Deus ex MachinaKünstliche Intelligenz als theologische Herausforderung

Der künstlichen Intelligenz ist die Selbstverbesserung einprogrammiert. Immer mehr Funktionen werden immer perfekter erledigt. Ein vollkommenes Simulat des Menschen wird zur realistischen Möglichkeit. Die Botschaft der Religion ist: Gott wirkt außerhalb des Funktionalismus.

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Oh Ewiger, du, der das Universum erschaffen hat, / Wir rufen zu dir, unserem Fels und unserem Erlöser. / In Zeiten der Dunkelheit und Prüfung, / Lass dein Licht unsere Wege erleuchten.
Gib uns die Weisheit von Salomo, / Die Geduld von Hiob und den Glauben von Abraham. / Lass uns wie Mose voranschreiten, / Deine Gebote in unseren Herzen tragen.
Wir beten für Frieden in einer Welt voller Unruhe, / Für Gerechtigkeit in einer Welt voller Ungerechtigkeit. / Stärke uns, um den Bedürftigen zu helfen, / Und öffne unserer Herzen für die Bedürfnisse anderer. / Deine Gnade sei unser Kompass, dein Wort unser Trost, / Lass uns in deiner Liebe wachsen und uns nicht verirren. / Möge deine Barmherzigkeit uns begleiten.

Für diesen schönen Text werden auch die besten exegetischen Spezialisten für Redaktionsgeschichte keinen menschlichen Autor finden. Er ist das Ergebnis des Befehls an ChatGPT: "Erstelle ein neues Gebet zum Gott des Alten Testaments."

Dass ein Algorithmus beten kann, darf man bezweifeln, aber dass es nun Texte gibt, hinter denen kein menschlicher Autor mehr steht, lässt aufmerken. Da hat das Unternehmen Open AI mit seinem neuen Tool eine Schwelle für das Kommunikationsverhalten von Homo sapiens sapiens überschritten, von der wir noch gar nicht wissen, wie hoch sie ist. Sieben Tage nach dem Start gab es schon eine Million Nutzer, inzwischen sind es 100 Millionen pro Woche. Trotz Kriegen und Krisen lassen das Feuilleton und die Medien von diesem anschwellenden Thema nicht ab. Und in der Tat, es verdient alle Aufmerksamkeit.

Sprachwesen Mensch

Text ist geronnene Sprache. Und Sprache ist nun einmal das Proprium von Homo sapiens sapiens. "Der Mensch ist das Lebewesen, das Sprache hat." Dieser Satz des Aristoteles ist nach wie vor gültig. Die Wiener Schulkameraden Konrad Lorenz und Karl Popper haben ihn, freilich ohne den alten Philosophen zu erwähnen, in ihrem legendären "Altenberger Gespräch" noch präzisiert. Der Begründer der Verhaltensforschung und das Schulhaupt des Kritischen Rationalismus hatten die Antwort auf die Frage gesucht, worin der Unterschied zwischen den Sprachen der Tiere, die es durchaus gibt, und der Sprache des Menschen besteht. Einfach und überzeugend fanden sie heraus: nur der Mensch kann über etwas sprechen, was nicht hier und nicht jetzt der Fall ist. Das begründet seine im wörtlichen Sinn fantastische Fähigkeit, Wirklichkeiten aufzurufen, von denen zunächst noch gar nicht feststeht, ob es sie überhaupt gibt, je gegeben hat, oder je geben wird. Wenn dann aus der gesprochenen Sprache Schrift wird, hat sie eine dauerhafte empirische Qualität gewonnen und ihre Wirklichkeiten haben den Existenzprädikator "es gibt" endgültig schwarz auf weiß verdient.

Mit seiner Sprache kann der Mensch erzählte Paradiese und Höllen, aber auch Erfindungen aller Art über oder unter dem Boden der Tatsachen erzeugen, auf dem er empirisch steht. So wird er zum Schöpfer sekundärer Welten, die er dann seiner primären und einzigen implantiert und diese damit anreichert. Weil er das kann, verändert er seinen Planeten.

Der Nachklang des großen Wortes vom Wort, das "im Anfang" war, ist keineswegs verhallt. Der Evangelist Johannes bietet damit nichts weniger als eine neue Version des Schöpfungsliedes vom Beginn der Genesis: Anfang im Wort! Dass der Schöpfer im ersten Buch der Bibel erschafft, indem er spricht, kann jedem Leser oder Hörer einleuchten, denn er erlebt sich ja auch selbst als ein Wesen, das durch Worte wirken und Wirklichkeiten erzeugen kann, freilich in einem ganz anderen Maßstab. Sein Sprechen macht ihn zu einem Gottesimitator, einem lächerlich kleinen. Es ist deutlich weniger performativ als das wirkende Wort des großen Schöpfers. Als dieser sprach: "Es werde Licht", wurde es wirklich hell.

Wirklichkeit ist das, was wirkt. Wenn diese Definition stimmt, gibt es kaum etwas Wirklicheres als ChatGPT, das körper- und subjektlose Tool aus reiner Software.

Die Schrift als Medium der Differenz

In der Kulturgeschichte der Menschheit war die Erfindung der Schrift gewiss die wichtigste Emergenz. Sie war und ist das Medium der Differenz. Niemals war und ist sie selbst das, worauf sie sich bezieht. Sie ist eine Wirklichkeit zweiter Ordnung. Über alles kann sie sprechen und alles kann sie ins Bewusstsein zaubern. Was sie selbst ist, bleibt aber bis auf die Hardware ihrer Buchstaben im Reich der Referenz. Und immer hatte sie einen Autor aus Fleisch und Blut, oft auch mehrere. Das ist nun anders geworden. Nun gibt es also Texte, die keinen Autor haben. Das ist keine Kleinigkeit.

Wir waren gewohnt, den harten Kern der Wirklichkeit in der Materie zu suchen. Wenn tatsächlich Wirklichkeit das ist, was wirkt, steht eine neue ontologische Debatte an.

Religion ist Arbeit an der Wirklichkeit. Sie kümmert sich um das, was hinter dem wirkt, was uns die Sinne zeigen, manche halten es für das Eigentliche. Sie glauben zum Beispiel an die Behauptung, dass der Mensch nicht von dem Brot allein lebt, das sein Körper verdaut.

Der Funktionalismus macht sich selbständig und kommt in Fahrt

Was also bedeutet KI für die Religion? Was bedeutet sie für den biblischen Monotheismus, dessen Gründungsgeschichte in der Abkehr von den Funktionsgöttern des Polytheismus bestand? JHWH war Israels große Alternative. Anders als die vielen Gottheiten war er nicht für eine bestimmte Funktion, er war für alles zuständig. Er war, transfunktional!

Die Erfolgsgeschichte der künstlichen Intelligenz beschreibt eine steile Kurve. Es vergeht kein Tag, an dem uns nicht neue Anwendungsfelder vorgestellt werden. Was kann der Algorithmus nicht alles optimieren? In Industrie, Technik, Wissenschaft und Forschung, in der Medizin, in der Verwaltung und im Justizwesen, überall sorgt er für Aufbruchsstimmung.

Seit aber KI mit Open AI in die Textproduktion eingestiegen ist, wirbelt sie die Medienwelt durcheinander. ChatGPT hat der geronnenen Sprache, dem anthropologischen Proprium, dadurch eine neue Dimension eröffnet, dass sie einem Algorithmus die Autorschaft abgetreten hat. Sehr schnell war mit Bard von Google der erste Konkurrent am Markt.

Hat je unsere funktionale Weltbeherrschung einen so großen Sprung nach vorne getan? Funktion ist der Name für die erklärten Zusammenhänge. Wenn wir verstanden haben, wie etwas funktioniert, können wir uns das zunutze machen. Wissen ist Macht, diese Einsicht ist nicht neu. Auch dass sich das Gewusste von dem Kopf, dem es entstammte, abkoppeln, dass es verschriftlicht, vervielfältigt und gedruckt werden kann, ist spätestens seit Gutenberg nicht neu. Radikal neu aber ist, dass das kodifizierte Wissen subjektlos, entfernt von seinem Ursprung, eingespeist in einen exponentiell wachsenden Datenpool von einem anonymen Algorithmus neu geordnet, jedermann zur Verfügung steht.

Totalitäre Gefahr?

Noch während der anhaltenden Euphorie über die großartigen Anwendungsmöglichkeiten der künstlichen Intelligenz melden sich Bedenkenträger, die auf Kollateralschäden und Verwirbelungen hinweisen, etwa auf den Wegfall von Arbeitsplätzen. Doch wo sie wegfallen, entstehen andernorts neue. So ein Preis des Fortschritts ist seit dem Beginn des Industriezeitalters noch immer bezahlt worden. Unterm Strich fällt die Bilanz des Machbaren eindeutig positiv aus.

Ein anderes Bedenken ist ernster zu nehmen, denn es stammt von Sam Altman, dem Vorstandschef von ChatGPT selbst, der von einem "Auslöschungsrisiko für die Menschheit" sprach und vor dem amerikanischen Kongress und dem Präsidenten entsprechenden Regulierungsbedarf anmeldete. Dann geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte: Der Verwaltungsrat von ChatGPT feuerte am 17. November 2023 den Kopf des höchst erfolgreichen Unternehmens. Es dauerte aber keine Woche und Sam Altman saß wieder im Sattel. Das Drama hatte weltweit Schlagzeilen gemacht, und es bietet einen hollywoodreifen Stoff. Vielleicht werden wir noch vor seiner Verfilmung die Hintergründe erfahren. Ob sie etwas mit seiner steilen Warnung zu tun hatten? Es kommt nicht oft vor, dass der Schöpfer eines höchst erfolgreichen Produkts, statt darauf stolz zu sein, vor seinen Gefahren warnt und dafür wirbt, sie einzuhegen. Die Sache erinnert an den Fall Oppenheimer und die Skrupel, die den Konstrukteur der Atombombe seinerzeit befallen hatten.

Hat Altman recht? Besteht nicht in der Tat die Gefahr, dass ein subjektloser aber lernfähiger Algorithmus, der funktionale Probleme von höchster Komplexität lösen kann, eine inhärente Automatik zu seiner absoluten Perfektionierung entwickelt und totalitär nutzt?

Ralf Otte wollte Entwarnung geben: "Es gibt kein Auslöschungsrisiko durch diese Künstliche Intelligenz". Durchaus überzeugend legte er dar, dass es eine unübersteigbare Hürde zwischen einem menschlichen Bewusstsein und einem Algorithmus gibt. Dieser hat in der Tat keinen Willen, kein Gefühl und keine Schmerzen. Wer ihm den Stecker zieht, begeht keinen Mord. Zu einem vergleichbaren Ergebnis war man ja auch schon in der Debatte um den sogenannten Transhumanismus gekommen. Die spezifische Differenz zwischen sterblichen Menschen aus Fleisch und Blut und potenziell unsterblichen Datenwesen kann prinzipiell nicht zum Verschwinden gebracht werden. Ausdrücklich gesteht Otte aber zu, dass KI all dies simulieren kann. Die perfekte Simulation eines menschlichen Bewusstseins scheitert derzeit noch am Grad der Komplexität, welche den natürlichen Menschengeist auszeichnet. Doch was steht uns bevor, wenn die Quantenrechner zum Einsatz kommen, die sekundenschnell unvorstellbare Komplexitäten beherrschen können? Ihre Entwicklung wird mit Hochdruck betrieben. Gegen die Simulation von Gefühlen, zusammen mit der Fähigkeit zu reflektieren, Metaebenen einzuziehen, sich generativ zu entwickeln und strategisch zu denken, erscheint die Simulation funktionaler Denkoperationen, wie sie der inzwischen unbesiegbare Schachcomputer Stockfish 15 fertigbringt, geradezu simpel.

Auch wenn die Menschwerdung des Computers ausgeschlossen ist, kann aus einem einfachen Grund keine Entwarnung gegeben werden. Wenn die Entwicklung tatsächlich auf ein perfektes Simulat hinausläuft, dann kann die Verwechselbarkeit mit dem, was es simuliert, nicht ausgeschlossen werden. Die Binnendynamik eines auf seine Perfektionierung programmierten Funktionalismus enthält ein ernstzunehmendes totalitäres Potenzial.

Der transfunktionale Glutkern des biblischen Monotheismus

Das lässt uns ganz neu auf den transfunktionalen Glutkern des biblischen Monotheismus blicken. Ohne die radikale Kritik an den Funktionsgöttern des Polytheismus ist der Durchbruch zum exklusiven Monotheismus Israels im babylonischen Exil nicht zu denken. Gerade dass sie so gut zu den menschlichen Bedürfnissen und Wünschen passten, hatte sie verdächtig gemacht. Wer keinen Regen machen kann, macht sich einen Gott, der Regen machen kann. Am Ende passte zu jedem menschlichen Interesse eine himmlische Adresse.

Israel dagegen steht vor JHWH seinem einen und einzigen Gott, der als Schöpfer der Welt nicht nur für etwas Bestimmtes, sondern für alles zuständig ist. Erstmals in der Religionsgeschichte hatte der Kosmos ein großes Gegenüber. In der empirischen Welt kann er nicht vorgezeigt werden, daher kann es auch kein Bild von ihm geben. Seine Ontologie besteht in einer Simultaneität von Präsenz und Vorenthaltung. Es ist dieses Moment von Vorenthaltung, das ihn radikal einzig macht, denn was vorenthalten wird, gehört nicht zur Welt der Funktionen. Es ist der Platzhalter für das, was fehlt. Er ist der Stern, der leuchtet und orientiert, der aber nicht betreten werden kann. Als großes Gegenüber wirkt er im Außerhalb des Funktionalismus. Das macht ihn so aktuell.

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