Mit seiner Schaufel in der Hand steht Kai am Rand des Sandkastens. Eine ganze Weile schon beobachtet er die anderen Kinder. "Frag' doch, ob du mitspielen darfst", ruft ihm seine Mutter von der Spielplatzbank aus zu. Kai macht einen kleinen Schritt vor, hält jedoch sofort wieder inne. Er traut sich einfach nicht.
Wie der vierjährige Kai ist etwa ein Drittel aller Kindergartenkinder schüchtern. Sie tun sich schwer, mit anderen Kontakt aufzunehmen - obwohl sie gern würden. Nicht mangelndes Interesse hält sie zurück, sondern eine hohe innere Hemmschwelle. Psychologen nennen dieses Phänomen einen "Annährungs-Vermeidungs-Konflikt". "Die Annährungstendenz aufgrund normaler sozialer Neugier steht dabei in Konflikt mit einer ungewöhnlich stark ausgeprägten Hemmung, sich anderen gegenüber zu öffnen", erklärt Jens Asendorpf, Psychologieprofessor an der Berliner Humboldt-Universität.
"Schüchternheit wird durch viele verschiedene Einflussfaktoren bestimmt", sagt der Wissenschaftler. Die Gene können eine entscheidende Rolle spielen. Bereits bei Zweijährigen stellten amerikanische Forscher unterschiedlich stark ausgeprägte Angstreaktionen auf fremde Reize fest. Als Ursache vermuteten sie bei den scheuen Kindern eine besonders hohe Sensibilität des Nervensystems. Schüchternheit kann man aber auch durch negative Erfahrungen "lernen", zum Beispiel durch Ablehnung in der Kindergartengruppe. Asendorpf spricht hier von der "Bewertungsangst": Die Hemmungen resultieren dann aus der Sorge, von den anderen Kindern ignoriert oder nicht gemocht zu werden. Wenn ein Kind mit Gleichaltrigen starke Kontaktschwierigkeiten hat, sich gegenüber Erwachsenen jedoch offen verhält, kann das ein Zeichen für diese Form der Schüchternheit sein. In einem solchen Fall sollten Eltern mit der Erzieherin sprechen. Schildern Sie Ihre Beobachtungen und versuchen Sie herauszufinden, ob Ihr Kind von der Gruppe ausgegrenzt wird, welche Gründe das haben könnte und welche Gegenmaßnahmen ergriffen werden könnten - im Kindergarten und in der Familie.
Wie können Eltern helfen?
Jens Asendorpf rät betroffenen Eltern zunächst herauszufinden, ob ihr Kind wirklich schüchtern oder nur ungesellig ist. Manche Kinder spielen nämlich gern allein, ohne Probleme damit zu haben. Beobachten Sie Ihr Kind, wenn es mit Fremden zusammen ist. Typisch für Schüchternheit ist das ambivalente, konflikthafte Verhalten: Einerseits möchte Ihr Kind gern Kontakt aufnehmen, andererseits traut es sich nicht.
Wenn Ihr Kind wirklich schüchtern ist, bleiben Sie gelassen! Ein gewisses Maß an Gehemmtheit gegenüber Unbekanntem ist meist kein Grund zur Beunruhigung. Es kann sogar eine ganz gesunde Schutzfunktion sein: "Weil diese Kinder meist generell vorsichtig sind, schützt sie ihre Zurückhaltung beispielsweise vor Unfällen", sagt Jens Asendorpf.
Vielleicht haben Sie aber das Gefühl, dass Ihr Kind unter seiner Schüchternheit leidet, weil sie ihm im Wege steht beim Knüpfen von Freundschaften und beim Erkunden neuer Umgebungen. Dann helfen Sie ihm am besten, indem Sie sein Selbstbewusstsein stärken. Dazu braucht es Erfolgserlebnisse, schaffen Sie die Gelegenheiten. Möglichkeiten bieten sich viele, denn jedes Kind hat seine starken Seiten. Indem Sie Ihrem Kind kleine Aufträge übertragen, zeigen Sie ihm, dass Sie ihm etwas zutrauen. Sie könnten ihm zum Beispiel kleinere Aufgaben in der Hausarbeit anvertrauen (je nach Alter: Tisch decken, Obst schneiden, Brötchen kaufen gehen).
Loben Sie es, wenn es seine "Arbeit" erledigt hat. So führen Sie ihm seine Erfolge vor Augen und zeigen ihm, dass Sie stolz auf Ihr Kind sind. Vielleicht lassen Sie auch beim abendlichen Bettkantengespräch gemeinsam den Tag Revue passieren und heben die positiven Eigenschaften, Leistungen und Fortschritte Ihres Kindes hervor.
Keinen Druck ausüben
Was man nicht tun sollte: Das Kind zwingen, mutig zu sein. Anordnungen wie "Sei doch nicht so schüchtern, gib der Tante das Händchen!" oder "Wehr' dich doch!" verstärken die Unsicherheit nur noch. Jens Asendorpf: "Die Hemmungen beruhen auf tief sitzenden Ängsten und können durch guten Willen allein nicht überwunden werden."
Anerkennung von Gleichaltrigen ist ebenfalls wichtig für das Selbstvertrauen Ihres Kindes. Versuchen Sie daher, ihm beim Freunde finden zu helfen. Sie sollten jedoch behutsam und indirekt vorgehen, also nichts vorschreiben, sondern lediglich die Voraussetzungen schaffen, in denen es Ihrem Kind etwas leichter fällt, Kontakte zu knüpfen. Sie könnten zum Beispiel ein Kind aus der Nachbarschaft zum Spielen einladen. Nach einer kurzen Aufwärmphase halten Sie sich dann im Hintergrund und warten ab, was passiert.
Vielleicht üben Sie auch mit ihm, wie man andere anspricht. Solche Rollenspiele machen den meisten Kindern Spaß, denn sie können ohne negative Folgen alle möglichen Verhaltensweisen ausprobieren.
Ein letzter Tipp: Unterstützen Sie Eigeninitiativen Ihres Kindes so gut es geht. Malt es zum Beispiel sehr gern? Dann stellen Sie ihm ausreichend Papier und Stifte zur Verfügung - vielleicht überraschen Sie es auch mal mit einem tollen Glitzerstift, den Sie ihm vom Einkauf mitbringen. Sicherlich wird Ihr Kind sehr stolz sein, wenn Sie sein Bild in Ihrer Wohnung aufhängen. Und wenn die Tante bei ihrem nächsten Besuch das Bild lobt, ergibt sich auch noch ein Thema fürs oben erwähnte Bettkantengespräch...