Die Umstände der Covid-19-Pandemie
forderten und fordern weiterhin
sehr viel von allen, die
im liturgischen Bereich tätig sind. Wahrnehmbar
sind einerseits ein „Abbröckeln“
von Motivation oder Personen, die sich
zurückziehen oder ganz verabschieden.
Andererseits ist auch wahrnehmbar,
dass neue Haltungen, Wege und Strukturen
entstehen, sich weiterentwickeln
und allmählich in die gängige Praxis übergehen.
Insbesondere im Bereich der Kirchenmusik
und Gesangspraxis lassen sich auch
positive Entwicklungen beobachten. Dies
stimmt optimistisch, denn darin zeigt
sich ein noch wenig bewusstes, unschätzbares
Potential, das über die Corona-Zeit
hinaus Wege eröffnet für eine heutigen
Menschen zugängliche und angemessene
kirchenmusikalische Praxis und Liturgie.
Hierzu einige Eindrücke aus dem eigenen
Erleben:
-
An Stelle einiger weniger Einsätze des
Gesamtchores treten jetzt häufiger kleine
Einsätze von Scholen, Gruppen und Einzelpersonen.
- Auch die Kantorinnen und Kantoren
erweitern ihr Repertoire: Sie beschränken
sich nicht mehr nur auf Antwortgesang und
Hallelujaruf, sondern starten gleich zu Beginn
a capella mit dem (wiederentdeckten)
traditionellen Introitus-Ruf und singen
während der Messe Rufe, Akklamationen
und Verse.
- Die Orgel und weitere Instrumente sind
vermehrt instrumental oder gesangbegleitend
gefordert. Dabei wird der Wechsel von
Vorsängerinnen und Vorsängern und sprechender
Gemeinde als dynamische Einheit
erlebt.
- Sehr schön ist es, wenn der Organist
die Sprechteile mit der Orgel dezent
untermalt: mit der eigentlichen Liedmelodie
oder mit anderen Motiven, die dazu
passen. Kürzlich hat ein Organist z. B. das
gesprochene Sanctus mit einer altehrwürdigen
gregorianischen Melodie unterlegt
– das ging sehr unter die Haut und hat (für
mich) diesen Teil zu einem echten „geistlichen
Erlebnis“ werden lassen.
- Durch die zunehmenden „kleinen“
Einsätze ist es auch möglich, dass die Gemeinde
vermehrt mit Gesängen und Texten vertraut wird, die bislang nur wenig oder
gar nicht im Gottesdienst präsent waren:
So erlernt und erweitert die Gemeinde das
Repertoire, ohne dass es als „Unterricht“
erlebt (oder gar abgelehnt) würde: bislang
unbekannte Lieder aus dem „Gotteslob“,
aus dem Liederbuch „Kreuzungen“, aus
den (Freiburger) Chorbüchern oder auch einzelnes sonstiges Liedgut und Instrumentalmaterial.
- Die teilweise bislang unbekannten bzw.
neuen Beiträge und die Art und Weise, die
wir derzeit einüben, entspricht meines Erachtens
genau dem, was die Liturgiereform
im Anschluss an das Zweite Vatikanische
Konzil zum Ziel hatte und das seither nur
sporadisch oder noch nicht vollumfänglich
in die Praxis umgesetzt wurde:
-
das dynamische Feiern der Liturgie,
d. h. die Überwindung einer oft als „erstarrt“
erlebten Liturgie;
- eine vielfältigere Rollenverteilung
und ein Wechsel verschiedener Einsätze,
Charismen, Elemente und Deutungsentfaltungen,
d. h. eine direkt erlebbare Fülle
der sich einbringenden Personen, Charismen
und Interpretationsvielfalt (damit
verbunden auch vielfältige Communio-Erfahrungen);
- eine aktive Teilhabe aller Gläubigen
(participatio actuosa), d. h. die Zugänglichkeit
und Verinnerlichung der „ganzen“
Messe für alle Gläubigen im Wechsel von
sich aktivem Einbringen oder „passiv-innerlichem“
Mitfeiern-Können;
- frische, zeitgemäße und somit zugängliche
Textdichtungen, Melodien und
Kompositionen – dies nicht gegen, sondern
in Kombination mit bereits Gewohntem.
Liturgia semper reformanda
Die „Tradition“ war nie starr, sondern
seit jeher dynamisch. Veränderung ist
ein wesentlicher Bestandteil der Tradition
selbst. Die Kirche und die Liturgie
sind semper reformanda, d. h. sie entwickeln
und verändern sich ständig – das
ist ein alter Grundsatz kirchlichen Lebens.
Oft war und ist es sogar so, dass
nicht die Kirche die Liturgie verändert
hat („so, wie wir glauben, feiern wir“),
sondern dass das, was in der Liturgie neu
in den jeweiligen Epochen entstand, verändernden
bzw. prägenden Einfluss auf
die Kirche hatte: Lex orandi, lex credendi
(= so, wie wir feiern/beten, so glauben
wir). Das Paradebeispiel dafür ist die Liturgische
Bewegung (Romano Guardini,
Abtei Maria Laach, Burg Rothenfels) in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts,
die ganz wesentliche Vorarbeit zur Liturgiereform
des Zweiten Vatikanischen
Konzils leistete. Auch die Praxis der nordamerikanischen
„schwarzen“ Gemeinden
mit ihren Gospels, die (Basis-)Gemeinden
Lateinamerikas mit ihren Rhythmen und
Texten, die Schöpfungen der afrikanischen
und asiatischen Gemeinden, die
Gesänge der ökumenischen Kommunität
von Taizé, die deutschsprachigen Schöpfer
der „Neuen Geistlichen Lieder“, die
Praxis der Niederlande (Huub Oosterhuis
mit seiner Bewegung), neuere geistliche
Musik (z. B. aus Polen, aber auch aus unseren
Ämtern und Instituten für Kirchenmusik)
haben inspirierende und verlebendigende
Impulse für unsere Liturgien
gebracht.
Lernfeld Digitalität
Die bisherigen Ausführungen bezogen
sich auf Präsenzgottesdienste unter Corona-
Bedingungen. Die mittlerweile gelegentlichen
Videoaufzeichnungen oder
Onlineübertragungen von Gottesdiensten
eröffnen zusätzliche Aspekte und vergrößern
das Feld für das Experimentieren
und Lernen. Die digitale Vermittlung
eines Gottesdienstes (unter Corona-Bedingungen)
ist nochmal etwas anderes als ein
bloßer Präsenzgottesdienst: ein „digitales
Gesamtkunstwerk“. Welche Implikationen
dies für Gesang und Musik hat, wird sich
erst noch zeigen in den Erfahrungen und
Rückmeldungen, die wir jetzt sammeln.
Digitalität eröffnet zum Beispiel Möglichkeiten
von Text- oder Bildeinblendungen.
Das schafft Raum für Informationen, katechetische
Elemente oder liturgische Formen,
die bei einem bloßen Präsenzgottesdienst
kaum eingebracht werden können.
Auch auf Musik und Gesang hin wäre dies
zu bedenken.
Unsere Liturgie lebt organisch aus
den Wurzeln, aus den Beiträgen der verschiedenen
Epochen und aus den Beiträgen
unserer Zeit. Das dürfen (und
müssen) wir berücksichtigen und umsetzen:
Zur Ehre Gottes und zum Heil der
Menschen.