Eine wesentliche Errungenschaft der
Liturgiereform in Folge des Zweiten
Vatikanischen Konzils ist die Feier
des Gottesdienstes in der jeweiligen Muttersprache.
Das Wort Gottes in der eigenen, vertrauten
Sprache kennenzulernen, stellt daher
heute für viele Christinnen und Christen
eine Selbstverständlichkeit dar. Demnach
sollte es bei seiner Verkündigung für Lesende
wie Hörende verständlich sein. Aber wird
dieser Anspruch immer erfüllt? Die Sprache
verfügt über Eigenheiten in ihrer Struktur,
die von Lektoren und Lektorinnen über das
Inhaltliche hinaus vorbereitet werden wollen.
Wenn man einen Text wirklich verstehen
und den Inhalt angemessen mitteilen
will, sollte auch die Form beachtet werden,
in der ein Text geschrieben ist.
Eines der phonetischen Mittel, das für
jede Einzelsprache kennzeichnend und typisch
ist, ist die Betonung von Wörtern und
Sätzen. In der Kommunikation im Alltag bestimmt
sie, wie etwas aufgefasst wird: Geht
die Stimme nach oben, richtet man sich fragend
an ein Gegenüber. Wird die Stimme
gesenkt, zeigt man einen verbindlichen Abschluss
an. Bleibt sie in der Schwebe, wird
der Gedanke fortgesetzt. Was so einfach
klingt, erfährt stetige Anpassung an die jeweilige
Situation. Das Vorlesen biblischer
Texte stellt fremdsprachige Personen ebenso
wie muttersprachlich Deutschsprechende
vor Herausforderungen. Es kann sogar
Fallen bereithalten und Irrtümer auslösen.
Sprachliche Kompetenz
durch Betonung
Mit Betonung meinen wir die Sprechmelodie,
Modulation oder Intonation. Unter Melodie
verstehen wir das Auf und Ab beim
Sprechen – und tatsächlich verändert sich
die Tonhöhe in einem Satz oder Gedanken
fortlaufend. Charakteristisch für das Deutsche
ist eine klare Abfolge an akzentuierten
(betonten) und nicht-akzentuierten Wörtern
oder Silben. Dadurch entstehen Muster, die
der Sprache ihren eigenen, typischen Klang,
ihren Akzent, verleihen. Wir alle kennen die
Erfahrung, dass sich anhand der Sprechmelodie
ein fremdsprachiger Akzent – oder
auch Dialekt – oftmals noch ausmachen
lässt, wenn ansonsten die Aussprache gut
ist. In der Bibel gibt es dazu eine passende
Stelle, wo Petrus auf seine Art zu sprechen
hingewiesen wird: „Deine Mundart verrät
dich“ (Mt 26,73), was ihn dazu veranlasst,
den Schauplatz zu verlassen.
Doch welche Wörter sind betont? Im
Deutschen steigt in einfachen Sätzen die
Tonhöhe an bis zu dem Wort, das herausgehoben
ist, und fällt am Ende des Satzes oder Gedankens wieder ab („Er rief
sie“, „Gott ist Liebe“). Eine solche Tonhöhenveränderung
besteht schon in einem
einzelnen Wort („Amen“, „Meister“) oder
einer Silbe („Seht“). Gerne wird dies auch
als ein Unterschied im Stimmdruck oder
der Lautstärke wahrgenommen: Eine Silbe
ist „schwerer“, andere sind „leichter“.
In Sätzen sind nicht alle Wörter gleich
wichtig. Wie ist das zu verstehen? Hauptwörter,
Verben oder Adjektive transportieren
Inhalte und Bilder, die eine Vorstellung
auslösen können. Kleine Wörter wie
Artikel, Präpositionen, Konjunktionen etc.
haben eine grammatische Funktion, indem
sie den Satz strukturieren. Wird der folgende
Satz vorgelesen, wird man hören, dass
nicht jedes Wort gleich starkes Gewicht bekommt:
„Kehrt zur Ordnung zurück“ (2 Kor
13,11). Es ergeben sich nicht vier gleich
stark betonte Wörter, sondern „Ordnung“
oder „zurück“ werden stärker gewichtet
sein als die anderen beiden. Manche Leser
und Leserinnen empfinden dies als musikalischen
Akzent, weil die Tonhöhe variiert.
Das ist nicht in allen Sprachen so.
Beispielsweise verändern in asiatischen
Sprachen Unterschiede in der Tonhöhe
einzelner Silben die Bedeutung, so dass in
Äußerungen ein völlig anderes Muster als
in germanischen Sprachen entsteht. Wirkliche
sprachliche Kompetenz geht immer
einher mit der Beherrschung solcher Akzentmuster.
Die Sprechmelodie muss in
einzelnen Sprachen eigens erlernt werden.
Im Deutschen wird ein akzentuiertes Wort
nicht nur höher oder tiefer, sondern meist
auch etwas lauter, langsamer und sorgfältiger
gesprochen. Spricht man die Beispielsätze
„Das ist ein Fach“ und „Das ist einfach“,
wird dieser Kontrast sehr klar, denn
die Bedeutung ändert sich allein durch die
Verschiebung der betonten Silbe.
Der Wortakzent oder die richtige Wortbetonung
sind keineswegs nebensächlich.
Im Alltag können Kuriositäten und Missverständnisse
entstehen, wenn etwa in Wörtern
wie „unterstellen“ oder „überziehen“
je nach Kontext fälschlich der erste oder
zweite Teil des Wortes betont wird. Auch in
Namen wie „Roman“ oder „August“ ist die
richtige Betonung wichtig. Wer den eigenen
Namen falsch ausgesprochen oder falsch betont
hört, reagiert meist höchst empfindlich.
Für fremdsprachige Personen kann die
Wortbetonung schwierig sein, besonders
wenn es sich um zusammengesetzte Wörter
handelt. Als Beispiele mögen folgende
Wörter dienen, die sich auch in biblischen
Texten finden: freiwillig, herabkommen,
währenddessen, einstimmig, wohlgefällig.
Entsprechend schwer fällt deutschsprachigen
Personen manchmal die richtige Betonung
biblischer Eigennamen, die den Akzent
auf einer anderen Silbe tragen, als es
dem eigenen Empfinden entspricht, etwa:
Timótheus, Natánael, Antióchia, Gábbata.
Das Druckbild des Lektionars gibt durch
die Wiedergabe des Akzents auf dem entsprechenden
Vokal die richtige Betonung
an. Man sollte sich nicht zu schade sein, solche
Wörter zu üben, um das eigene sprachliche
Repertoire zu professionalisieren.
Hörerfahrung und Sprechabsicht
Entscheidend für die Aussageabsicht ist die
Sprechmelodie zum Ende eines Satzes oder
Gedankens, und zwar vom letzten Akzentwort
zum Ende der Äußerung. Bei Fragen,
jedoch nur bei Ja-Nein-Fragen, geht die
Stimme normalerweise nach oben. Dazu ein
paar Beispiele: „Sind das alle jungen Männer?“
(1 Sam 16,11); „Stellst du in dieser Zeit
das Reich für Israel wieder her?“ (Apg 1,6);
„Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden?“
(Apg 2,7); „Habt ihr keinen Fisch zu essen?“
(Joh 21,5). Fallende Melodie kommt in abgeschlossenen
Sätzen, in sachlichen Aussagen
wie auch zumeist in Fragen mit Fragewort
vor: „Wer hat die Gedanken des Herrn erkannt?“
(Röm 11,34); „Was sollen wir tun,
Brüder?“ (Apg 2,37); „Was steht ihr da und
schaut zum Himmel empor?“ (Apg 1,11); „Für
wen haltet ihr mich?“ (Mt 16,15).
Viele muttersprachlich Deutschsprechende
gehen davon aus, dass Fragen grundsätzlich
mit steigender Melodie zu sprechen sind. Sie müssen sich eine Tonhöhenveränderung
zuerst einmal bewusst machen. Intoniert
man in der Alltagskommunikation anders,
als es der beschriebenen Melodieform
entspricht, liegt eine andere Aussageabsicht
zugrunde. Wie Sätze intoniert werden, kann
regional ganz unterschiedlich sein und wird
je nach Beziehung der Sprechenden unterschiedlich
realisiert.
In Bezug auf die Texte der Heiligen
Schrift spielt die Hörerfahrung eine große
Rolle. Eine Sprechmelodie zu realisieren,
die dem gewohnten Hörbild entgegensteht,
fällt vielen deutschsprachigen Personen
überaus schwer. Texte, die man auf eine
bestimmte Weise kennt, scheinen nur dann
richtig zu sein, wenn sie in der vertrauten
Weise gelesen werden. Hier andere, stimmigere
Lesemuster zu erproben, schärft
jedoch das Bewusstsein für den Klang der
Sprache – der eigenen wie einer fremden.
Sorgfalt und Erlaubnis für
lebendiges Lesen
Der Inhalt von Texten der Heiligen Schrift
ist für Glaube und Leben bedeutsam. Gewissermaßen
überlagert er die Form, so als
würde man in den Worten schon alles finden
und erfassen. Durch das Vorlesen lässt
sich jedoch etwas umsetzen, was über die
Worte hinausgeht und was es persönlicher
und unmittelbarer macht. Durch die Verkündigung
ergeht es uns wie dem Mann,
der von Philippus gefragt wird: „Verstehst
du auch, was du liest?“ (Apg 8,30) und der
sich nach dessen Erklärungen taufen lässt.
Verkündigen als ehrfürchtiges Aneinanderreihen
von Wörtern käme einem Gehorsam
gleich, dem die Erlaubnis fehlt, lebendig,
authentisch und farbig vorzulesen.
So einfach, wie es zu Beginn in der
Genesis heißt: „Die ganze Erde hatte eine
Sprache und ein und dieselben Worte“ (Gen
11,1), ist die Welt nicht, denn es gibt tausende
Sprachen. Aber vielleicht erleben
wir durch eine lebendige Verkündigung
eine ähnliche Erfahrung wie die Apostel
beim Pfingstereignis: „Jeder hörte sie in
seiner Sprache reden“ (Apg 2,6). Das Wort
Gottes wird den Hörenden überbracht,
wenn wir es verkündigen. Dies ist umso
wertschätzender, wenn es Sorgfalt und
Pflege der Sprache erkennen lässt.
„Versprecher …
… sind auch von Profisprecherinnen
und -sprechern gefürchtet, aber sie passieren
nun einmal. [Der Sprechercoach]
Michael Roissié weist darauf hin, dass
Hörerinnen und Hörer es gar nicht so
schlimm finden, wenn nicht alles technisch
zu 100 % perfekt läuft. (…)
Das Risiko lässt sich wiederum vermindern,
indem Sie a) gedanklich bei
der Sache sind, b) den Text gut vorbereiten
und c) Ihre Stimme vor Gebrauch
aufwärmen. Wenn es dennoch passiert,
und mit großer Sicherheit wird es Ihnen
irgendwann einmal passieren: Korrigieren
Sie sich, und machen Sie kommentarlos
weiter. Damit helfen Sie Ihren Zuhörerinnen
und Zuhörern, nach einer
kurzen Irritation wieder in den Fluss
des Hörens zurückzufinden. Gehen Sie
auch innerlich weiter, halten Sie sich in
Gedanken nicht bei Ihrem Versprecher
oder Ihrem Gefühl dabei auf, während
Sie schon weiterlesen – so verringern Sie
das Risiko eines weiteren Versprechers.“
Aus: Holger Pyka: Versteht man, was du
liest? Praxisbuch für den Gottesdienst,
Bielefeld 52022, S. 140 f.