollte, ich könnte das Sorgen und Denken und Tun häufiger lassen, sodass meine Frau und die Kinder etwas davon merken. Manchmal gelingt es.

Am 28. September haben wir die Woche mit dem Wochenspruch aus dem 1. Petrusbrief begonnen: Alle eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorgt für euch.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie dies mehr und mehr lernen, es gut sein lassen können, dass Sie weglegen, Gott sorgen lassen können, zur Ruhe kommen und aus dieser Ruhe Kraft schöpfen für den neuen Tag.

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