Es war eine schwer zu bewältigende Aufgabe, der sich die
großen christlichen Kirchen in Deutschland im Rahmen des
bundesweiten Gedenkens an die Verstorbenen der Corona-
Pandemie stellen mussten: Wie lässt sich ein Gottesdienst gestalten,
der zwar ein ausdrücklich christliches Profil aufweist, aber auch
den vielen Tausenden nichtchristlichen Corona-Opfern und ihren
Hinterbliebenen gerecht werden soll? Wieviel Politik ist bei einer
solchen staatlich initiierten Trauerfeier angemessen? Und wie
lässt sich überhaupt ein gottesdienstlicher Rahmen gestalten, der
Angehörigen einen Raum der Trauer, aber auch des Trostes eröffnen
soll, während gleichzeitig die „dritte Welle“ der Pandemie
tobt? Trauerfeiern und Gottesdienste nach sog. Großschadensereignissen
stellen an sich schon eine Herausforderung für Liturgieverantwortliche
dar – umso mehr, wenn die Katastrophe noch
nicht der Vergangenheit angehört, sondern gerade einen neuen
Höhepunkt erreicht.
Der ökumenische Gottesdienst, zu dem der Ratsvorsitzende
der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Heinrich
Bedford-Strohm, sowie der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz,
Bischof Georg Bätzing, gemeinsam mit dem
Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in
Deutschland, Erzpriester Radu Constantin Miron, auf Bitten der
deutschen Staatsspitzen am 18. April einluden, kann in Anbetracht
der komplexen Ausgangslage geradezu als vorbildhaft angesehen
werden. Die evangelische Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
am Berliner Breitscheidplatz bot den passenden Rahmen
für die Feier: ein achteckiger, hierarchiefreier Raum, gebildet aus
tausenden Glasquadraten, die mehrheitlich blaues Licht in die
Kirche hineinwarfen und damit eine Atmosphäre der Ruhe und
der Kontemplation erzeugten. Die wenigen zugelassenen Mitfeiernden,
darunter der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin,
saßen zwar in coronakonformen Abständen im Raum verteilt,
waren aber doch ausgerichtet auf den Altar mit Kerzen, Standkreuz
sowie geöffneter Heiliger Schrift. Darüber schwebte überlebensgross
die eindrucksvolle goldfarbene Figur des segnenden
Auferstandenen mit den Wundmalen. Ein Raum, der zum stillen
Trauern prädestiniert ist, aber auch die christliche Hoffnung zum
Ausdruck bringt.
Im Folgenden werden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit –
persönliche Eindrücke der Gottesdienstübertragung wiedergegeben:
Gelungene Elemente
-
Beeindruckend war die kirchenmusikalische Gestaltung, die
ganz auf die Kraft und das Ausdrucksvermögen der menschlichen
Stimme setzte: Ein herausragendes, vierstimmiges Vokalensemble
(„Athesinus Consort Berlin“, Leitung: Klaus-Martin Bresgott) zog sich
hierbei nicht nur auf konzertante Stücke zurück, sondern performte
in gleichem Maße bekannte Gesänge aus EG und GL („Wenn wir in
höchsten Nöten sein“, EG 366; „Wir sind nur Gast auf Erden“, GL 505;
„Herr, bleibe bei uns“, GL 89/EG 483), was emotionale Verbundenheit
schuf. Dem traurigen Anlass entsprechend wurden Instrumente
(Orgel, Glockenspiel sowie Handpan, ein Schlaginstrument, das aus
zwei verbundenen Stahlblechschalen besteht) sparsam eingesetzt.
- Als Lesung fungierte Ps 13,1–5 (ohne den Jubelvers 6). Auffällig
war das viermalige „wie lange?“. Dies ist das eine Grundwort in
den Klagepsalmen – „wie lange noch, Herr?“. Damit bringt der/die
Betende die eigene Not vor Gott. Er/sie fühlt sich von ihm vergessen.
In Anbetracht einer Pandemie, die nun schon über ein Jahr
andauert und kein Ende zu nehmen scheint, sind dies naheliegende
Worte und Fragestellungen.
- Auch drei Betroffene der Corona-Pandemie kamen repräsentativ
im Rahmen kurzer, existentieller Statements zu Wort: Ein Genesener,
ein Krankenpfleger sowie eine Sopranistin, die wie viele
Künstler/innen ihren Beruf bereits viele Monate nicht mehr ausüben
darf und von ihrer „endlosen Ungewissheit“ berichtet. Besonders
ausdrucksstark war es, dass sich alle neben die brennende
Osterkerze stellten – als Zeichen, dass trotz des unaussprechlichen
Leids der Tod nicht das letzte Wort hat.
- Da die Corona-Pandemie die plurale Gesellschaft in ihrer Gesamtheit
betrifft, war es naheliegend, ja sogar erforderlich, auch nichtchristlichen
Religionsvertreter/innen eine Stimme zu geben. Die
Gesangsbeiträge der jüdischen Kantorin Avital Gerstetter sowie des
Imams Esnaf Begić, Vorsitzender des Islamkollegs Deutschland e. V.,
waren so gewählt, dass sie mit der christlichen Hoffnungsbotschaft
im Einklang standen: Gerstetter sang „Eli, Eli“, ein Gedicht der ungarischen
Widerstandskämpferin Hannah Szenes (Übers.: „Mein Gott,
mein Gott, mach, dass niemals vergeht der Sand und das Meer, das
Rauschen des Wassers, der Blitz des Himmels und das Menschengebet“),
während Begić Sure 94 intonierte: „Im Namen Allahs, des
Allerbarmers, des Barmherzigen. Haben wir nicht dein Herz geöffnet
und von dir die Last genommen, die so schwer auf deinem Rücken lastete? Und haben wir nicht dich an Würde
erhöht? Siehe, mit jeder Härte kommt
Erleichterung! Wahrlich, mit jeder Härte
kommt Erleichterung! Darum, wenn du von
Bedrückung befreit bist, so bleibe standhaft
und wende dich in Liebe zu deinem Herrn.“
- Biblisches Herzstück des Gottesdienstes
bildete die Emmauserzählung (Lk 24,13–
35), aufgrund ihres Umfangs zwischen den
Versen 27 und 28 durch den Kanon „Herr,
bleibe bei uns“ (GL 89/EG 483) unterbrochen.
Rhetorisch perfekt vorgetragen
wurde sie durch den Schauspieler Ulrich
Noethen. Die Perikope ist nicht nur ein liturgisches
Zugeständnis an die Osterzeit,
sondern greift auch die Situation der heute
Trauernden auf – Zusammenhänge, die
in den anschließenden Kurzpredigten von
Landesbischof Bedford-Strohm und Bischof
Bätzing aufgezeigt wurden.
- Dass keine Politiker/innen oder andere
öffentliche Mandatsträger/innen innerhalb
des Gottesdienstes zu Wort gekommen sind,
hat der Feier gutgetan. Eine nichtreligiöse
Gedenkveranstaltung fand am Mittag desselben
Tages an einem anderen Ort, im Konzerthaus
am Berliner Gendarmenmarkt,
statt.
Wenige Anfragen
Obwohl der ökumenische Gottesdienst dem
Anlass, der Feiergemeinschaft sowie den
örtlichen Gegebenheiten absolut gerecht
geworden ist, müssen dennoch Anfragen
gestellt werden:
-
Es ist zu begrüßen, dass das Judentum
und der Islam im Gottesdienst eine Stimme
erhalten haben. Jedoch sind die Kantorin sowie
der Imam nach ihren gesanglichen Beiträgen
nicht mehr in Erscheinung getreten,
was vermutlich der Tatsache geschuldet ist,
dass ein interreligiöses Gebet von Seiten der
christlichen Kirchen nicht möglich ist. Doch
wäre die Form der „multireligiösen Feier“
in Anbetracht der vielen nichtchristlichen
Corona-Opfer nicht angemessener gewesen
als ein ökumenischer Gottesdienst?
- Die Programmplanung des Fernsehsenders
„Das Erste“ gab einen Zeitrahmen von
45 Minuten für den Gottesdienst vor. War
es diesem Zeitdruck geschuldet, dass der
Stille nur wenig Raum gegeben wurde?
- Die Feier setzte auf die Kraft der Worte
und der Musik. Auch der Kirchenraum wurde
eindrucksvoll inszeniert. Hätten nicht
weitere Symbole oder Zeichenhandlungen
(z. B. eine Einladung, eine Kerze zu entzünden
und ins Fenster zu stellen), eine stärkere
Verbindung mit den Mitfeiernden am heimischen
Bildschirm herstellen können?
- Die Fürbitten wurden u. a. von den drei
Pandemie-Betroffenen authentisch vorgetragen,
da sie deren Erfahrungen inhaltlich
aufgegriffen haben. Doch trägt es wirklich
zur participatio actuosa bei, wenn die Fürbittanliegen
mit „… darum bitte ich“ (statt
„… darum bitten wir“) enden und auf einen gemeinsamen Fürbittruf ganz verzichtet
wird?
- Irritiert hat der Abschluss der Feier: Das
meditative Orgelspiel wurde pünktlich um
11 Uhr von der Vorschau auf die abendliche
Talkshow „Anne Will“ mit dem Thema
„Streit um die ‚Bundes-Notbremse‘ – lässt
sich die dritte Welle so stoppen?“ abgeschnitten.
Hätte nicht eine sensiblere Form
des Übergangs zum normalen Programm
gefunden werden können?
Der ökumenische Gottesdienst für die Verstorbenen
der Pandemie ist noch bis zum
18. April 2022 in der ARD-Mediathek abrufbar
(www.ardmediathek.de).