Zeigen durch VerhüllenÜber die Kunst, den Gekreuzigten durch ungewöhnliche Perspektiven sichtbar zu machen

Die Szene der Kreuzigung ist in Kunst und Literatur unzählige Male dargestellt worden. Um das "mysterium crucis" aufleuchten zu lassen, werden oft ungewöhnliche Perspektiven gewählt. Die Strategie, nur Fragmente zu zeigen, um die Aufmerksamkeit zu steigern, oder etwas zu verbergen, um anderes offenzulegen, ist dabei beliebt.

Kreuzigungsszene (Ausschnitt), Linolschnitt von Christoph Peters (1983)
Kreuzigungsszene (Ausschnitt), Linolschnitt von Christoph Peters (1983)© Christoph Peters

I.

In der abendländischen Kunst gibt es unterschiedliche Traditionsstränge, Christus am Kreuz darzustellen. Auf der Linie von Psalm 45, der die Anmut und Wohlgestalt des Königs feiert: "Du bist der schönste von allen Menschen" (Ps 45,3), gibt es Darstellungen, die den makellosen Leib Christi in seiner anatomischen Vollkommenheit darstellen. Guido Reni hat den Gekreuzigten ohne Seitenwunde auf die Leinwand gebracht, als sei gerade die Unverwundbarkeit Christi ein Siegel seiner Göttlichkeit. Auf der Linie des vierten Liedes vom leidenden Gottesknecht gibt es hingegen Kreuzes-Darstellungen, die den "Schmerzensmann" und seine den Körper entstellenden Qualen dramatisch ins Bild bringen. "Er hatte keine schöne und edle Gestalt, so dass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm" (Jes 53,2). So hat etwa Matthias Grünewald in seinem Isenheimer Altar die Szene der Kreuzigung in äußerster Plastizität gemalt.

II.

Neben der Gestaltung des corpus crucifixi, das in Romanik, Gotik, Barock und Moderne unterschiedliche Ausgestaltungen gefunden hat, ist die Perspektive wichtig, mit der die Kreuzigung dargestellt wird. Die meisten Maler wählen eine frontale Perspektive. Das Kreuz steht dem Betrachter gegenüber, es bildet die Mitte des Bildes. Aber auch andere Perspektiven sind denkbar: von oben, von unten oder von der Seite.

Im Kunsthistorischen Museum in Wien hängt die Kreuztragung Christi (1564) von Pieter Breugel dem Älteren, ein Bild, das die Szene in den Kontext einer flämischen Stadt des 16. Jahrhunderts einrückt. Sogar eine Windmühle ist zu sehen. Ein beinahe unübersichtliches Gewimmel von Figuren, darunter reitende Soldaten, wird gezeigt, ein Zug von Menschen begibt sich aus der Stadt hinüber zur Hinrichtungsstätte, man muss schon genauer suchen, um Jesus, wie er unter der Last des Kreuzes zusammenbricht, winzig und unauffällig in der Bildmitte zu finden. Das Zentrum wird auf Distanz gebracht, ohne deshalb marginal zu werden. Simon von Cyrene wird in der unteren linken Bildhälfte abgeführt, um das schwere T-Kreuz tragen zu helfen, während im rechten Vordergrund im Kontrast zum Figurengetümmel eine Gruppe weinender Frauen gezeigt wird, als habe die Kreuzigung bereits stattgefunden, als spiele die Chronologie keine Rolle mehr. Maria, Maria von Magdala und Johannes trauern mit schmerzverzerrten Gesichtern um den Sohn und Meister, während sich über dem Kalvarienberg dunkle Wolken zusammenbrauen.

III.

Beim Nachdenken über ungewöhnliche Kreuzesdarstellungen fällt mir Salvatore Dalís kühnes Bild Christus des Heiligen Johannes vom Kreuz (1951) ein, der den Gekreuzigten aus der Vogelperspektive zeigt – in ästhetischer Perfektion ohne Dornenkrone und ohne Blut. "Es ist ein Christus, der so schön ist wie der Gott, der er ist", hat Dalí notiert – und bemerkenswert ist, dass durch den Blick von oben, der einer Eingebung des Juan de la Cruz folgt, das Gesicht Christi ebenso verborgen bleibt wie die Wundmale und Nägel. Die ungewöhnliche Perspektive soll das Mysterium des Kreuzes erahnen lassen, das durch das Leiden hindurch ins Leben führt.

Neben Dalís Bild kommt mir auch eine fast vergessene Episode aus der Schulzeit wieder in den Sinn. Unser Kunstlehrer auf dem Collegium Augustinianum Gaesdonck, Franz Joseph van der Grinten, gab uns den Auftrag, die Kreuzigungsszene auf einem Linolschnitt festzuhalten. Ich hatte einige Mühe damit, die Skizze, die ich mit Bleistift gezeichnet hatte, entsprechend passgenau in das Linoleum einzuritzen. Ein Mitschüler hatte die Idee, das Kreuz nicht frontal, sondern von unten aus der Froschperspektive zu zeigen. Das hat den Effekt, dass nur ein Fragment des Gekreuzigten in den Fokus der Sichtbarkeit tritt. Das hervorstehende Schienbein bis zum Knie bildet die Vertikale, die ausgebreiteten Arme des Gekreuzigten die Horizontale. Das Gesicht und der Körper Christi bleiben so verdeckt. Der Linolschnitt, den der 16-jährige Mitschüler mit ziemlicher Perfektion realisierte, entfaltet durch das dialektische Spiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit eine außergewöhnliche Wirkung, so dass Franz Joseph van der Grinten kommentierte: Er habe schon viele Kreuzesdarstellungen gesehen, aber eine solche sei ihm noch nie unter die Augen gekommen. Der Mitschüler war Christoph Peters, der später an der Kunsthochschule in Karlsruhe bei Egon Kalinowski studiert hat und heute als Schriftsteller in Berlin lebt und wirkt.

IV.

Bei seinen Wiener Poetik-Vorlesungen im Jahr 2017 sprach auch der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann über Strategien in der modernen Literatur, das Kreuz zur Darstellung zu bringen. Statt den Skandal zu verharmlosen oder die Ungeheuerlichkeit abzumildern, gehe es darum, eine Perspektive zu finden, die die Tiefendimension des Ereignisses aufscheinen lasse. Hürlimann erinnerte an den Roman Der Meister und Margarita von Michael Bulgakov, der das Drama der Hinrichtung aus fünf unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Eine davon ist die Perspektive des ehemaligen Steuereintreibers Levi Matthäus, der auf dem Kalvarienberg aus einigem Abstand beobachtet, wie Jeshua auf der Schädelstätte ans Holz genagelt wird, sein Bewusstsein verliert und qualvoll stirbt. Levi sieht, wie in der Glut der Mittagshitze eine dunkle Wolke von Fliegen und Bremsen das Gesicht des Gekreuzigten umschwirrt. Das leidende Antlitz bleibt den Blicken entzogen, aber "unter der kribbelnden und schwarzen Maske" wird der Abwesende anwesend, das Unanschauliche anschaulich. Offenbarung des Geheimnisses durch Verbergung.

V.

Im neuen Roman von Martin Mosebach Die Richtige (2025) findet sich ebenfalls eine ungewöhnliche Imagination der Kreuzigung. Der Maler Louis Creutz hat sich durch ungewöhnliche Aktdarstellungen einen Namen gemacht. Zu Beginn des Romans denkt er in einem Selbstgespräch über die Idee der Haut vor der Erschaffung des Menschen, ja über ein "Inkarnat ohne dazugehörigen Menschen" (10) nach. Gegen Ende des Romans erhält Creutz – der Name ist kaum zufällig gewählt – von einem reichen Mäzen den Auftrag, eine romanische Kirche in Frankreich auszumalen. Die Apsis sei sieben Meter hoch, der Raum in seiner Schlichtheit ein Traum. In einem für die Romanhandlung entscheidenden Telefonat erwähnt der Maler eher beiläufig, wie er den Auftrag umsetzen will.

"Ich schildere die gesamte Kreuzigungsszenerie von hinten – man sieht ein bißchen von den Armen und Beinen, den geneigten Kopf nur angeschnitten, schon gar nicht ein Gesicht, wobei ich das Kreuz dann doch etwas schräg gestellt habe, so daß noch etwas mehr von den angewinkelten Beinen rausguckt. Die Idee ist, man schaut in diesen Raum wie in einen Tunnel, der durch die Jahrtausende führt, und am Ende steht dann dieser Schemen, von dem man nicht weiß, was das ist." (288)

Die Geschichte ein Tunnel, der auf den Gekreuzigten zuläuft, der von hinten nur schemenhaft gezeigt wird – was für eine Perspektive! Nur die angeschnittenen Körperteile sind sichtbar, das Unsichtbare kann die Vorstellungskraft des Betrachters ergänzen. Der Maler Louis Creutz beherrscht sein Metier, ist aber viel zu abgebrüht, um seiner Idee selbst einen theologischen Sinn zuzuschreiben.

VI.

Auch der Schriftsteller Martin Mosebach lässt sich nicht in die Karten schauen. Er lässt die Kreuzigungsszenerie in der Romanischen Kirche nur aufblitzen, ohne die Spur weiter zu verfolgen. Nicht ausgeschlossen, dass er den Theologen einen dezenten Fingerzeig gibt: Immer mehr Menschen kehren dem Gekreuzigten im realen Leben den Rücken. In der literarischen Fiktion des Romans aber will der Maler Creutz den Besuchern der romanischen Kirche den Gekreuzigten von hinten zeigen. Warum? – könnte man fragen. Aus bloßer Innovationslust? Etwa, weil schon Mose die Herrlichkeit des Herrn nur im Vorübergang erschienen ist, so dass er nur den Rücken, nicht aber das Angesicht Gottes sah (Ex 33,23) – ein Ereignis, dem Augustinus den christologischen Wink entnahm, die Nachfolgegemeinschaft der Kirche habe sich hinter dem Herrn zu versammeln? Oder soll die Kreuzigungsszene am Ende des Tunnels die religiös indifferenten Zeitgenossen wieder neugierig machen auf das mysterium crucis? Das Sichtbare – die schräg angeschnittenen Körperteile – verweist ja auf das Unsichtbare, den Gekreuzigten und Erhöhten.

Vielleicht soll sogar angedeutet werden, dass der leidende Christus den gleichgültig gewordenen Menschen nun seinerseits den Rücken gekehrt hat – nicht, um sie zu strafen oder zu verurteilen, sondern um sie hinter sich zu versammeln und gewissermaßen versus orientem beim Vater für sie einzutreten? Eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Die Perspektive ist neu, wie sie zu deuten ist, offen. Es obliegt dem Leser, sich darauf einen Reim zu machen.

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