Wie wir leben wollenEhrfurcht – das Aufleuchten der Würde

Ehrfurcht umfasst alle Bereiche: das Heilige und den Alltag. Wir brauchen diese Haltung, um eine Kultur des Miteinanders zu schaffen. Und wir brauchen sie als Hüterin echter und wahrer Kultur. Fehlende Ehrfurcht ist ein Bankrott der Menschlichkeit.

Ehrfurcht: Das Aufleuchten der Würde
Die Ehrfurcht lässt die Größe jedes Menschen gelten, die Würde erstrahlen.© Anas - fotolia.com

Gespür für das Geheimnis

Das deutsche Wort „Ehrfurcht“ ist zusammengesetzt aus den beiden Worten „Ehre“ und „Furcht“. Letzteres meint hier nicht die Angst vor etwas, sondern die Scheu vor dem Heiligen, das Betroffensein von etwas, das größer ist als ich selbst. Und die „Furcht“ meint hier das Achten darauf, dass ich dem, dem Ehre gebührt, die Ehre auch gebe. Romano Guardini, der über die Ehrfurcht geschrieben hat, meint: Ehrfurcht verzichtet auf das Zudringen zum Heiligen, auf das Eindringen in etwas, das geschützt werden will. Sie hält Abstand. Sie hat ein Gespür, dass es etwas gibt, das so sein darf, wie es ist, ohne dass wir es selbst in die Hand nehmen und erforschen müssen. Ehrfurcht hat also immer mit dem Geheimnis zu tun. Der Ursprung der Ehrfurcht ist die Religion. Ehrfurcht drückt die Empfindung des Heilig-Unnahbaren aus. Sie ist nach Guardini die „Ahnung von Heilig-Großem und das Verlangen, an ihm Teil zu haben – verbunden mit der Sorge, seiner unwürdig zu sein“. Heute verwenden wir das Wort „Ehrfurcht“ auch, um eine Haltung gegenüber allem, was bedeutend und wertvoll ist, zu beschreiben. Wir kennen etwa die Ehrfurcht vor einem heiligen Menschen, aber auch vor einem verdienstvollen Menschen. Wir wollen dem die Ehre erweisen, dem sie gebührt.

Ein gesellschaftliches Manko

Heute wird vielfach der Mangel an Ehrfurcht beklagt. Oft zu Recht – wenn Menschen etwa eine Kirche betreten als sei sie eine Markthalle oder ein Museum, ohne jede Scheu vor dem Heiligen. Auch bemängeln viele Menschen, dass der tiefere Respekt im zwischenmenschlichen Bereich fehlt. Viele möchten zu niemandem mehr aufschauen. Und immer wieder kann man die Erfahrung machen, dass Journalisten, denen nichts mehr heilig ist, auch große Menschen in den Dreck ziehen – und sich dabei die Befriedigung verschaffen, dass keiner wirklich groß ist. Alles wird klein gemacht, alles wird damit banal und wertlos.

Das Leben schützen

Romano Guardini schildert das Wesen der Ehrfurcht weiter so: „In der Ehrfurcht verzichtet der Mensch auf das, was er sonst gern tut, nämlich in Besitz zu nehmen und für die eigenen Zwecke zu gebrauchen. Stattdessen tritt er zurück, hält Abstand. Dadurch entsteht ein geistiger Raum, in welchem das, was Ehrfurcht verdient, sich erheben, frei dastehen und leuchten kann.“ Es ist also eine Haltung, die der Würde des Menschen entspricht. Heute gibt es eine Sucht, in das Geheimnis jedes Menschen einzudringen und alles, was er in seinem privaten Leben tut, vor aller Welt auszubreiten. Es ist die Sucht, alles zu banalisieren. Wir können das Geheimnis eines Menschen und das Geheimnis eines Ortes nicht stehen lassen. Für Romano Guardini gehört die Ehrfurcht wesentlich zur Kultur. Alle wirkliche Kultur beginnt „damit, dass der Mensch zurücktritt“. Nur so kann die Würde eines Menschen, die Schönheit der Natur oder eines Kunstwerkes in ihrem Glanz aufleuchten. Albert Schweitzer hat seine Ethik „Ehrfurcht vor dem Leben“ genannt. Für ihn ist der Sinn aller Ethik, Ehrfurcht vor dem Leben zu haben und dem Geheimnis des Lebens gerecht zu werden, das Leben also zu schützen. Das ist für ihn der letzte Grund für die Achtung und Bewahrung der Schöpfung. Und diese Haltung führt dann auch zur Ehrfurcht vor dem Menschen, nicht nur vor „großen“ Menschen, sondern gerade auch vor den erniedrigten, kranken und verwundeten Menschen.

Raum geben

Romano Guardini meint, die Ehrfurcht könne sich auch im Alltag zeigen: „Die Höflichkeit schafft freien Raum um den Anderen; bewahrt ihn vor der bedrängenden Nähe, gibt ihm seine eigene Luft. Sie anerkennt im Anderen das Gute und lässt ihn fühlen, dass es geschätzt wird. Schweigt von den eigenen Vorzügen, stellt sie zurück, damit sie ihn nicht entmutigen.“ Die Ehrfurcht ist also auch eine Tugend für den Alltag, die unserem Miteinander gut tut. Sie gewährt jedem den Raum, den er braucht, um sich zu entfalten und um er selbst sein zu dürfen. Sie lässt die Größe eines jeden Menschen gelten. Manche haben die Sucht, alles Großartige an einem anderen klein zu machen und nach versteckten Fehlern zu suchen. Doch diese Sucht führt nach Guardini dazu, dass alles armselig und banal wird. Wer dagegen einen Menschen mit Ehrfurcht betrachtet, der wird neben dem Großen nicht klein, sondern im Gegenteil: Er wird selber groß. Die Bibel verlangt die Ehrfurcht vor den Eltern und vor dem Alter. (Sir 3,1–16) Ehrfurcht bedeutet nicht, dass ich die Eltern und die Alten nicht kritisieren darf. Aber ich erweise ihnen Ehre. Sie haben ihr Leben gemeistert. Und davor beuge ich mein Haupt. Ich respektiere mit meinen Eltern auch meine eigene Herkunft. Wer seinen Eltern gegenüber keine Ehrfurcht hat, der verachtet letztlich auch sich selbst.

Staunen vor dem Heiligen

Doch der eigentliche Bereich der Ehrfurcht bleibt das Große und Erhabene, wie es uns in Gott und in seiner Schöpfung begegnet. Die Ehrfurcht beginnt mit dem Staunen vor der Größe und Schönheit der Schöpfung. Im Alten Testament ist Gott selbst ehrfurchtgebietend (Sir 43,29) und auch der Ort, an dem er erfahren wird, verlangt nach unserer Ehrfurcht. Als Jakob von seinem Traum mit der Himmelsleiter aufwacht, reagiert er mit den Worten: „Wie ehrfurchtgebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels.“ (Gen 28,17) Ehrfurcht vor dem Heiligen mündet in der Anbetung. Ich lasse Gott Gott sein. Ich benutze ihn nicht für mich. Jesus mahnt uns zu dieser Ehrfurcht vor dem Heiligen in dem provozierenden Wort: „Gebt das Heilige nicht den Hunden, und werft eure Perlen nicht den Schweinen vor, denn sie könnten sie mit ihren Füßen zertreten und sich umwenden und euch zerreißen.“ (Mt 7,6) Es ist ein höchst aktuelles Wort. Ich habe das einmal erlebt bei einer Predigt, bei der ich das Gefühl hatte: Die Zuhörer wollen sich nicht von meinen Worten berühren lassen, sie hören nicht zu, sondern benutzen die Predigt nur, um mich zu photographieren. In solchen Situationen bleibt mir das Wort im Hals stecken. Ich spüre: Dort, wo keine Ehrfurcht ist, kann ich auch keine Worte aussprechen, die das Heilige berühren, die die Würde des Menschen schützen möchten. 

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