Der Theologe William Cavanaugh stellt dem säkularen Narrativ eine provokante These entgegen: Wir vermissen Gott nicht, weil wir nie in einer säkularen Welt gelebt haben. Unsere Anbetung hat sich nur auf andere Objekte verschoben.

Dove è Dio? Wo ist Gott? Diese Frage stellte sich jüngst einem meiner englischen Freunde als er nach der Rückkehr von Assisi in Rom vor einem Schaufenster stand. Das Fenster offerierte eine goldene Monstranz, imprägniert mit einem weiß grundierten goldenen CD (Christus Dominus), sowie eingerahmt von Parfümerieartikeln der Marke Dior, deren weißer und goldener Schriftzug mit der Imprägnierung der Monstranz ebenso konkurrierte wie das Firmenlogo CD (Christian Dior).

Das fasst sehr schön die aus anglo-amerikanischer Sicht naheliegendste Antwort auf die Frage zusammen, warum wir Gott nicht mehr vermissen. Im deutschen Sprachraum scheint man eine akademischere Antwort vorzuziehen. Exemplarisch hierfür ist Jan Loffelds 2024 bei Herder erschienenes Buch Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt, das in einer Serie von Communio-Online Artikeln gründlich diskutiert wurde. Loffelds empirisch fundierte Antwort lässt sich so zusammenfassen: Wir vermissen Gott nicht, weil wir jetzt in einer radikal säkularen Welt leben.

Vernebelungstaktiken

Exemplarisch für eine anglophone Antwort, die von diesem deutschen Trend abweicht, ist William Cavanaughs ebenfalls 2024 bei Oxford University Presse erschienenes Buch The Uses of Idolatry. Kurz zusammengefasst lautet Cavanaughs Antwort: Wir vermissen Gott nicht, weil wir nie in einer säkularen Welt gelebt haben. Nach Cavanaugh hat diese Antwort einen zivilisationsgeschichtlich leicht zu durchschauenden Grund: "Die Unterscheidung zwischen religiös und säkular ist sinnlos geworden, außer um zu vernebeln, was wirklich vor sich geht." (294) Um zu verstehen, wie Cavanaugh zu dieser Schlussfolgerung gelangt, müssen wir uns der Ausgangsfrage seines Buchs zuwenden:

"Leben wir im modernen Westen in einem säkularen Milieu, in dem die Anbetung zurückgegangen ist, oder leben wir in einem götzendienerischen Milieu, in dem die Anbetung nicht zurückgegangen ist, sondern auf andere Objekte als Gott verschoben wurde?"

Dass eine aufgeklärte Antwort auf diese Frage heute zu Lasten der Säkularisierungsthese ausfallen könnte, wurde ironischerweise – wie Cavanaugh zeigt – bereits von Max Weber, dem Begründer des Säkularisierungsnarrativs, vorausgesagt. Um seine Antithese philosophisch zu untermauern, entwickelt Cavanaugh allerdings einen weit gefassten, funktionalen Religionsbegriff, der Émile Durkheim nähersteht als Weber und Charles Taylor:

"Es kommt nicht darauf an, was Menschen sagen, das sie glauben, sondern darauf, was ihr Verhalten über ihren impliziten Glauben verrät."

Dieser biblisch bestens fundierte, weit gefasste Religionsbegriff ermöglicht Cavanaugh, an neuere Diskussionen über kollektive Formen des Narzissmus in politischen und nationalistischen Bewegungen anzuknüpfen und dem digital geboosteten Narzissmus spätmodernen Konsumverhaltens auf den Grund zu gehen. Darüber hinaus erlaubt er ihm, die einschlägigen sozialwissenschaftlichen und werbepsychologischen Forschungsbefunde mit der philosophisch-theologischen Diskussion über Götzenkult zu verbinden. Hierzu haben neben zeitgenössischen Phänomenologen, wie Jean-Luc Marion, auch patristische Philosophen wie Augustinus grundlegendes beigetragen: "Für Augustinus und Jean-Luc Marion ist der Götzendienst letztlich eine Form von Narzissmus, ein Versuch der Selbstvergrößerung."

"Was wir brauchen, ist eine Praxis der Sakramentalität"

Anders als bei Augustinus und den alttestamentlichen Propheten nimmt Cavanaugh keine polemische Haltung gegenüber götzendienerischen Praktiken ein. Im Anschluss an Marion betrachtet er sie vielmehr als Teil einer Suchbewegung, die unsere Natur als spontan anbetende Geschöpfe greifbar werden lässt. Die biblisch-patristische Tradition war sich dieser positiven Dimension idolatrischer Praktiken durchaus bewusst. Selbst "Augustinus hat Sympathie für uns als materielle Geschöpfe, die sich an materielle Dinge klammern." (10) Außerdem zeigt sich, dass die Kritik narzisstischer Anhänglichkeiten nicht nur den Wildwuchs unreflektierter religiöser Praktiken betrifft, sondern auch als Prinzip spiritueller Geisterscheidung zu betrachten ist, das aufgeklärten Betern den sakramentalen Transzendenzbegriff des brennenden Dornbuschs (Ex 3) erschließt:

"Wir alle beten an, und wir beten schlecht an. Was wir brauchen, ist eine Praxis der Sakramentalität, die alle Dinge im Licht ihres Seins in Gott betrachtet und gebraucht."

Bemerkenswert mit Blick auf die deutschsprachige Debatte ist vor diesem Hintergrund Cavanaughs knappe Zusammenfassung philosophischer Versuche, den Entzauberungsnarrativ Max Webers zu erhärten und den modernen Dualismus von Religiösem und Säkularem auf dieser Basis rational zu begründen. Cavanaugh identifiziert zunächst drei Strategien, Webers von Charles Taylor etwas zu wohlmeinend fortgeschriebenen Narrativ zu legitimieren und stellt schließlich eine vierte Position vor:

(1) Die erste, hermeneutisch etwas einfältige Begründungsstrategie zielt darauf ab, unsere moderne Welt als eine de facto entzauberte Welt zu beschreiben. Jede Spur von Verzauberung muss demzufolge als romantische Nostalgie betrachtet und als Relikt der Vergangenheit von den ‚eigentlichen Fakten‘ abgehoben werden.

Gerade die aufgeklärte Überzeugung, dass wir die Welt unter Kontrolle haben und es keinen Grund mehr gibt, sich um die Geister der Vergangenheit zu sorgen, ruft jene Ängste wach, die das Entzauberungsprojekt der Aufklärung zu überwinden versprach.

(2) Die zweite, hermeneutisch anspruchsvollere Strategie wurde von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrem berühmten Essay Dialektik der Aufklärung (1944) ausgearbeitet, der bekanntlich zu den Gründungsdokumenten der Frankfurter Schule zählt. Ausgehend von der damals unstrittigen Diagnose, dass unsere vermeintlich aufgeklärte Zivilisation in schlimmste Formen mythischer Gewalt zurückgefallen ist, entwickelt dieses Buch eine dialektische Analyse des Projekts Moderne. Die Kultivierung der prometheischen Tugenden begrifflicher Abstraktion und instrumenteller Rationalität wurde demzufolge immer wieder von den Mythen der Vergangenheit heimgesucht. Doch dies geschah nicht unmotiviert. Die sozialphilosophische Analyse zeigt vielmehr, dass hier eine dämonische Dialektik zum Zuge kommt: Gerade die aufgeklärte Überzeugung, dass wir die Welt unter Kontrolle haben und es keinen Grund mehr gibt, sich um die Geister der Vergangenheit zu sorgen, ruft jene Ängste wach, die das Entzauberungsprojekt der Aufklärung zu überwinden versprach.

Diese Diagnose hatte einen desillusionierenden Zug. Doch das hielt klassische Vertreter der Frankfurter Schule nicht davon ab, das Projekt aufgeklärter Idolatriekritik weiter voranzutreiben. Das Spätwerk von Jürgen Habermas ist hierfür auch und gerade dort exemplarisch, wo er eine religionsfreundliche Haltung propagiert. Unsere Lage mag verzweifelt sein, aber wir sollten niemals in unserem Verlangen nachlassen, das mythische Denken der Vergangenheit zu rationalisieren oder uns an der schattenhaften Fortexistenz des Sakralen kritisch abzuarbeiten. Es gilt hier sozusagen das Motto: "Wir haben keine Ahnung, wie wir aus der verzauberten Welt herauskommen sollen, aber wir arbeiten dran und brauchen dafür auch unsere religiös musikalischen Mitbürger."

Magische Praktiken und Mythen sind wie ein Juckreiz. Man wird sie nicht los, doch ihre Fortexistenz ist mit einem aufgeklärt-immanentistischen Weltbild vereinbar.

(3) In postmodernen Situationsanalysen bekam diese Problemdiagnose bereits in den 1980er Jahren einen ironischen Unterton – und das führt mich zur dritten Position. Das Motto postmoderner Denkerinnen und Denker lautete (frei nach Martin Kippenberger) nicht mehr "Jeder Mensch ist ein mündiger Aufklärer", sondern "Jeder mündige Aufklärer ist auch nur ein Mensch." Im Einklang mit diesem Motto wurde uns das "mündige Subjekt" jetzt als unverbesserlicher Götzendiener präsentiert, der gelernt hat, seine idolatrischen Bindungen als hartnäckige Trugbilder zu betrachten. Magische Praktiken und Mythen sind wie ein Juckreiz. Man wird sie nicht los, doch ihre Fortexistenz ist mit einem aufgeklärt-immanentistischen Weltbild vereinbar. Der atheistische Katholik Slavoj Zizek hat diese ironische Haltung in einem Artikel der FAZ treffend zusammengefasst als er schrieb: "Wir feiern Weihnachten oder das Nikolaus-Ritual, weil unsere Kinder daran glauben (sollen) und wir sie nicht enttäuschen wollen; aber sie geben nur vor, das zu glauben, um uns nicht zu enttäuschen (und natürlich, um Geschenke zu bekommen)."

Der postmoderne Ironiker müht sich nicht mehr, die Ausweglosigkeit des modernen Entzauberungsprojekts in eine aporetische Tugend zu verkehren, indem er seine irrationalen Obsessionen reumütig demaskiert oder gar mit Albert Camus, Theodor W. Adorno und Arnold Schönberg das Fehlen eines letzten, versöhnenden Sinngrunds beklagt. Er oder sie hat sich damit abgefunden, in menschlich-allzu-menschlichen Obsessionen und Alltagsneurosen gefangen zu sein, und rät seinen "Peers", die sinnbefreite Perspektivlosigkeit der Lage mit "Happy Pride" als Markenzeichen "kritischen Denkens" zu zelebrieren. Wir müssen ja nicht "wirklich" glauben, was wir tun, wenn wir als polymorph-perverse Performance-Künstler eine Karfreitagsprozession bespielen, an Weihnachtsfeiertagen das "Christkindl" zelebrieren, zum Jahreswechsel unseren amtlichen Geschlechtseintrag revidieren und allnächtlich in eskapistische Netflix-Streams abtauchen. Doch diese Haltung setzt, nach Cavanaugh, einen unzulässig engen, nicht-funktionalen Religionsbegriff voraus:

"Entscheidend ist, was der Konsument tatsächlich mit seinen materiellen Gütern macht, wie viel Zeit und Mühe er für die Suche nach ihnen aufwendet, wie viel geistige Energie er verschwendet, um über sie nachzudenken, welche Opfer er bringt, um sie zu erlangen (…)." (306)

Als autonome Subjekte mögen wir vorgeben, der Versuchung zu widerstehen, wirklich zu glauben, was unsere dekonstruktiv-recycelten, kleinbürgerlichen Gebräuche uns glauben machen. Doch zugleich sind wir besessen davon, sie durch habitualisierte Formen der Selbstironie zu "framen". Das sollte uns zu denken geben. Und das führt uns von der Postmoderne in die Gegenwart.

(4) Die Postmoderne wurde nicht müde, uns daran zu erinnern, dass der Mensch ein irrationales, unaufgeräumtes Geschöpf sei. Aber das galt als vereinbar mit den Errungenschaften "säkularer Vernunft", solange der Mensch seinen Symptomen kritischen Respekt zollt und nicht der Versuchung erliegt, wirklich an Gott zu glauben. Cavanaugh drückt das so aus: "belief in God has been declared verboten by the Enchantment Police" (21). Wenn man weiß, dass jeder englischsprachige Mensch mindestens vier deutsche Wörter auswendig kann – "rucksack", "waldsterben", "stillgestanden" und "verboten" – dann bringt das die Lage in den Ohren nicht-deutscher Leser treffsicher auf den Punkt.

Säkularität: Eine religiöse Praktik eigener Art

Der moderne Glaube, dass wir verbotenes Terrain betreten, wenn wir uns ungebrochen auf irrational-magische oder traditionsgesättigt-sakramentale Praktiken einlassen, ist zweifellos tief in den Alltagsnarrativen westlicher Kulturen verwurzelt. 

Exemplarisch für kultur- und sozialwissenschaftliche Positionen, die im Hintergrund dieser Situationsanalyse stehen, sind Bruno Latours vieldiskutierte These, dass wir nie modern gewesen sind, und die Zurückweisung der Überlegenheitsrhetorik des Westens im Kontext der Post-Kolonialismus-Debatte. Die Unterscheidung zwischen verzauberten und entzauberten Welten ist demzufolge ebenso fragwürdig wie der Dualismus von Religiösem und Säkularem. Der moderne Glaube, dass wir verbotenes Terrain betreten, wenn wir uns ungebrochen auf irrational-magische oder traditionsgesättigt-sakramentale Praktiken einlassen, ist zweifellos tief in den Alltagsnarrativen westlicher Kulturen verwurzelt. Aber wäre es nicht vernünftiger, die prometheische Angst aufzugeben, dass unsere Kultur den Gebräuchen nicht-westlicher oder vormoderner Kulturen ähnlicher sein könnten als wir lange Zeit glaubten? Wäre es nicht realistischer, sich einzugestehen, dass es keinerlei Veranlassung gibt, sich an diesem kritischen Punkt überlegen oder gar grandios zu fühlen?

In Cavanaughs Buch führt diese Diskussion zur Kernthese, die in den folgenden Kapiteln entfaltet wird und den theologischen Neuaufbruch anglophoner Ressourcement-Philosophie religionskritisch zuspitzt: zur These, dass das Begriffspaar verzaubert/entzaubert unsere moderne Welt nicht beschreibt, sondern den Charakter einer normativen Unterscheidung hat, die vorschreibt, wie westliche Gesellschaften sich selbst zu beschreiben haben. Der postmoderne Glaube, dass wir unseren "Symptomen" auf respektable Weise freien Lauf lassen können, ist demzufolge nicht das Ergebnis einer fortschreitenden Verfeinerung säkularen Denkens. Er entspringt vielmehr einer religiösen Praktik eigener Art. Dass wir nie säkular gewesen sind, bedarf demzufolge keiner weiteren Begründung. Das liegt sozusagen in der Natur der "Sache" säkularen Denkens.

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