In Berlin wird nur noch manchmal die Post ausgeliefert. Insofern muss es nicht verwundern, dass sich das Buch "Indifferenz" von Dominik Terstriep mir immer wieder entzogen hat. Es wollte einfach nicht zu mir gelangen. Auch dem Buchladen meines Vertrauens war es nicht möglich, es zu beschaffen. Es brauchte drei Anläufe und den direkten Kontakt zu einer Mitarbeiterin des Verlages, bis ich das Buch – erschienen im Jahr 2009 – endlich in Händen hielt.
Dieses nervenaufreibende Präludium mag als Kontrapunkt dienen für die Lektüreerfahrung, die darauf folgte. Denn das Buch des Jesuiten Terstriep hat mir Stunden, Tage und Wochen der Besinnung, des Gleichmuts und des Vertrauens geschenkt. Oftmals als morgendliche Übung und Einstieg in den Tag, um den Irrsinn der Welt besser ertragen zu können. Doch warum dazu auf ein bereits vor 16 Jahren erschienenes Buch zurückgreifen? Erstmals darauf gestoßen bin ich auf Terstriep, als ich Christian Rutishausers Buch "Freiheit kommt von innen: In der Lebensschule der Jesuiten" las, der ihn mehrfach zitiert. Da es nie zu spät ist, mit ignatianischer Spiritualität das eigene Leben zu verbessern, ließ ich mich auf das Buch ein – und auf den hier folgenden Versuch, den eigenen geistlich-geistigen Prozess zu skizzieren.
"Eine ausbalancierte Indifferenz, die sich offen hält"
Was man über Dominik Terstriep wissen muss: 1971 im Münsterland geboren, wurde er 1998 für die Diözese Münster zum Priester geweiht und ist 2003 in den Jesuitenorden eingetreten. Er war Hochschulseelsorger in München und in Stockholm. Seit 2012 ist er Pfarrer der St. Eugenia-Gemeinde in Stockholm und Dozent für Dogmatische Theologie am Newmaninstitut in Uppsala.
Dieses umherstreifende Suchen und Versuchen kann sehr entschiedene Christen irritieren.
Das erste Kapitel des Buches ist zentral. Es kreist um einen Denker, den viele Christen wohl nur mit spitzen Fingern anfassen: Denn Michel de Montaigne (1533–1592) ist der Apologet der Uneindeutigkeit. Die Methode des Juristen, Skeptikers und Philosophen, Humanisten und Begründers der Essayistik ist die "des indifferenten Offenhaltens". Terstriep schreibt: "Wahrheitsfindung ist für ihn nicht ausgeschlossen, das wäre voreilig, doch ist sie ein heikles Unterfangen, das der Schwebe - oder wie er sagen würde - des Schaukelns bedarf, einer ausbalancierten Indifferenz, die sich offen hält."
Terstriep kennt natürlich den Wahrheitsbegriff katholischer Dogmatik. Montaigne hingegen will nicht die Wahrheit verkünden, sondern will sie suchen. Dieses umherstreifende Suchen und Versuchen kann sehr entschiedene Christen irritieren. Terstriep gelingt es, Montaigne dem christlich geneigten Leser nahezubringen. Um ihn noch einmal zu zitieren:
"Montaignes Skepsis hat keinen negativ-zersetzenden Charakter. Sie legt sich nicht auf eine Wahrheit fest, weil sie sich offen halten will; sie schließt nichts aus, sondern hält alles für möglich. (…) Seine skeptische Indifferenz bezweifelt nicht, was ist, sondern die Meinung, etwas könne nicht sein. Sprache, Begriffe und Urteile zurren die Beobachtungen auf ein Entweder-Oder fest. Montaigne dagegen lässt die Alternative offen und Geist sich bescheiden."
Getragen von heiterer Skepsis
Terstriep feiert Montaigne allerdings nicht unkritisch, sondern stellt die Frage, ob diese Geisteshaltung auch praktisch anwendbar sei. Er beobachtet, dass Michel de Montaigne "in dieser frei schwebenden Indifferenz, die von heiterer Skepsis getragen wird, auch Fixpunkte braucht. Montaigne bleibt zeitlebens ein Katholisch-Konservativer. Er will nicht das Neue um des Neuen willen. Die Gefahr, dass die Ordnung ins Wanken gerät, erscheint ihm zu groß. Bewahrend gegenüber dem Katholischen und loyal zum französischen Staatswesen – "als bedürfe seine skeptische Schaukelbewegung eines Haltes im Praktischen, damit er selbst nicht zugrunde geht".
Schaukelbewegung, Schwebe, Offenhalten – erinnert das nicht an Papst Franziskus und seine Amtsführung?
Schaukelbewegung, Schwebe, Offenhalten – erinnert das nicht an Papst Franziskus und seine Amtsführung? Meines Wissens hat er sich nicht zu Montaigne geäußert – auch nicht in dem bemerkenswerten "Brief des Heiligen Vaters Franziskus über die Bedeutung der Literatur in der Bildung". Und doch gibt es Verbindungslinien von Montaignes Indifferenz zur Indifferenz bei Ignatius von Loyola über jesuitische Denker bis zum verstorbenen Jesuiten im Papstamt.
Besonders haben sich mir Terstrieps Kapitel über Jesus und Ignatius ins Hirn gebrannt. Demnach ist Indifferenz, wie Ignatius sie gelebt hat, "ein Gleichmut gegenüber allem Erreichten und selbst Gewirkten". Und das, was Terstriep über Ignatius schreibt, könnte dies nicht auch für Franziskus gelten?
"Wenn man den Quellen glauben darf, scheint er diese Indifferenz selbst gehabt zu haben. (…) So wird die Versuchung des Entweder-Oder gewandelt in ein indifferentes Sowohl-als-auch, das beide Seiten unvermischt und ungetrennt in Beziehung setzt: Gott und Mensch bzw. Welt, innen und außen, oben und unten, Gnade und Natur, Kontemplation und Aktion, Mystik und Aszese etc."
Und im Kapitel "Dein Wille geschehe (Jesus von Nazareth)" heißt es – und da wird es wahrlich paradox: dass "in der Dynamik der Exerzitien die Indifferenz das Ziel hat, gerade nicht gleichgültig zu bleiben." Sie ist "lediglich ein Mittel, sich offen zu halten und wie eine Waage in der Mitte zu bleiben, bis der Übende den Willen Gottes erkennt."
Reaktion wird zur Aktion
Terstriep veranschaulicht das Gemeinte auch noch mit einem Torwart-Vergleich: Wie beim Torwart kommt es auf Beweglichkeit an, auch auf gute Sicht. Dafür gilt es die Position im Strafraum zu verändern und nicht stumpf auf der Torlinie zu stehen. Es kommt auch aufs Abwägen dessen an, was da auf den Torwart zukommen wird. Um dann zu reagieren. Wobei das mehr ist als Reaktion. Reaktion wird zur Aktion. Es gilt, sich mit Kraft und Elan und Leidenschaft zu entscheiden für etwas, das größer ist als man selbst.
Jesuitische Indifferenz ist weder Gleichgültigkeit noch Zynismus, sondern eine vorübergehende Haltung – temporär in Phasen der Entscheidung. Der jesuitisch Indifferente (egal ob verstorbener Papst oder dilettierender Suchender) bleibt in der Waage, findet seine Mitte: baut Distanz auf. Abstand. Mit Abstand zu den Extremen. Man mag dem jesuitisch Indifferenten vorwerfen, dass er dies und das nicht durchgesetzt habe. Aber wem es gelingt, solcherlei Indifferenz zu leben, ermöglicht seiner Mannschaft, den Sack zuzumachen. Weil er kein Tor kassiert hat, weil er die Mannschaft zusammengehalten hat und anderen die Chance gibt, den Elfmeter, den Freistoß oder die Flanke reinzumachen.
Dein Wille geschehe Nicht meiner
Dominik Terstriep SJ hat seine Position in einem lesenswerten Interview ausformuliert. Unter der Überschrift: "Ist Ihnen alles egal, Pater Terstriep?" gibt er lebenspraktische Anregungen:
"Nehmen Sie sich regelmäßig Zeit dafür, nach innen zu schauen, am besten am Abend als Rückblick: Was geht in Ihnen vor, was tut Ihnen gut, was nicht, was tröstet Sie, was löst Unruhe aus? Betrachten Sie sich zunächst wertfrei und lernen Sie sich besser kennen. Notieren Sie Ihre Beobachtungen vielleicht in einem Tagebuch. Und beherzigen Sie das Vaterunser, dort steht ganz klar: 'Dein Wille geschehe.' Nicht meiner."