Acht Stunden Akkord und Work-Life-Balance

Arbeit und Leben müssen in einem Ausgleich sein, damit Arbeit nicht zum alleinigen Lebensinhalt wird. Und es bleibt ein krasser Gegensatz, dass die einen mit Leidenschaft arbeiten, während andere unangenehme Tätigkeiten verrichten und dafür auch noch gering geachtet werden.

Acht Stunden Akkord und Work-Life-Balance
"Nach der Schicht war ich fertig, ausgelaugt und hatte kaum noch Energie für den restlichen Tag."© Andrey_Popov/shutterstock.com

Am Weltfrauentag saß ich in Göttingen auf einem Podium mit vier anderen Frauen aus ganz verschiedenen Berufszweigen, eine Personalmanagerin, eine Sportlerin, eine Köchin und eine Forscherin. Mich hat fasziniert, was die anderen tun, leisten. Denn es war bei allen zu spüren: Sie tun, was sie tun, mit Leidenschaft. Der Beruf ist auch Passion, er ist Profession. Wenn die eigene Erwerbsarbeit mit so viel Engagement verbunden ist, dann ist das ein Geschenk.

Viele Menschen müssen schlicht arbeiten, weil sie das nötige Geld zum Leben verdienen müssen. In einem Industriepraktikum habe ich einmal vier Wochen mit anderen Frauen im Akkord frisch hergestellte Schreibtische für die Verpackung geputzt. Die Schicht ging von sechs bis vierzehn Uhr. Danach war ich fertig, ausgelaugt und hatte kaum noch Energie für den restlichen Tag. Viele der Frauen dort machten das schon seit Jahren und haben sicher noch etliche Jahre durchhalten müssen.

Und es gibt diejenigen, die unter immensem Druck stehen. Selbstständige beispielsweise, die nicht wissen, ob sie die Firma über die Runden bringen können. Sie arbeiten jeden Tag, auch am Wochenende, Urlaub ist nicht möglich, Zeit für die Familie wird mühsam zwischen dringende Termine gequetscht. Oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Firma, die wissen, es werden enorme Anforderungen an sie gestellt. Wenn sie sie nicht erfüllen, fliegen sie raus.

Arbeit ist nicht gleich Arbeit. Deshalb finde ich den Begriff „Work-Life-Balance“ auch schwierig. Klar ist, was gemeint ist: Arbeit und Leben müssen in einem Ausgleich sein. Wenn die Arbeit das Leben komplett bestimmt, kommt es leicht zu „Burnout“, noch so ein englischer Begriff. Es gibt ihn offenbar nur im Deutschen, das ist schon wieder lustig. Im Grunde geht es um eine Depression, weil Menschen keinen Rhythmus mehr finden zwischen Schaffen und Ruhen.

Viel zu viele brüsten sich damit, wie enorm viel sie arbeiten, dass sie schon im Büro sind oder noch, selbstverständlich auch zuhause arbeiten und auch, wenn sie eigentlich krankgeschrieben sind. Dann wird Arbeit zum alleinigen Lebensinhalt und es kommt zu der berühmten Grabinschrift: „Müh und Arbeit war sein Leben, Ruhe hat ihm Gott gegeben.“ Das kann nicht der Sinn des Lebens sein.

Aber ohne Arbeit sein, führt auch leicht in eine Krise. Gerade in der Coronakrise wird das deutlich. Wie gestaltest du dann deinen Tag? Was hat Bedeutung? Auch viele, die arbeitslos werden oder auch in den Ruhestand gehen, müssen ganz neu lernen, ihre Zeit zu strukturieren, wenn die Arbeit das nicht mehr tut. Dazu kommt die Angst vor wirtschaftlichem Abstieg.

Ich finde gut, dass die jüngere Generation ganz offensichtlich versucht, die richtige Balance zu finden. Es geht ihnen, zeigen Umfragen, weniger um möglichst viel Verdienst als um möglichst gute Lebenszeit. Väter nehmen Elternzeit, weil sie ihre Kinder bewusst wahrnehmen wollen. Paare arbeiten beide Teilzeit, weil ihnen bewusst ist, wie kostbar gemeinsame Zeit ist.

Ich denke, wir sind noch immer auf der Suche nach dem richtigen Stellenwert der Arbeit. Es bleibt zutiefst ungerecht, dass Menschen in unserem Land Vollzeit berufstätig sind und doch nicht genug zum Leben haben. Es bleibt ein krasser Gegensatz, dass die einen mit Leidenschaft arbeiten, während andere unangenehme Tätigkeiten verrichten und dafür auch noch gering geachtet werden. Martin Luther hat einmal gesagt, jeder Mensch habe einen Beruf, eine Berufung. Nie hätte er von einem „Job“ gesprochen. Und alle diese Berufungen würden gebraucht. Der Fürst, der das Land regiert, sei genauso wichtig wie die Magd, die den Hof kehrt. Wir brauchen die junge Professorin, die forscht, ebenso wie den Mann, der unsere Mülltonne leert. Nicht nur Leistungsträger sind „systemrelevant“, das lernen wir gerade. Der Geschäftsmann ist ebenso wichtig wie die Hebamme. Wir leben gemeinsam in einem Oikos, einem Haus, und da geht es um Ökonomie, das gemeinsame Wirtschaften. In dieses Wirtschaften bringen alle etwas ein. Mit so einem Blick gibt es wesentlich mehr Wertschätzung für jede Arbeit. Und wir ordnen unser eigenes Tun besser ein: Wir überschätzen es nicht, unterschätzen es aber auch nicht. So kommen wir vielleicht am besten zur richtigen Balance.

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