Wie „klug“ ist eigentlich die kluge Else?

Ein Märchen, das mich zur Erleuchtung führte

Wie „klug“ ist eigentlich die kluge Else?
© Andrea Göppel

Ein Aha-Erlebnis: die große Heulerei

Als ich sechs Jahre alt war und endlich selber lesen konnte, entdeckte ich die Geschichte von der klugen Else im Märchenbuch, aus dem meine Mutter mir vorher oft vorgelesen hatte. Dass sie dieses Märchen immer ausgelassen hatte, das steigerte meine Neugier. Ich las es also zum allerersten Mal – und musste schallend lachen. Plötzlich war ich voller Freude über das, was ich da vorfand. Dabei behandelt die Geschichte im Grunde genau das Anti-Thema: übertriebene Sorge, die Neigung zum Klagen und in die Zukunft projizierte Horrorvorstellungen. Meine Fröhlichkeit ergab sich aber aus der ersten großen Erkenntnis meines Lebens. Ein riesiges Aha-Gefühl war das, eine innere Befreiung. Ich lachte mich kaputt und schloss dieses Märchen sofort in mein Herz. Die Geschichte geht so: Else, von ihrer Familie als besonders klug bezeichnet, ist ins heiratsfähige Alter gekommen. Ihre Eltern erachten es für sinnvoll, dass sie sich vermählt. Es findet sich lange niemand, aber schließlich stellt sich doch ein Anwärter ein. Dieser Hans wird zu einem festlichen Essen eingeladen, während dessen er sich entscheiden soll. Er will die Else nur, wenn sie wirklich klug ist. Die Eltern versichern es. Beim Essen wird Else dann in den Keller geschickt, um Bier zu zapfen. Sie geht hinunter, dreht den Hahn des Fasses auf, und in dem Moment sieht sie über dem Fass eine in der Wand steckende Spitzhacke, die die Maurer dort vergessen haben. Sofort bricht sie in Tränen aus, denn sie sagt sich: „Wenn ich den Hans kriege, und wir kriegen ein Kind, und das ist groß, und wir schicken das Kind in den Keller, dass es hier soll Bier zapfen, so fällt ihm die Kreuzhacke auf den Kopf und schlägt’s tot.“ So eine also ist die Else. Sie kann sich etwas vorstellen. Kann in die Zukunft sehen. Und ist derart erschüttert, dass sie wie gelähmt sitzen bleibt und weint. Der Vater wundert sich derweil, wo sie bleibt, auch möchte man gern Bier zum Essen. Also schickt er die Magd, um nach der Tochter zu sehen. Die geht in den Keller, bricht nach Elses Erklärung ebenfalls in Tränen über das bevorstehende Unglück aus, setzt sich neben sie und beide weinen vereint. Und so geht es weiter: Nach der Magd geht der Knecht hinunter, um zu sehen, was los ist, bleibt auch dort und weint mit, dann die Mutter, dann der Vater, und schließlich der Hans. Bis alle, die vorher oben am Tisch saßen, unten im Keller sitzen, über das zukünftige Unglück weinen und Elses Verstand preisen. Dies alles überzeugt den Heiratsanwärter Hans derart von Elses Klugheit, dass er sie prompt zur Frau nimmt. Soweit das Grimmsche Märchen. (Erst Jahrzehnte später stellte ich fest, dass dieses Märchen danach noch weitergeht. Doch dieser brutale Schluss – Else wird für verrückt erklärt und als Mensch abgewertet – schien mir schon als Kind nicht gefallen zu haben, weshalb ich ihn einfach beim Lesen wegließ. Mein „Schlussbild“ war immer die in trauter Heulerei versammelte Gemeinschaft im Keller.) 

Weshalb dieses Märchen mich gerettet hat

Sie fragen nun, warum dieses Märchen damals in mir solche Heiterkeit auslöste? Das hatte zwei Gründe. Der erste: In meiner Familie strahlte alles tragische Schwere aus. Dramatische Szenerien wurden ausgemalt und alles hin und her bedacht, und überall sah man Gefahren, die in der Zukunft lauerten. Es war also sehr dunkel bei uns, auch wenn das Licht an war. Sich Sorgen zu machen galt als Zeichen von Urteilskraft. Wer sich einfach nur seines Lebens freuen wollte, galt als oberflächlich und dumm. (Heute ist mir klar, dass vermutlich traumatische Erfahrungen, die meine Eltern im Krieg gemacht hatten, zu diesem düsteren Weltbild führten. Als Kind wusste ich es nicht und konnte es nicht wissen.) Und nun diese Geschichte: Plötzlich, als hätte jemand im finsteren Zimmer eine Tür ins Freie aufgerissen, konnte ich sehen, wie absurd alles war. Mir wurde klar, dass Klagen und Sorgen machen rein gar nichts mit Klugheit zu tun hatten! Klug wäre ja gewesen, die Spitzhacke von der Wand zu nehmen! Ich konnte über den großen Irrtum lachen, der im Sorgenmachen als Lebenshaltung steckt. Das war unfassbar befreiend. Der zweite Grund: Ich begriff, dass meine starke Sehnsucht nach Freude weder ein Irrtum noch eine Dummheit war. Ich verstand, dass ich mich dringend auf die Suche nach der Freude machen musste, nach Licht und Leichtigkeit. Seitdem suche ich die Freude wie ein Detektiv und genieße sie, wann immer ich sie finde. Dieses Märchen hat meinem Leben eine neue Richtung gegeben. Es hat mich geradezu gerettet. 

Freude lässt sich lernen

Es ist eine Entscheidung, ob man sich Freude erlaubt. Und ob man sie trainiert. Manchen Menschen scheint diese Fähigkeit in die Wiege gelegt zu sein. Anderen weniger. Doch lernen können wir sie alle. Dazu muss man allerdings erst mal das Schöne, das da ist, wahrnehmen können und den Fokus darauf richten. Else macht es genau umgekehrt. Oben auf dem Tisch steht das köstlichste Essen, doch statt es zu genießen, sitzt sie im Keller und beklagt das eventuelle Schicksal eines noch nicht einmal gezeugten Kindes. Oben wartet Hans, der mit ihr ganz neu durchstarten will. Da könnte man ziemlich viel Vorfreude entwickeln, doch sie malt sich stattdessen lauter Schrecklichkeiten aus. Sie sorgt dafür, dass die Freude gar nicht in ihr Leben hineinkommen kann. Sicher: Die Gefahr ist da. Wir sollten uns ihrer stets bewusst sein. Manchmal gibt es auch wirklich viel Unerfreuliches. Doch das Erfreuliche gibt es immer auch. Jeden Tag. Trotz allem sollten wir uns gerade jetzt freuen. An den leuchtenden Ringelblumen auf dem Balkon, an den Knospen der Himbeerranken, am Lächeln eines fremden Menschen auf der Straße, am blauen Himmel und an tausend anderen schönen Dingen. Wir dürfen immerzu Kraft schöpfen aus unserer Freude, um alles Schwierige zu meistern. Und wer sich freuen kann, ist auch in der Lage, sich vorzufreuen. Statt die Zukunft schwarz zu malen, kann er sie sich sehr konkret schön vorstellen. Und wer es schafft, sich etwas Schönes vorzustellen, sorgt damit zugleich dafür, dass das Schöne dann auch wirklich eintreten kann. Wir dürfen uns schon im Winter auf die blühenden Tulpen freuen, wenn wir im Herbst Zwiebeln in die Erde gesteckt haben. Obwohl monatelang von diesen Tulpen noch gar nichts zu sehen ist. Freude ist unersetzlich. Sie ist ein Gottesgeschenk. Sie verleiht dem Augenblick seine Brillanz, sie feiert ihn, verankert uns in ihm und lässt unsere Herz schlagen. Das ist Leben pur. Seien wir also klüger als die kluge Else und erlauben wir uns die Freude, wann immer wir das wollen und brauchen. 

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