einfach leben: Sie plädieren für ein „Lob der Scham“. Wäre nicht eine Kritik der Unverschämtheit wichtiger?
Daniel Hell: Beides ist wichtig: Das Positive an Scham bemerken viele erst, wenn jemand sie unverschämt oder schamlos behandelt. Gerade das Fehlen von Scham weist aber darauf hin, dass sie an sich einen Wert hat.
Aber Scham ist doch quälend, peinlich, unangenehm ...
Daher wird sie oft versteckt oder abgewehrt. Aber sie hat in der Regel auch eine Botschaft, nicht unbedingt eine bequeme: Sie weist uns auf wichtige Werte hin, auf Selbstachtung, auf Grenzen, die wir einhalten sollen, aber eben nicht einhalten. Sie hat Warnfunktion, sie alarmiert, dass mit uns etwas nicht in Ordnung ist.
Viele Kinder bekamen früher von ihren Eltern die Botschaft mit: Mach uns keine Schande, ruiniere den Ruf der Familie nicht! Eine solche Schamkultur machte doch eher Angst.
Ja, das stimmt. Dass ich besonders brav sein muss, nicht auffallen sollte, dass ich um Gotteswillen nicht schwanger werden darf etc. – dieser Druck war natürlich problematisch. Man kann sich auch wegen falscher Werte schämen. Soziologen sehen Scham zwar tatsächlich als Sanktionsmittel – um sich familiären oder gesellschaftlichen Werten anzupassen. Aber Scham zeigt mir mehr an. Wenn ich mich schäme, sei es zum Beispiel wegen meiner sozialen oder ethnischen Herkunft oder wegen einer stigmatisierten Krankheit, ist das ein Hinweis darauf, dass ich diese Wertungen übernommen und deswegen mit mir selbst ein Problem habe. Die Präsenz solcher falschen Werte in mir kann ja gerade durch das Erleben der Scham aufgedeckt, und so ein möglicher Wandel angestoßen werden.
Scham kann uns also menschlich weiterbringen?
Ja, als ein Sensor, der eine Gefährdung der Selbstachtung anzeigt. Sie lässt fragen: Weshalb schäme ich mich eigentlich? Was ist der Grund? Sind die Werte, um die es geht, richtig? Kann ich sie auch unterlaufen und so aus der Beschämungsfalle herausfinden?
Die Missbrauchsdebatte hat freilich gezeigt, dass Opfer gerade in der Scham verharren, nicht reden können. Geschämt haben sich in der Regel nicht die Täter.
Man hat da vielfach die Schamfähigkeit der Menschen benutzt, um sie kleinzumachen und zu schwächen. Jesus von Nazareth hat sich zu den Beschämten gestellt, auf die Seite derer, die gedemütigt wurden oder keine Ehre hatten. Denken Sie an die Geschichte mit der Ehebrecherin. Er hat nicht die Scham als solche in Frage gestellt, sondern den Beschämten neue Würde verschafft. Das völlige Gegenteil passiert dort, wo Menschen auf gezielte Weise niedergehalten und beschämt werden. Diese Methode ist leider selbst in kirchlichen Kreisen nicht einfach verschwunden.
Ein anderes Beispiel, aus dem Alltag: Ein Mensch, der früher sehr vital war und jetzt plötzlich schwer erkrankt und auf einen Rollator angewiesen ist, wagt sich nicht mehr unter Menschen. Er schämt sich – seiner Schwäche.
Diese Reaktion spiegelt die verbreitete Abwertung von Gebrechlichkeit. Der Betroffene spürt, dass er nicht mehr aufrechterhalten kann, was für ihn – wie für unsere individualistische Moderne – zentral ist: stark und selbstständig zu sein. Das verletzt sein Selbstbild. Solche Scham lässt aber auch fragen: Wie gehen wir selbst mit Schwäche um? Wie lassen wir uns indoktrinieren von Wertvorstellungen über Schönheit, Vitalität, Jugend? Es schämen sich ja Leute heute oft schon, wenn die Haare ausfallen, wenn sich Runzeln oder Alters ecken auf der Haut zeigen, oder die Figur nicht in den Bikini passt. Man schämt sich heute kaum mehr der Nacktheit, sondern wegen ästhetischer Mängel, angeblicher „Hässlichkeit“. Eine ganze Industrie lebt davon, uns von dieser Schmach zu „heilen“, indem sie uns ihre Produkte verkauft, um uns zu „optimieren“.
Es gibt auch eine persönliche Scham, die nicht von außen induziert ist: Man fühlt sich ertappt: bei einer Lüge, bei einer offenkundigen Gier...
Soziale Scham hat mit kulturellen Werten und familiären Vorstellungen zu tun, die wir übernommen haben. Wir schämen uns, wenn ein solcher Normbruch anderen bekannt wird. Es kann uns die Schamröte ins Gesicht schießen lassen. Die persönliche Scham setzt keine Schamzeugen voraus. Wir schämen uns vor uns selbst, weil wir eigene Ideale, die sich mit den gesellschaftlichen nicht decken müssen, verraten haben. Persönliche Scham ist aber ein besonders starker Motor, uns zu verändern, vielleicht auch etwas wiedergutzumachen. Man kann das Schuldscham nennen: Durch sie werde ich angestoßen, einen begangenen Fehler zu korrigieren.
Wie unterscheiden sich Schamgefühl und Schuldgefühl?
Ich würde nicht von Schuldgefühl, sondern eher von Schuldbewusstsein sprechen. Und das kann uns durch das Gefühl der Scham angezeigt werden. Wir schämen uns, dass wir unrecht gehandelt haben. Im echten Schuldgefühl ist meist auch Schamgefühl mit enthalten. Die gängige Unterscheidung von Schuld als „höhere Emotion“ und von Scham als „niederem Gefühl“ halte ich übrigens nicht für angebracht. Scham ist im Vergleich zu Schuld auch keinesfalls leicht zu ertragen. Oft dient sogar eine übertriebene Betonung von Schuld beziehungsweise ein „neurotisches Schuldgefühl“ als Abwehr von Scham.
Kann man Scham ablegen, Schamgefühl einfach verlieren?
Auslöschen kann man Scham wohl nie ganz. Sie ist biologisch angelegt und wird kulturell geprägt. Es gibt, soweit wir wissen, keine schamfreie Zeitepoche und kein Volk, das Scham nicht kennt. Man kann sie natürlich abwehren oder verdrängen. Der Verlust an Scham kann auch biografisch bedingt sein, wenn schwere Belastungen vor allem in der Kindheit zu narzisstischen Störungen führen. Er kann zudem krankheitsbedingt sein. Eine akute Psychose schränkt zum Beispiel die selbstbewusste Ich-Identität und damit die Schamfähigkeit ein. Auch schwere Demenz führt zu Schamverlusten. Dann ist es an den Mitmenschen, die Schamgrenzen der Betroffenen zu sichern und sie vor Übergriffen zu schützen.
Übergriffe, Grenzüberschreitungen sind verbreitet in unserer Gesellschaft. Intimität wird immer weniger geachtet und geschützt. Wegfall von Hemmungen im Netz, „Shitstorms“, unkontrollierte aggressive Wutattacken, öffentliche Beschämungen – was geht da vor?
Bei diesen Phänomenen spielt wohl der Verlust an Schamgrenzen infolge vermehrter Schamabwehr eine Rolle. Scham wird dann häufig mit einem Wutanfall überdeckt und verdrängt. Auch narzisstische Tendenzen spielen da mit. So kann jemand Scham narzisstisch gekränkt ablehnen und statt sich zu schämen, andere beschämen oder sich in einer Opferrolle einrichten. Scham setzt ja nicht nur Grenzen, sondern geht auch mit Selbstkritik einher und kann zur Selbsteinsicht führen. Wer sich schämt, beschämt nicht. Im Gegensatz dazu erleichtert Schamverlust destruktive und übergriffige Handlungen. Wer Scham abwehrt, um sich nicht selbst in Frage stellen zu müssen, ist narzisstisch eher gefährdet. Damit steigt aber auch das Risiko narzisstischer Kränkungen an, wofür manche Indizien sprechen. Schamabwehr verbunden mit Rachegefühlen und Beschämungen anderer immunisiert uns selber gegen Kritik und Selbstzweifel. Wir sehen es in Politik und Arbeitswelt: Beschämung wird dann zum Ausdruck von Stärke.
Wieso ist also gerade heute wichtig, Scham wieder ernst zu nehmen?
Die Ansammlung früher tabuisierter Phänomene, wie das Internet sie zum Thema Pornographie und Gewalt anonym anbietet, riskiert, Schamgrenzen und Intimität zu zerstören. Scham grenzt Bereiche ab, wo wir, aber auch Mitmenschen, nicht verletzt werden wollen. Mitentscheidend ist, was wir heute und zukünftig als schützenswert erachten. Das muss nicht das Gleiche sein wie früher. Wenn aber Scham generell verunglimpft oder instrumentell missbraucht wird, nehmen die sozialen und persönlichen Probleme zu. Wir können das Schamgefühl mit Reizen überdecken, uns medial ablenken oder Medikamente schlucken, um Scham nicht zu fühlen. Das bringt uns aber nicht weiter. Ernstnehmen der Scham und kritische Wachheit gegenüber jeder Unverschämtheit gehören eng zusammen.