„Das Wort ist ganz nah bei dir“ (Dtn 30,14)

Die Bibel ist das Buch des Gottesvolkes und die „Seele der ganzen Pastoral“. Letzteres fördern können Methoden wie der Bibliolog, das Bibliodrama oder die Lectio Divina.

Die Bibel und unsere (römisch-katholische) Kirche – das ist noch eine junge Liebe. Zwar hat „die Kirche [...] die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst“ (Dei Verbum [DV] 21). Doch galt dies vor allem für Theologie und Liturgie, für die Klöster mit ihren Skriptorien und Teile des Klerus. Nahmen „gewöhnliche“ Christinnen und Christen die Bibel hingegen selber in die Hand, schrillten die Alarmglocken. Mit den Katharern wurden im 13. Jahrhundert auch volkssprachliche Bibeln verbrannt, und kirchlich nicht autorisierte Bibelübersetzungen standen ab dem 16. Jahrhundert regelmäßig auf dem sprichwörtlichen „Index“. Persönliche Bibellektüre volkssprachlicher Übersetzungen war aus der Sicht des Lehramtes ein vom Bischof zu verleihendes, individuelles Privileg: „Da durch die Erfahrung offensichtlich ist, dass, wenn die heilige Bibel in der Volkssprache allenthalben ohne Unterschied zugelassen wird, daraus wegen des Leichtsinns der Menschen mehr Schaden als Nutzen erwächst, soll es in diesem Fall im Ermessen des Bischofs oder des Inquisitors stehen, dass sie auf Zuraten des Pfarrers oder des Beichtvaters denen die Lektüre der von katholischen Autoren übersetzten Bibel in der Volkssprache erlauben können, bei denen sie gemerkt haben, dass sie aus dieser Lektüre keinen Schaden, sondern Wachstum des Glaubens und der Frömmigkeit ziehen können“ („Tridentinische Regeln“ für das Verbot von Büchern, Nr. 4, bestätigt in der Bulle Dominici gregis custodiae vom 24. März 1564, DH 1854). Wer keine schriftliche Erlaubnis zur Bibellektüre besaß, der/dem sollte in der Beichte die Lossprechung verweigert werden, bis sie/er die Bibel abgegeben hatte. Selbstverständliche Bibellektüre des ganzen Gottesvolkes war jahrhundertelang ein Alleinstellungsmerkmal reformierter Kirchen.

Vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung der Bibelbewegung, die die Bibel ab dem 19. Jahrhundert zum Lebens- und Glaubensbuch auch katholischer Christinnen und Christen machte, kaum zu überschaÅNtzen. Sie wurde in ihrer frühen Phase besonders von dem Pastoraltheologen Johann Michael Sailer SJ (1751–1832) geprägt. Für die meisten katholischen Christinnen und Christen standen zwar weiterhin andere Spiritualitäts- und Andachtsformen wie Marien- und Heiligenverehrung im Vordergrund. Die Bibelbewegung führte jedoch, etwa zeitgleich und auch in inhaltlicher Verbindung zur Liturgischen Bewegung, im 20. Jahrhundert zur Gründung der Bibelwerke im deutschsprachigen Raum (Deutschland 1933, Schweiz 1935, Österreich 1966). Diese „Flitterwochen“ der römisch-katholischen Kirche mit der Bibel mündeten schließlich in der wegweisenden Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, die – als wäre es nie anders gewesen – festhielt: „Der Zugang zur Heiligen Schrift muss für die an Christus Glaubenden weit offenstehen“ (DV 22).

Das Buch des Volkes Gottes

Papst Franziskus setzte insbesondere mit der Einführung des Sonntags des Wortes Gottes im Jahr 2019 diese gewissermaßen basiskirchliche Perspektive fort. Er betont im Motu proprio Aperuit illis (AI), dass der Wunsch nach diesem Sonntag aus dem Volk Gottes gekommen sei (AI 2). Im deutschsprachigen Raum kann dazu u. a. auf die oft ökumenisch verwurzelten, langjährigen Projekte zum Bibelsonntag und dem Tag des Judentums in der Schweiz, in Deutschland, Österreich und vielen weiteren Ländern hingewiesen werden. Zudem beschreibt Franziskus die Bibellektüre in guter Tradition der lateinamerikanischen Befreiungstheologie als Lektüre des ganzen Volkes: „Die Bibel kann nicht nur einigen wenigen gehören, geschweige denn eine Sammlung von Büchern für wenige Auserwählte sein. Sie gehört vor allem dem Volk, das versammelt ist, um sie zu hören und sich in diesem Wort selbst zu erkennen. Oft gibt es Tendenzen, welche die Heilige Schrift zu monopolisieren versuchen, indem man sie bestimmten Kreisen oder ausgewählten Gruppen vorbehält. Das darf nicht so sein. Die Bibel ist das Buch des Gottesvolkes, das im Hören auf die Schrift aus der Zerstreuung und Spaltung zur Einheit gelangt. Das Wort Gottes vereint die Gläubigen und macht sie zu einem Volk“ (AI 4).

Das Wort Gottes selbst, so Franziskus, macht Christinnen und Christen zum geeinten Gottesvolk. Dass er dabei „Zerstreuung“ noch vor der „Spaltung“ erwähnt, lässt an das Judentum denken. Bereits zuvor hatte Franziskus die christlich-jüdische Verständigung noch vor der ökumenischen Dimension betont: „Dieser Sonntag des Wortes Gottes fällt so ganz passend in den Zeitabschnitt des Jahres, in dem wir unsere Beziehungen zu den Juden zu festigen und für die Einheit der Christen zu beten eingeladen sind“ (AI 3). Dazu passt ebenfalls, dass Franziskus diesen Teil seines Schreibens als Auslegung von Nehemia 8 entwickelt: Die eindrucksvoll erzählte Verlesung der Tora am Platz vor dem Wassertor in Jerusalem für das ganze Volk („Männer und Frauen und überhaupt alle, die schon mit Verstand zuhören konnten“, Neh 8,2) entstammt dem Juden und Christen gemeinsamen Teil der Bibel.

Nicht nur der Sonntag des Wortes Gottes ist eine ideale Gelegenheit, der Bibel auch über die Liturgie hinaus den ihr zukommenden zentralen Platz einzuräumen. Das ist keine Formalität und auch kein Selbstzweck, sondern ein Königsweg, auf dem Menschen entdecken können, wie das Wort Gottes ihr Leben bereichern kann. Die Bischofssynode zum Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche hatte 2008 von der Bibel als „Seele der ganzen Pastoral“ gesprochen (Verbum domini 3). Papst Franziskus betont die verbindende, solidarisierende Wirkung des Wortes Gottes. Bibellesen wird damit zur Erfahrung und zum Ausdruck von Koinonia: „Das beständige regelmäßige Lesen der Heiligen Schrift und die Feier der Eucharistie ermöglichen es den Menschen zu erkennen, dass sie zueinander gehören. [...] Das Wort Gottes ist in der Lage, unsere Augen zu öffnen, damit wir aus dem Individualismus herauskommen, der zu Erstickung und Sterilität führt. Dazu tut es uns den Weg des Miteinanders und der Solidarität auf“ (AI 8 und 13). Dabei spielt Franziskus auch auf die Emmaus-Erzählung an (Lk 24,13–35), die er in seinem Schreiben zur Einführung des Sonntags des Wortes Gottes ebenfalls auslegt: Im Lesen der Heiligen Schrift werden wir zugleich vertraut mit dem Auferweckten, und der Heilige Geist wirkt in allen, die das Wort Gottes hören (vgl. AI 10).

Von der verbindenden, Augen und Herzen öffnenden Wirkung des Wortes Gottes können viele Einzelne, Lektoren- und Bibelgruppen in jeder Pfarrei, in jedem Pastoralraum aus eigener Erfahrung berichten. Und doch ist die explizite Beschäftigung mit der Bibel noch zu sehr eine Sache besonders interessierter Einzelner und Gruppen geblieben. Bibellesen als selbstverständlicher Ausdruck und Vertiefung christlicher Identität ist, trotz des schon lange vollzogenen kirchlichen Kurswechsels, noch nicht in die „katholische DNA“ übergegangen. Der Sonntag des Wortes Gottes will das ändern.

Den Schatz der Bibel heben

Aus der großen Fülle fruchtbarer Methoden für das Bibellesen möchte ich nur drei aktuelle Methoden herausgreifen, die auf ganz unterschiedliche Weise dazu beitragen, dass Menschen ihr persönliches Leben mit den Lebens- und Glaubensschätzen der Bibel in Beziehung bringen können.

1. Bibliolog: Der Bibliolog ist eine wunderbare, kreative und zugleich niederschwellige Art, sich in einen Bibeltext hineinzuversetzen und das „weiße Feuer“ der Auslegung zwischen dem „schwarzen Feuer“ des Bibeltextes selbst zu entdecken. Das Echo bei den Teilnehmenden ist meist großartig. Leitungspersonen benötigen zum Einstieg – neben eigener Erfahrung – nicht mehr als einen fünftägigen Bibliolog-Grundkurs, um Menschen zu dieser Art der Bibelbegegnung einzuladen: Eine pastorale Kompetenz, die in keiner Pfarrei fehlen sollte!

2. Bibliodrama: Die Ausbildung in Bibliodrama-Leitung ist erheblich umfangreicher und anspruchsvoller. Doch sie ermöglicht dafür noch einmal vertiefte Entdeckungen, wenn die vielfältigen Rollen- und Identifikationsangebote eines Bibeltextes von konkreten Menschen heute verkörpert werden. Bibliodrama antwortet in besonderer Weise auf die Sehnsucht so vieler Menschen nach authentischen Glaubenserfahrungen.

3. Lectio Divina: Die Lectio Divina erlebt derzeit geradezu einen Boom. Die im besten Sinne zeitgemäße Aktualisierung dieser alten klösterlichen Form des Bibellesens verbindet Herz und Verstand auf beeindruckende Weise und kann Lektoren- und Bibelgruppen neue Impulse verleihen.

Die Erstveröffentlichung dieses Beitrags erfolgte in: Schweizerische Kirchenzeitung 1/2021, S. 6 f.

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