Die Bibel und unsere (römisch-katholische) Kirche – das ist
noch eine junge Liebe. Zwar hat „die Kirche [...] die Heiligen
Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst“
(Dei Verbum [DV] 21). Doch galt dies vor allem für Theologie und
Liturgie, für die Klöster mit ihren Skriptorien und Teile des Klerus.
Nahmen „gewöhnliche“ Christinnen und Christen die Bibel hingegen
selber in die Hand, schrillten die Alarmglocken. Mit den Katharern
wurden im 13. Jahrhundert auch volkssprachliche Bibeln verbrannt,
und kirchlich nicht autorisierte Bibelübersetzungen standen ab dem
16. Jahrhundert regelmäßig auf dem sprichwörtlichen „Index“. Persönliche
Bibellektüre volkssprachlicher Übersetzungen war aus der
Sicht des Lehramtes ein vom Bischof zu verleihendes, individuelles
Privileg: „Da durch die Erfahrung offensichtlich ist, dass, wenn die
heilige Bibel in der Volkssprache allenthalben ohne Unterschied zugelassen
wird, daraus wegen des Leichtsinns der Menschen mehr
Schaden als Nutzen erwächst, soll es in diesem Fall im Ermessen des
Bischofs oder des Inquisitors stehen, dass sie auf Zuraten des Pfarrers
oder des Beichtvaters denen die Lektüre der von katholischen
Autoren übersetzten Bibel in der Volkssprache erlauben können, bei
denen sie gemerkt haben, dass sie aus dieser Lektüre keinen Schaden,
sondern Wachstum des Glaubens und der Frömmigkeit ziehen
können“ („Tridentinische Regeln“ für das Verbot von Büchern, Nr. 4,
bestätigt in der Bulle Dominici gregis custodiae vom 24. März 1564,
DH 1854). Wer keine schriftliche Erlaubnis zur Bibellektüre besaß,
der/dem sollte in der Beichte die Lossprechung verweigert werden,
bis sie/er die Bibel abgegeben hatte. Selbstverständliche Bibellektüre
des ganzen Gottesvolkes war jahrhundertelang ein Alleinstellungsmerkmal
reformierter Kirchen.
Vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung der Bibelbewegung,
die die Bibel ab dem 19. Jahrhundert zum Lebens- und Glaubensbuch
auch katholischer Christinnen und Christen machte, kaum
zu überschaÅNtzen. Sie wurde in ihrer frühen Phase besonders von
dem Pastoraltheologen Johann Michael Sailer SJ (1751–1832) geprägt.
Für die meisten katholischen Christinnen und Christen standen
zwar weiterhin andere Spiritualitäts- und Andachtsformen
wie Marien- und Heiligenverehrung im Vordergrund. Die Bibelbewegung
führte jedoch, etwa zeitgleich und auch in inhaltlicher
Verbindung zur Liturgischen Bewegung, im 20. Jahrhundert zur
Gründung der Bibelwerke im deutschsprachigen Raum (Deutschland
1933, Schweiz 1935, Österreich 1966). Diese „Flitterwochen“
der römisch-katholischen Kirche mit der Bibel mündeten schließlich
in der wegweisenden Offenbarungskonstitution des Zweiten
Vatikanischen Konzils, die – als wäre es nie anders gewesen – festhielt:
„Der Zugang zur Heiligen Schrift muss für die an Christus
Glaubenden weit offenstehen“ (DV 22).
Das Buch des Volkes Gottes
Papst Franziskus setzte insbesondere mit der Einführung des Sonntags
des Wortes Gottes im Jahr 2019 diese gewissermaßen basiskirchliche
Perspektive fort. Er betont im Motu proprio Aperuit illis (AI), dass der Wunsch nach diesem Sonntag aus dem Volk Gottes
gekommen sei (AI 2). Im deutschsprachigen Raum kann dazu u.
a. auf die oft ökumenisch verwurzelten, langjährigen Projekte
zum Bibelsonntag und dem Tag des Judentums in der Schweiz, in
Deutschland, Österreich und vielen weiteren Ländern hingewiesen
werden. Zudem beschreibt Franziskus die Bibellektüre in guter
Tradition der lateinamerikanischen Befreiungstheologie als Lektüre
des ganzen Volkes: „Die Bibel kann nicht nur einigen wenigen
gehören, geschweige denn eine Sammlung von Büchern für wenige
Auserwählte sein. Sie gehört vor allem dem Volk, das versammelt
ist, um sie zu hören und sich in diesem Wort selbst zu erkennen.
Oft gibt es Tendenzen, welche die Heilige Schrift zu monopolisieren
versuchen, indem man sie bestimmten Kreisen oder ausgewählten
Gruppen vorbehält. Das darf nicht so sein. Die Bibel ist das Buch
des Gottesvolkes, das im Hören auf die Schrift aus der Zerstreuung
und Spaltung zur Einheit gelangt. Das Wort Gottes vereint die Gläubigen
und macht sie zu einem Volk“ (AI 4).
Das Wort Gottes selbst, so Franziskus, macht Christinnen und
Christen zum geeinten Gottesvolk. Dass er dabei „Zerstreuung“
noch vor der „Spaltung“ erwähnt, lässt an das Judentum denken.
Bereits zuvor hatte Franziskus die christlich-jüdische Verständigung
noch vor der ökumenischen Dimension betont: „Dieser Sonntag
des Wortes Gottes fällt so ganz passend in den Zeitabschnitt des
Jahres, in dem wir unsere Beziehungen zu den Juden zu festigen
und für die Einheit der Christen zu beten eingeladen sind“ (AI 3).
Dazu passt ebenfalls, dass Franziskus diesen Teil seines Schreibens
als Auslegung von Nehemia 8 entwickelt: Die eindrucksvoll erzählte Verlesung der Tora am Platz vor
dem Wassertor in Jerusalem für das ganze
Volk („Männer und Frauen und überhaupt
alle, die schon mit Verstand zuhören konnten“,
Neh 8,2) entstammt dem Juden und
Christen gemeinsamen Teil der Bibel.
Nicht nur der Sonntag des Wortes Gottes
ist eine ideale Gelegenheit, der Bibel auch
über die Liturgie hinaus den ihr zukommenden
zentralen Platz einzuräumen. Das ist
keine Formalität und auch kein Selbstzweck,
sondern ein Königsweg, auf dem Menschen
entdecken können, wie das Wort Gottes ihr
Leben bereichern kann. Die Bischofssynode
zum Wort Gottes im Leben und in der Sendung
der Kirche hatte 2008 von der Bibel als
„Seele der ganzen Pastoral“ gesprochen (Verbum
domini 3). Papst Franziskus betont die
verbindende, solidarisierende Wirkung des
Wortes Gottes. Bibellesen wird damit zur Erfahrung
und zum Ausdruck von Koinonia:
„Das beständige regelmäßige Lesen der Heiligen
Schrift und die Feier der Eucharistie
ermöglichen es den Menschen zu erkennen,
dass sie zueinander gehören. [...] Das
Wort Gottes ist in der Lage, unsere Augen
zu öffnen, damit wir aus dem Individualismus
herauskommen, der zu Erstickung und
Sterilität führt. Dazu tut es uns den Weg des
Miteinanders und der Solidarität auf“ (AI 8
und 13). Dabei spielt Franziskus auch auf die
Emmaus-Erzählung an (Lk 24,13–35), die er
in seinem Schreiben zur Einführung des
Sonntags des Wortes Gottes ebenfalls auslegt:
Im Lesen der Heiligen Schrift werden
wir zugleich vertraut mit dem Auferweckten,
und der Heilige Geist wirkt in allen, die
das Wort Gottes hören (vgl. AI 10).
Von der verbindenden, Augen und Herzen
öffnenden Wirkung des Wortes Gottes
können viele Einzelne, Lektoren- und Bibelgruppen
in jeder Pfarrei, in jedem Pastoralraum
aus eigener Erfahrung berichten.
Und doch ist die explizite Beschäftigung mit
der Bibel noch zu sehr eine Sache besonders
interessierter Einzelner und Gruppen
geblieben. Bibellesen als selbstverständlicher
Ausdruck und Vertiefung christlicher
Identität ist, trotz des schon lange vollzogenen
kirchlichen Kurswechsels, noch nicht
in die „katholische DNA“ übergegangen.
Der Sonntag des Wortes Gottes will das
ändern.
Den Schatz der Bibel heben
Aus der großen Fülle fruchtbarer Methoden
für das Bibellesen möchte ich nur drei
aktuelle Methoden herausgreifen, die auf
ganz unterschiedliche Weise dazu beitragen,
dass Menschen ihr persönliches Leben
mit den Lebens- und Glaubensschätzen der
Bibel in Beziehung bringen können.
1. Bibliolog: Der Bibliolog ist eine
wunderbare, kreative und zugleich niederschwellige
Art, sich in einen Bibeltext
hineinzuversetzen und das „weiße Feuer“
der Auslegung zwischen dem „schwarzen
Feuer“ des Bibeltextes selbst zu entdecken.
Das Echo bei den Teilnehmenden ist meist
großartig. Leitungspersonen benötigen zum
Einstieg – neben eigener Erfahrung – nicht
mehr als einen fünftägigen Bibliolog-Grundkurs,
um Menschen zu dieser Art der Bibelbegegnung
einzuladen: Eine pastorale Kompetenz,
die in keiner Pfarrei fehlen sollte!
2. Bibliodrama: Die Ausbildung in
Bibliodrama-Leitung ist erheblich umfangreicher
und anspruchsvoller. Doch
sie ermöglicht dafür noch einmal vertiefte
Entdeckungen, wenn die vielfältigen Rollen-
und Identifikationsangebote eines Bibeltextes
von konkreten Menschen heute
verkörpert werden. Bibliodrama antwortet
in besonderer Weise auf die Sehnsucht so
vieler Menschen nach authentischen Glaubenserfahrungen.
3. Lectio Divina: Die Lectio Divina erlebt
derzeit geradezu einen Boom. Die im
besten Sinne zeitgemäße Aktualisierung
dieser alten klösterlichen Form des Bibellesens
verbindet Herz und Verstand auf beeindruckende
Weise und kann Lektoren- und
Bibelgruppen neue Impulse verleihen.
Die Erstveröffentlichung dieses Beitrags
erfolgte in: Schweizerische Kirchenzeitung
1/2021, S. 6 f.