Missbrauch: Paradoxe UrsachenforschungWas im Protestantismus als Problem gilt, wird im Katholizismus als Lösung empfohlen

Bei der Analyse des Problems der sexualisierten Gewalt in den Kirchen ergeben sich Übereinstimmungen, aber auch deutliche Widersprüche. Ideologische Schablonen helfen nicht weiter. Es braucht einen systematischen Vergleich verschiedener Großinstitutionen.

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Am Donnerstag wurde in Hannover die Studie "zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland" vorgestellt. Es verging nur kurze Zeit, da war von Kommentatoren schon die Mahnung zu hören, man dürfe nun aber keinesfalls die "systemischen Ursachen" für sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche relativieren.

Andere hielten dagegen. Die Annahme, dass es für die Fälle sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche Gründe "spezifisch katholischer Prägung" gebe, sei durch die Studie widerlegt, hieß es von der Initiative "Neuer Anfang", in der sich Kritiker des "Synodalen Weges" zusammengeschlossen haben.

Das Gesprächsformat von Deutscher Bischofskonferenz (DBK) und Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) war angetreten, um Konsequenzen aus dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche zu ziehen. Der Synodale Weg tagte von 2019 bis 2023 und formulierte weitreichende Reformforderungen, nicht zuletzt struktureller und kirchenorganisatorischer Art.

Jetzt zeigt sich: Das Problem ist in der evangelischen Kirche mindestens genauso präsent. Lassen sich also katholische Spezifika doch nicht als "Risikofaktoren" heranziehen? Doch, meinen Vertreter des liberalen Kirchenflügels: Jede Kirche habe eben ihre ganz eigenen missbrauchsbegünstigenden Umstände. Außerdem sei es "Whataboutism", also ein Ablenkungsmanöver, wenn Katholiken nun mit dem Finger auf die evangelische Kirche zeigen würden.

Doch wer Wirkungszusammenhänge identifizieren will, muss vergleichen. Das ist kein "Whataboutism", sondern eine wesentliche Grundlage empirischer Forschung. Gewiss können in den beiden Kirchen jeweils unterschiedliche Faktoren dazu beigetragen haben, dass es in ihrem Bereich zu Fällen sexualisierter Gewalt gekommen ist und das Problem über so lange Zeit nicht thematisiert und angegangen wurde. Aber wie plausibel ist es, wenn die Ursachenforschung für die beiden Gemeinschaften zu teils entgegengesetzten Schlussfolgerungen gelangt?

Die offenen Fragen werden sich nur klären lassen, wenn das Thema endlich aus der Falle der kirchenideologischen Polarisierung herausgeholt wird.

Die neue Studie hat für die evangelische Kirche unter anderem föderale Strukturen, Verantwortungsdiffusion, die Negierung von Macht und das Selbstverständnis der Kirche als partizipative und hierarchiearme Institution als Probleme ausgemacht. Beim Synodalen Weg hingegen galt der Abbau von Hierarchien, die in der katholischen Kirche expliziter konturiert sind, als Heilmittel. Die "geltende innerkirchliche Machtordnung" habe "kriminelle und übergriffige Handlungen" begünstigt, heißt es etwa im Grundtext "Macht und Gewaltenteilung" des Synodalen Weges.

Hier tun sich Widersprüche auf. An anderen Stellen zeigen sich Konvergenzen. Die offenen Fragen werden sich nur klären lassen, wenn das Thema endlich aus der Falle der kirchenideologischen Polarisierung herausgeholt wird. Ein systematischer Vergleich verschiedener Großinstitutionen auf einer breiten Datenbasis würde für größere Klarheit sorgen.

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